Zwischen Ekel und Erotik

Performance, Multimedia, Bildende Kunst und gesellschaftliches Engagement: Im Werk von Martina Morger sind die Grenzen fliessend. Im Kunstmuseum St.Gallen zeigt die Manor-Preisträgerin mit Wurzeln in Liechtenstein und im Appenzellerland jetzt die Ausstellung «Lèche Vitrines». von Sandra Cubranovic
Von  Gastbeitrag
Martina Morger: Lèche Vitrines, 2020, Videostill. (Bilder: pd)

Das Herzstück der Ausstellung gibt ihr auch den Namen: die Videoarbeit Lèche Vitrines. Martina Morger, 1989 in Vaduz geboren, absolvierte nach ihren Studien in Medienwissenschaften und Bildender Kunst 2020 einen Atelieraufenthalt in Paris. Auch dort liess die Pandemie, die durch alle gesellschaftlichen Ritzen strömte, viele Lebenswirklichkeiten einstürzen.

«Faire du lèche vitrines» bedeutet übersetzt Schaufensterbummel. Die Videoarbeit zeigt Martina Morger in Paris, vor verschiedenen Schaufenstern stehend und gehend, wie sie mit der Zunge die Scheiben der Geschäfte ableckt.

Fremde Wunden lecken

Die Wirkung der bewegten Bilder oszilliert zwischen Irritation und Anziehung. Dieses Einfangen von Diskrepanzen ist ein Ziel der Künstlerin. «Nach der zweiten Scheibe trank ich einen Schnaps, es war teilweise schon grenzwertig», lacht Morger. Ernst fügt sie an: «Ich hatte überhaupt die Möglichkeit, mir Gedanken über die Situation zu machen und mich mit den damit verbundenen Gefühlen auseinanderzusetzen. Andere Menschen mussten ihre Geschäfte schliessen, Existenzen aufgeben, das Einkommen fiel weg oder nahe Verwandte lagen im Sterben – richtige Tragödien.»

Martina Morger, Lèche Vitrines, Installationsansicht, Kunstmuseum St.Gallen (Bild: Fabienne Watzke)

In Paris durften die Bewohner:innen sich während des Lockdowns 2020 nur im Umkreis von fünfhundert Metern bewegen. «Scheiben-Lecken soll eine heilende Geste evozieren, wie ein Muttertier, das sein Junges leckt.» Beim Betrachten des Videos stellt sich neben Ekel auch ein sinnlich-erotisches Erleben ein. Morger ist sich dessen bewusst. Die performative Handlung impliziert einerseits den Akt der «Wundheilung», andererseits Begehren und Sehnsucht.

Soft Opening (2021), eine weitere Installationsarbeit der Künstlerin, präsentiert sich in einem dunklen, begehbaren Einzelraum in der Ausstellung. In die Dunkelheit getreten, eröffnet sich dem Sichtfeld ein schwarzer Organzavorhang, der wie ein Raumteiler fungiert. Eine sanfte weibliche Stimme spricht aus dem Off. Die rezitierte Wortcollage besteht aus Zitaten, Kommentaren und persönlichen Gedanken der Künstlerin.

Auf Anhieb wirkt der Text als Aufruf zur Entspannung. Nach längerem Zuhören jedoch – Wort für Wort – weicht die Assoziation von Geborgenheit derjenigen eines diktatorischen Mantras: Entspannung zwecks Leistungssteigerung und Produktivität. «Semantische Ummünzungen, wie sie in Soft Opening stattfinden, finde ich spannend», sagt Morger. «Die Bedeutung der Worte kippt auf einmal – die Entwicklung mündet in eine nahezu schizophrene Anleitung.»

Künstlerinnen, herausgeputzt

Mit Cleaning Her (2021) thematisiert Martina Morger die Arbeit von weiblichen Kunstschaffenden in St.Gallen. Auf sieben Bildschirmen, die skulptural auf Podesten angeordnet sind, werden zeitversetzt Videos abgespielt, die die Reinigung und Instandhaltung von Kunstwerken im öffentlichen Raum der Stadt zeigen.

Es sind Arbeiten wie Der etwas andere städtische Schulweg von Eva Lips, die Grottenviecher und Fabelwesen im ehemaligen Stickereiquartier an der Unterstrasse zeigen, Maria Eichhorns Zeitkapsel im Wasserfall der Steinach oder aber Pipilotti Rists Stadtlounge.

In den Videos ist Martina Morger zu sehen, wie sie sich – gekleidet im klassischen Blaumann – der Reinigung der Installationen widmet. Durch die eigene Verrichtung von Arbeit soll die geleistete Arbeit der Künstlerinnen in den Vordergrund gerückt werden. Morger bemerkt: «Wie oft sehen wir die Kunstwerke im öffentlichen Raum, wir haben sie bereits so verinnerlicht, dass wir glauben, sie zu kennen.»

Martina Morger: Cleaning Her, 2021, Installation

Die Stellung der Frau in der Kunst, wie sie Morger in Cleaning Her thematisiert, oder auch ihre Kritik an ökonomischen Strukturen und der heutigen Leistungsgesellschaft fordern Veränderungen mit einer starken Dringlichkeit. Diese Punkte werden immer wieder von Kunstschaffenden thematisiert und erfordern darum innovative Umsetzungen.

«Martina Morger: Lèche Vitrines»:
bis 6. März, Kunstmuseum St.Gallen

Kunstgespräch:
13.Oktober, 18.30 Uhr

Performance-Nacht:
5. November, 18 bis 24 Uhr

Performance «Kosmetik»:
17.November, 18.30 Uhr

kunstmuseumsg.ch

Martina Morger findet die ungezeigten Lücken: Sie benennt präzise das Unausgesprochene, veranschaulicht Relationen und Diskrepanzen subtil und schafft Arbeiten, die so reflektiert wie ästhetisch zum Weiterdenken zwingen.

Mit dem Manor Kunstpreis folgt Morger auf Namen wie Alex Hanimann, Pipilotti Rist, Peter Kamm, Marcus Geiger, Beni Bischof oder Georg Gatsas – die Liste liest sich wie ein Who is Who der hiesigen Kunstszene. Seit 39 Jahren bietet der Kunstpreis jungen Künstler:innen eine Plattform für die Weiterentwicklung ihrer Arbeit. Den Preisträger:innen wird eine Einzelausstellung im jeweiligen Kunstmuseum finanziert sowie die Publikation eines Ausstellungskatalogs. Sie erhalten zudem einen Werkbeitrag in Höhe von 15’000 Franken.

Martina Morger: So Long, 2021, Performance (Bild: Daniel Ammann)