Zwei wie Pech und Schwefel

Eine Lobrede auf Charles Pfahlbauer Jr. und seine unübertreffliche Mythologie der Gallenstadt. Inklusive zweier künstlerischer Hommagen von Manuel Stahlberger und Can Isik.
Von  Peter Surber

Wo anfangen? Beim Wetter, wo sonst. Zu feuchtheiss, zu fieberschwül, zu grellsonnig, zu nebelschwadengrau, das Wetter konnte es Charles Pfahlbauer jr., darin ganz Bauer, nie recht machen. Und keinem glückten so wortgewaltige Heraufbeschwörungen wie ihm. Gespenstische Stimmung, unheilvolle Schwingungen, böse Böen in drückend schwüler Luft, die Gallenstadt schien ausgestorben, am Himmel über der Falte dräute ein Gewitter wie ein Eitergeschwür, das nicht richtig platzen wollte.

Ein Wunder, dass es einer da so lange aushält, 20 und mehr Jahre, an einem Ort, pfahlbauerisch gesagt einem Habitat wie diesem: der von grundlos hysterischer Hitze gequälten oder von garstiger Nasskälte eingesargten Stadt im grünen Sumpf an der Ostrandzone. Hierher hat es den Pfahlbauer, weiss der Uglumpf warum, verschlagen. Ortskundige merken schnell: an den schattigen Nordhang der Arschfalte, umzingelt von Parkplatzneidern, Dumpfbacken, Indiefolkern, von Jungfreisinnigen, Zeuginnen Jehovas und Fernsehlackaffen, verfolgt von Langzeit-Stadtammann-Chinese Scheit-lin, Goldketteli-Jaegerfranz, Autosicherheitswächter Roschee, Grögaz bzw. Schlebaz aka Grösster Gastronom bzw. Schlechtester Bundesrat aller Zeiten, dem Tonischnüggeli, den Kuschelkunstzwillingen, dauergeärgert von Nagelstudios, Schneemaden und Thuja-Terror, dem erigierten Handtuch auf dem Bahnhofplatz und all den anderen Lieblingsfeind:innen, mit denen man diese Lobrede auch hätte anfangen, aber nie beenden können.

Das Gegenprogramm zur Arschfalte ist Charlies Stammland, der grosse Pfahlbauersee mit der Mutter aller Pfahlbauten, der Badhütte. Hierhin führen alle Wege wie die Songlines in Bruce Chatwins Australien, hier ist das Sehnsuchtsziel und Traumland, wenn auch bedroht von Quaggamuscheln und Kormoranen. Hochgeschätzt auch der Lange Südsee, Charlies Sommerrevier, Fluchtregion, Grappareservat, wenn nicht gerade auch hier die Tiere verrückt spielen, Babyratten und unheildräuend tote Vögel wie im apokalyptischen Coronasommer 2020.

Überhaupt die Tiere, davon später mehr, zuerst noch ein Abstecher in Charlies Hassgegenden, das Chancental von Jasmin «Bagger» Hutter, schlimmer als der Thurgau und nur übertroffen vom SUV-Appenzellerland, das er sich mit legendär gewordenen Verachtungsformeln vom Hals hielt, Kuhfladenland, Alpkuhfladensteinland mit den tausend Hügelhindernissen und den bösen Seelen. Blieb in der näheren Umgebung ein einziger Hoffnungsschimmer: bloody Vorarlberg. Und weiter weg der Jura, wo die Uhren stillstehen und alles in bester Unordnung ist, nicht so garstig und so todlangweilig und so prüde verbockt wie die Ostrandzone. Aber einer wie Charlie geht nicht weg, der bleibt. Auch davon später.

(Zeichnung: Manuel Stahlberger)

Die Tiere also endlich, der Hecht im Hügelweier, Insekten-Apokalypsen, Kakerlaken, Schwanzlurch-Glückseligkeit mit Feuersalamander, Pfeilschwanzkrebse, Blaukrabben, der hochverehrte Dachs, Landschildkröte Stefan, Quartierkatze Zorro, Ungeziefer in der wandernden Lyonerwurst, Eisbären, Tigermücken, Hasshunde, Schwäne, die blöden Weissfederviecher, garament auch Penisfische, Waschbären, Siebenschläfer, das nimmt kein Ende. Mit den Tieren habe ich es ja sehr, ständig gibts irgendeinen unergründlichen Kontakt, und kaum eine Nacht, in der ich nicht von real existierenden oder dann nicht ganz irdischen unheimlichen Kreaturen träume, erst vorgestern von unappetitlich grossen, knallweissen Heuschrecken.

Es wäre interessant, dem «Unergründlichen» der Viecher auf die Spur zu kommen. Mutmasslich brachten die Tiere, diese Meister der Unmittelbarkeit, in Pfahlbauers misanthropischer Seele Areale zum Klingen wie sonst nur seine handverlesenen Freunde, von denen hier unbedingt auch am Anfang hätte die Rede sein müssen. Braunauge, Sumpfbiber, Rotbacke, Schmalhans, Harry Grimm und wie sie alle heissen; nach all den Jahren glaubte man sie im Innersten zu kennen, obwohl der Autor glaubhaft versichert, keiner von ihnen, Braunauge ausgenommen, entspreche einer realexistierenden Person allein. Man müsste mal Sumpfbiber fragen, wie er das sieht, aber dafür ist es jetzt zu spät, all die hochsympathischen Weggenossen, die das Pfahlbauer-Universum bevölkert haben, verschwinden aus dem Stadtbild, es ist ein Elend.

