Zwischen Festhütte und Konzertsaal
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Das Restaurant Löwen mitten im Dorfzentrum war für viele Melserinnen und Melser fast wie eine zweite Stube. Im ehrwürdigen Löwen-Saal spielte sich während Jahrzehnten das Dorfleben ab. Hier wurde gefeiert und gefestet, diskutiert und politisiert. Es fanden die unterschiedlichsten Veranstaltungen der über 70 Dorfvereine statt: von der Turnshow über die Fasnacht bis hin zur Kinderkleiderbörse. An unzähligen Haupt- und Bürgerversammlungen von Vereinen und Behörden wurde über Projekte, Jahresrechnungen und Budgets entschieden.
Mittlerweile ist der «Löwen» Geschichte, das Restaurant und der Saal waren baufällig und wurden abgebrochen. An deren Stelle steht heute ein modernes, multifunktionales Kultur- und Kongresshaus. Der Platz vor dem Gebäude ist gepflastert, darauf sprudelt ein hübsches Wasserspiel und junge, frisch gepflanzte Bäume spenden ein wenig Schatten. Der Ort erinnert an eine südländische Piazza und eine frühere Zeit, als der Dorfplatz von Mels noch ein bedeutender Marktplatz war. Über den Glastüren des neuen Kultur- und Kongresshauses steht in Grossbuchstaben: Verrucano.
Das Haus ist nach der heimischen rötlich-violetten Gesteinsart benannt. Bis Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Verrucano-Mühlstein, auch Melserstein genannt, aus dem gemeindeeigenen Steinbruch bis nach Übersee verkauft und der Name Mels damit in die Welt hinausgetragen. Eine grosse Ausstrahlungskraft soll auch das neue Kultur- und Kongresshaus haben, zwar nicht gerade weltweit, aber immerhin über die Region hinaus. «In der Umgebung gibt es nichts Vergleichbares, was für uns eine grosse Chance ist», sagt Geschäftsführerin Eva Maron.
Nach dreijähriger Bauzeit findet die Einsegnung noch in diesem Oktober statt. Die offizielle Eröffnung wird coronabedingt auf einen späteren Zeitpunkt verschoben, an dem sich das Verrucano richtig und nicht nur eingeschränkt präsentieren kann.
Die Freude über das neue Kultur- und Kongresshaus ist dadurch aber nicht getrübt. «Wichtig ist nun, dass das Haus mit Leben gefüllt wird», sagt die gebürtige Romanshornerin, die seit gut eineinhalb Jahren im Amt ist und mittlerweile auch in Mels wohnt. Zuvor hat sie den «Hirschen» in Wildhaus geführt und die «Wunderbar» in Arbon aufgebaut.
Gross, aber nicht dominant
Zu füllen gibt es im Verrucano viel, denn das Haus ist gross, was von aussen auf den ersten Blick nicht unbedingt auffällt. Trotz einer Fläche von 3000 Quadratmetern wirkt es nicht wie ein Fremdkörper. Im Gegenteil, das Gebäude fügt sich gut in die schmalen Gassen mit den engen Häuserzeilen ein. Das muss es aber auch, da der Dorfkern von Mels zu den schützenswerten Ortsbildern der Schweiz gehört. In der Beschreibung der Architekten von Raumfindung Architekten aus Rapperswil heisst es: Die Architektur zeige sich bescheiden und changiere zwischen einer hölzernen Festhütte und einem eleganten Konzertsaal.
Die feine Eichenholzfassade in Weinrot passt farblich zum bekannten Melser Gestein. Überhaupt wird der lokale Bezug im Verrucano grossgeschrieben. So sind beispielsweise drei der vier Säle nach heimischen Flurnamen benannt: Ragnatsch, Runggalina und Gafarra.
Da wäre es naheliegend, dass der vierte und grösste Saal des Gebäudes wie einer der beiden Berge vor der Haustüre heisst. «Pizol oder Gonzen? Das wäre zu klischeehaft gewesen», sagt Eva Maron und lacht. Man habe eine «emotionale Brücke» zur Vergangenheit schlagen wollen und den grössten Raum deshalb «Löwensaal» getauft.
So ganz auf die Bergwelt verzichten muss drinnen aber niemand: Im Löwensaal und im Ragnatsch, dem Proberaum der dorfeigenen Musikgesellschaft, ist der Gonzen durchs Dachfenster gut sichtbar.
Beim zweiten Mal wars knapp
Das Kultur- und Kongresshaus Verrucano ist Teil der Strategie Dorfkernentwicklung, welche die Gemeinde vor zehn Jahren lanciert hat. Der Gemeinderat wollte das Leben im maroden, wenig einladend wirkenden Zentrum stärken und unterbreitete den Melser Stimmberechtigten einen Antrag zum Kauf von Grundstücken rund um den «Löwen» und das Rathaus. Kosten: 4,8 Millionen Franken. Auf dieser Fläche sollten nebst dem Kulturhaus ein komplett neugestalteter Rathausplatz, ein Ergänzungsbau zum Rathaus sowie eine Tiefgarage entstehen.
