Zurück zur Wurzel der Bünzli!

Öffnet die Fenster, strömt auf die Strasse, spitzt die Ohren, reisst die Augen auf! Und reckt in Gottes Namen die Fackel oder die Heugabel gen Himmel. Denn heute ist Revolution. Revolution 9000 gar, und die richtet sich gegen die St.Galler Bünzlis.
Gegen Loretta und Andreas also? Oder etwas weniger eng gesehen auch noch gegen René? Das sind die einzigen drei Bünzlis, die in St.Gallen wohnen. Vielleicht gibt es weitere, aber das wären untergetauchte Bünzlis, Schläferbünzlis, solch zwielichtige Gestalten, dass kein Telefonbuch sie erfasst.
Gegen René Bünzli bräuchte es eigentlich eine Revolution 9016. Denn er wohnt in Neudorf. Auch bei Loretta könnte die Revolution grosszügigerweise eine Auge zudrücken, ist sie doch bloss eine angeheiratete Bünzli, dem Mädchennamen nach italienischer Herkunft, wo es kein Bünzlitum gibt, sondern Italianità.
Den Andreas wird hingegen nichts retten. Der geborene 9000er-Bünzli dürfte heute Mittwoch im Stadtpark guillotiniert, an die Wand gestellt, aufgeknüpft oder vielleicht auch gevierteilt worden sein, auf dass seine Überreste – dem Schweizervolk zur Warnung und gleichsam als lodernde Funken der Revolution – in alle Himmelsrichtungen durchs Land getragen werden könnten.
Der Ursprung
Der Begriff «Bünzli» geht auf einen Familiennamen zurück, der ursprünglich im Zürcher Oberland verbreitet war. Der Wandel zum abschätzigen Appellativ, der fortan allen geborenen Bünzlis – siehe Loretta, Andreas und René – das Leben ein bisschen schwerer machen sollte, soll gemäss Forschung erst im 20. Jahrhundert stattgefunden haben und aller Wahrscheinlichkeit nach auf Gottfried Kellers Novelle Die drei gerechten Kammacher (1856) im Novellenzyklus Die Leute von Seldwyla zurückgehen.
Flächendeckende Bekanntheit erlangte der Begriff aber durch den Schauspieler und Drehbuchautor Fredy Scheim mit den Filmen Bünzlis Grossstadterlebnisse (1930) und Ohä lätz! De Bünzli wird energisch! (1935)
In den Filmen wie auch schon in Seldwyla wird das Bünzlitum tendenziell ländlich konnotiert. Allerspätestens mit der Figur des Max Bodmer im bis heute erfolgreichsten Schweizer Film Die Schweizermacher (1978) sind dann auch Städter nicht mehr gefeit.
Züs hat einen Plan
Aber zurück zu Kellers Kammachern. Da gibt es die Züs Bünzlin, eine Jungfrau von 28 Jahren mit einem Erbvermögen von 700 Gulden und nicht ohne äusserlichen Reiz, die vom dritten und jüngsten Kammacher, dem Schwaben Dietrich, ihres Vermögens wegen als passende Ehefrau ins Auge gefasst wird.
Die drei Kammacher haben allesamt ein und denselben Plan. Sie wollen in Seldwyla ein Vermögen anhäufen, das ihnen bei Gelegenheit den Erwerb des Geschäfts und die Nachfolge ihres Meisters ermöglichen soll. Da die zwei Älteren länger gespart haben, will Dietrich seinen Rückstand mit Hilfe von Züs’ Erbschaft wettmachen.
Jetzt sind die drei Kammacher ihrem Wesen nach aber so ähnlich, dass die zwei Nebenbuhler ums Geschäft bald auch zu Nebenbuhlern um Züs Bünzlin werden, die somit, von drei jungen Herren umworben, die sogenannte Qual der Wahl zu tragen hat.
Für Züs – eine Bünzli vor dem Herrn, die sich selbst natürlich keineswegs als Bünzli im post-kellerschen Sinne sieht – ist das indes keine Qual. Denn die eher leidenschaftslose junge Dame, sehr eingenommen von ihren geistigen Qualitäten, die ihr durch die Verinnerlichung diverser Zuckersäckliweisheiten eindrücklich belegt zu sein scheinen, hat einzig eine Bedingung: Der junge, weniger vermögende Dietrich soll es nicht werden.
Drei Pläne gehen schief
Bald spitzt sich die Lage der Kammacher in Seldwyla zu. Der Meister will nur einen von ihnen behalten; ein Rennen soll entscheiden, wer bleiben darf. Züs sieht des Meisters Plan als Wink des Schicksals und bescheidet den jungen Herren, dass demjenigen, der das Rennen gewinnt, auch ihre Hand gehört.
Damit das aber nicht Dietrich wird, begleitet sie die Kammacher aus der Stadt, von wo aus die drei zum Geschäft des Meisters zurückeilen sollen, und versucht den Jüngsten mit besonderen Zärtlichkeiten vom Wettlauf abzuhalten.
Doch dann geschieht, was Züs Bünzlin nicht erwartet hätte: Das Feuer der Leidenschaft ergreift sie im Wäldchen, wohin sie den Dietrich lockt, während die Nebenbuhler losrennen und schliesslich in einer wüsten Prügelei das Ziel aus den Augen verlieren. Züs heiratet Dietrich, der das Geschäft des Meisters übernimmt. Und die beiden sind – bis an ihr Ende – unglücklich. So eben, wie es Bünzlis gut zu Gesicht steht.
Und doch gibt es eine Art Happy End in dieser Geschichte. Die Leute von Seldwyla sind in ihrer Gesamtheit bekanntlich ein recht spiessbürgerliches Volk, ein Dorf von Bünzlis. Ein Volk aber auch, das sich nicht zweimal bitten lässt, wenn es einmal etwas wilder zu und her geht. So versammelt sich die Einwohnerschaft, um dem Spektakel beizuwohnen, in ihrer Gesamtheit auf der Zielgeraden.
Und das klingt dann so: «Ein entsetzliches Geschrei und Gelächter erhob sich und dröhnte, soweit das Ohr reichte. […] Die Herren in den Gärten standen auf den Tischen und wollten sich ausschütten vor Lachen. Ihr Gelächter dröhnte aber donnernd und fest über den haltlosen Lärm der Menge weg, die auf der Strasse lagerte, und gab das Signal zu einem unerhörten Freudentage.»
Man folgere: Der Original-Bünzli, die Origninal-Bünzli, das sind zwar Bünzlis, das sind aber auch Menschen, die gern ein rauschendes Fest feiern. Wenn deshalb sowohl die Revoluzzer als auch ihre Gegnerschaft bitte regelmässiger im Werk des Schweizer Nationaldichters lesen möchten, wäre das Lärmproblem in St.Gallen im Nu gelöst.