Verlusttrauer auch über die künftig ausbleibenden Polizeimeldungen, die fehlenden nächtlichen Beizenrundgänge samt möglichst gemiedenen Kulturblasenbeizen, Pipilotti-Schmäh, argentinische Grilladen, Fondues, Miesmuscheln-Spaghetti, wir werden sie schwer missen, auch die Kugelwürfe im Pärkli, das Neuste vom Opel Astra und vom FC Raucher, Mafiafilm-Nächte, Punkreferenzen, Schlimm-vs-schlimmer-Spiele und Giftpfeile gegen sozialdemokratische Partizipationsgefässkrankheiten und und und.

Ein schwacher Trost, dass mit Pfahlbauers Abgang wenigstens die übelsten Zivilisationskrankheiten ausgerottet werden. Die Raucherlunge sowieso, aber auch saisonale Anfechtungen wie der üble Schleimsack, der sich mit den Regenstürmen und Nebelmeeren immer schön pünktlich in unseren Körpern einnistet, wiederholte Ohrenpfropfen, eine bösartig eitrige Gehörgangentzündung, Darmspiegelung in allen Details. Stets war es ein masochistisches Vergnügen, mit Charlie und seinen Krankenschleimspuren mitzuleiden, ausser als es mit der Nase ganz übel kam. Jetzt bleiben uns bloss unsere wortkargen und nebenwirkungslos erbärmlichen eigenen Gebresten, mit denen kein Staat und kein Text zu machen ist.

Der Höhepunkt aber waren Pfahlbauers Alpträume, meist tierisch bevölkert, wie jener circa im Sommer 21, längeres Zitat unverzichtbar: Kein Mensch, nirgends, nur vereinzelte Vögel, vor allem nervöse Krähen, und dann, wie aus dem Nichts, da und dort Gruppen von aufgeregten Pinguinen, die bedrohlich unfreundlich wirkten. Und aus dem Otmarquartier, wie ich vermutete, ein grauslig monströses Grollen, das sich wie ein grimmiger Elefant anhörte. Oder eher, je näher es kam, wie eine tobende Mammuthorde. Ich rannte durch die tote Leonhardsstrasse ostwärts, beim Broderbrunnen jaulte ein Hund, dem drei Beine fehlten, vor dem verlassenen Bankgebäude lag ein zerfressener Kadaver, vielleicht ein Pferd, ich mochte nicht hinsehen. Das Klosterviertel kein Ausweg, weil unter Wasser, offenbar hatte sich die Steinach aus der Mülenenschlucht befreit, aber seltsamerweise waren die Gassen noch trocken. Es kam dann im Text noch schlimmer, zum Glück nur ein Traum.

Beziehungsweise: leider nur ein Traum. In den Träumen nämlich lief der Pfahlbauer zuverlässig zu Höchstform auf. Die Träume waren fast immer apokalyptisch, oft verheerend, manchmal peinvoll, immer kathartisch. In den Träumen wuchs die Gallenstadt über sich hinaus, wurde zur rauchenden, explodierenden, animalischen Metropole, alles Provinzielle wie weggeblasen, weggespült, wegexorziert. Nichts mehr mit müder Zukunft und arschfaltigen Nichtigkeiten: In den Träumen ereignete sich der grosse Weltuntergang, und sein Name war St.Gallen.

Kein Wunder – und ein Glück für uns –, dass Charles Pfahlbauer jr. dieser Stadt so lange treu geblieben ist. Für einen begnadeten Melancholiker, ausgestattet mit grösseren Rohstoffvorkommen von miesepetrigen Wutabsonderungen und schwarzgalligen Stressbrocken, gab es keinen idealeren Ort. Und für diesen Ort keinen besseren Einwohner, Galle zu Galle. Sumpfbiber mag nicht ganz unrecht gehabt haben, mit seinem Ach Charlie, all die Jahre vergeblichen Tuns, die Gallenstadt hat dich nie verdient. Aber genauso richtig wäre: Die zwei passten zusammen wie Pech und Schwefel. Der Pfahlbauer ist im und dank dem gallenstädtischen Sumpf, wie höchstens noch Manuel Stahlbergers Herr Mäder, zum Erzähler, zum Chronisten und Mythologen dieser Stadt geworden. Er hat ihr einen Klang gegeben oder abgelauscht, der Aufruhr hiess statt Standortmarketing. Charlies Gallenstadt steht damit in einer ehrenvollen Reihe mit dem Amrain von Gerhard Meier, mit Hermann Burgers Schilten, dem Prag von Jaroslav Rudiš und anderen literarischen Mikrokosmen.

Um Braunauges Wort vom Handlungsspielraum aufzunehmen: Den hast du grossartig genutzt, all die Jahre, Charlie!

(Poster: Can Isik)