Öffentliche Gwundertage im Verrucano: 21. bis 24. Oktober und 28. bis 31. Oktober.
Weitere Infos: verrucano.ch
Über das Projekt selbst, für das weitere rund 27 Millionen Franken veranschlagt waren und das im negativsten Falle eine Steuererhöhung von bis 10 Prozent zur Folge hätte haben können, sollte zu einem späteren Zeitpunkt abgestimmt werden. Trotzdem: Den Melserinnen und Melsern schien die Entwicklung ihres Dorfes am Herzen zu liegen. Mit grosser Mehrheit sagten sie Ja zum Grundstückkauf. Daraufhin konnte der Gemeinderat mit der Planung zur Aufwertung des Dorfkerns weiterfahren.
Fünf Jahre später legte er den Stimmberechtigten ein konkretes Projekt für den Neubau des Kulturhauses mit Erweiterung des Rathauses sowie neuer Platzgestaltung vor. Rund 31,5 Millionen Franken kostete das Gesamtpaket schliesslich. Das Abstimmungsergebnis war dieses Mal jedoch alles andere als deutlich. Es gab ein hauchdünnes Ja, gerademal 74 Stimmen machten den Unterschied (Ja: 1645, Nein: 1571). Die Stimmbeteiligung betrug 56,2 Prozent.
Gemeindepräsident Guido Fischer hat das knappe Resultat damals überrascht. Er erinnert sich: «Die kritischen Stimmen gabs hauptsächlich im Hintergrund und kaum in der Öffentlichkeit. Das machte es schwer, die Situation vor der Abstimmung abzuschätzen.»
Die Kritik habe sich aber weniger gegen das Verrucano gerichtet, sondern viel mehr gegen die damit kombinierte Rathaus-Erweiterung. «Einige hätten lieber getrennt über die Erweiterung und das Verrucano abgestimmt», sagt Fischer. «Dem Gemeinderat war jedoch eine Gesamtlösung wichtig; sowohl aus Kostengründen als auch wegen den Chancen, die sich zusätzlich boten.» So sei es beispielsweise möglich gewesen, einen attraktiven Vorplatz zu schaffen oder die Weinproduktion im Rathauskeller für die Zukunft zu sichern.
Die Rückmeldungen der Melserinnen und Melser, die das neue Kulturhaus bereits besichtigen konnten, seien sehr gut, und der neue Rathausplatz werde rege genutzt, sagt der Gemeindepräsident und fügt nicht ohne Stolz hinzu: «Die Steuern mussten wir nicht erhöhen – und nach aktuellem Stand ist eine Erhöhung auch nicht absehbar.»
Ergänzung, nicht Konkurrenz
Der Löwensaal ist für Eva Maron das «Prachtstück» des neuen Kultur- und Kongresshauses. Er bietet bei Konzertbestuhlung Platz für bis zu 744 Personen, wobei etwa 145 Personen von der Galerie aus das Geschehen auf der Bühne mitverfolgen können.
Der Saal und die Bühne sind multifunktonal konzipiert worden, so dass sie sich sowohl für den Unterhaltungsabend der Trachtengruppe und des Turnvereins als auch für Bankette, Theatervorführungen, Musicalproduktionen und Konzerte eignen. Auch für klassische Konzerte. So wird das Sinfonieorchester St.Gallen am zweiten Tag des neuen Jahres in Mels zu Gast sein. «Die Akustik ist hervorragend», sagt die Geschäftsführerin und zeigt zuerst auf die Decke über der Bühne, dann auf die Fenster an der Wand. «An beiden Orten sind die Akustikelemente individuell verstellbar.»
Das Verrucano ist in erster Linie für das Dorf, seine Vereine und die Bevölkerung gebaut worden. Die Betriebskosten lassen sich jedoch nicht allein durch eigene Veranstaltungen decken. Deshalb soll es auch externe Kulturschaffende, Produktionen und Unternehmen anlocken.
Die ersten Auftritte konnten bereits gebucht werden. So kommen beispielsweise im Dezember die vier Klaviervirtuosen des Gershwin Piano Quartetts sowie der deutsche Comedian Kaya Yanar ins Sarganserland. Als Konkurrenz gegenüber alteingesessenen Kulturveranstaltern wie dem Alten Kino Mels sieht Eva Maron, die auch im Vorstand der Melser Kulturvereinigung sitzt, das Verrucano nicht.
Hans Bärtsch, Interimspräsident des Alten Kino, bezeichnet es als eine Ergänzung. «Die Platzzahl im Alten Kino ist beschränkt, was es uns mit der Verpflichtung von bekannten Künstlerinnen und Künstlern nicht immer einfach macht», sagt er. «Dank des neuen Kulturhauses gibt es insgesamt mehr Möglichkeiten, grössere Acts nach Mels zu holen und die Kultur, egal welcher Sparte, im Sarganserland noch mehr zu etablieren.»
Dieser Beitrag erschien im Oktoberheft von Saiten.