Zurück ins Fläschchen

Bei den Nadeln hört der Spass definitiv auf. Heroin spritzen: no way. Da sind sich Emil* (19), Thomas* (19) und Seraina* (20) einig. Emil lebt im Thurgau, hat eine Lehre auf dem Bau gemacht und pünktlich zur Coronakrise den Job verloren. Er hat seit Jahren Berührungspunkte mit verschiedenen Drogenszenen. «Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie es den Leuten an der Nadel geht», sagt er. «Heroin ist für mich ein No-Go.» Keine Berührungsängste haben die drei bei Drogen in Medikamentenform wie opiathaltigem Hustensaft und angstlösenden und beruhigenden Benzodiazepinen.
Es ist Samstagnachmittag, Emil behält die Sonnenbrille auch drinnen auf und zündet sich einen Joint an. Das beruhigt ihn. Seit er 14 ist, trinkt, raucht und kifft er regelmässig. Er sei wohl mit den falschen Leuten aufgewachsen, sei viel mit Älteren rumgehangen. Da bekomme man einiges mit, probiere dies und das. Gras helfe ihm abzuschalten vom ganzen Stress. Stress bei der Arbeit, Stress mit der Familie. Er hat vieles ausprobiert: Uppers wie MDMA, Koks, Speed; Downers wie Cannabis, Ketamin, Benzos. Er reicht den Joint weiter.
«Die Schweiz ist das Problem: Immer erwartet irgendjemand irgendetwas von einem», sagt Thomas, der ebenfalls im Thurgau lebt. Seine Lehre auf dem Bau hat er abgeschlossen, jetzt ist er arbeitslos, jobt hin und wieder bei den Grosseltern. Seraina kommt aus dem Rheintal. Sie hat ihre KV-Lehre abgebrochen. «Ich habe nicht so Bock zu arbeiten. Meinen Rausschmiss habe ich provoziert», sagt sie. «Wenn du beim Schnuppern 120 Prozent gibst und dann bei der Arbeit nur noch 100, dann sieht dein Betrieb nur den Rückschritt», sagt Emil. «So hoch sind die Erwartungen mittlerweile.»
Schleppende Beats und kleine Äuglein
«Maka» kennen alle drei. Sprite gemischt mit dem kodeinhaltigen Hustensaft Makatussin, oft zusätzlich versetzt mit dem Sedativum Promethazin. Maka löst, Maka entspannt, Maka enthemmt, euphorisiert, es vertreibt negative Gedanken. «Ich mische ein 80ml-Fläschlein auf zwei Halbliter Sprite, andere verteilen es auf drei», sagt Emil. «Das ist voll geil, du bist in einer anderen Welt», sagt Thomas. «Du bist voll däne, aber irgendwie trotzdem klar. Die Augenlider hängen runter, aber du siehst doch was.» – «Das wollte ich auch ausprobieren. Das erste Mal war ich 16. Es entspannt, es fühlt sich gut an», sagt Seraina.
Die drei sind sich der Gefahren ihres Konsumverhaltens durchaus bewusst. «Das Problem ist halt, dass dir auf Maka alles egal wird und du schmeisst einfach sonst noch eine Tablette rein. Und weil du vergessen hast, dass du gerade was genommen hast, nimmst du gleich noch eine», sagt Emil. Einmal habe er so viele Beruhigungspillen geschluckt, dass sein Kreislauf zusammenbrach und er ins Spital musste. Thomas erzählt von Halluzinationen: «Ich hatte sturmfrei. Wir hatten uns MDMA-Kristalle besorgt und gefressen und gefressen. Das Maka vom Vortag hat nachgewirkt, so dass uns egal war, wie viel MDMA wir einwarfen. Ich lag dann neben meinem Kollegen in meinem Bett. An den Wänden sah ich plötzlich Mandalas, von der Decke hingen Fäden und riesige Spinnen verschwanden in meinem Zimmer. Dann Filmriss.» Möglich, dass noch andere Stoffe im Spiel waren, wer weiss.
«Purple drank», «Lean», «Sizzurp» oder «Texas Tea» heisst der Drogen-Trend, der Anfang der Nullerjahre im US-Südstaaten-Hip-Hop aufkam und auch in Europa längst keine Neuheit mehr ist. Das Opiat in Sirupform – ebenso wie etwa das starke Benzodiazepin Xanax – wurde und wird von Trap-Rappern oft besungen. Die narkotischen Beats mit schleppenden Bass-Drums und nervös rollenden Hi-Hats und der verlangsamende Opiatrausch verschränken sich ineinander. Mittlerweile ist die Sirupwelle in den USA wieder abgeflacht. Auch im Deutsch-Rap scheint der Trend abzuklingen.
«Deutsch-Rap hat einen grossen Einfluss darauf, was die Kids konsumieren», sagt Emil. «Ohne die Tracks wüssten die Leute gar nicht, was es alles gibt.» Auch Seraina und Thomas hören fast ausschliesslich Deutschrap: Bonez MC, GZUZ – das ist der, der den Schwan verprügelt hat –, die ganze 187 Strassenbande. «Oder Capital Bra, der ist richtig krass», sagt Thomas. «Der hat Geld, kann sich richtig krasse Dinge kaufen, die er dann auch zeigt. Der kann es sich auch leisten, mal jemanden zu verprügeln.»
Restriktive Apotheken, blühender Schwarzmarkt
Bis vor wenigen Jahren war es relativ einfach, sich in den Apotheken mit dem nicht rezeptpflichtigen Makatussin zu versorgen. Beliebt war in der Ostschweizer Szene eine Zeit lang etwa der Rheinpark in St.Margrethen. Am Wochenende hätten sich dort regelmässig Schlangen gebildet vor der Apotheke, berichten die drei. Am Telefon relativiert Geschäftsführer Christian Rogenmoser: «Es stimmt schon: Vor etwa drei, vier Jahren hat die Nachfrage nach Makatussin bei uns stark zugenommen. Aber Schlange gestanden sind die Leute nicht gerade.»
Mit einer Revision des schweizerischen Heilmittelgesetzes 2019 wurde der kodeinhaltige Hustensaft neu gelistet und dokumentationspflichtig. «Wir haben das Präparat aber schon viel früher nur noch gegen Personalausweis und nur an Volljährige ausgegeben. Zudem konnte eine Person bei uns maximal einmal im Monat Makatussin beziehen.» Es sei manchmal vorgekommen, dass die Jungen volljährige Kollegen vorschickten oder ältere Menschen im Rheinpark angekickt haben, das Mittel für sie respektive für ihre «hustende Mutter» zu kaufen. «Seit rund drei Jahren geben wir diesen Hustensirup nur noch gegen Rezept heraus», so Rogenmoser. Seither gebe es keine Nachfrage mehr danach.
Der Rheinpark ist mit seiner unmittelbaren Nähe zur Autobahn gut erreichbar. Die Nähe zur Grenze kann ebenfalls eine Rolle spielen. Es ist ein Stück weit aber auch Zufall, dass sich St.Margrethen für eine gewisse Zeit als Sirup-Hotspot etabliert hat. Wenn sich herumspricht, in welcher Apotheke man relativ einfach ans Mittel kommt, rennen alle dahin. Die Apotheken reagieren in der Regel rasch auf solche Situationen.
Weitere Apotheken in der ganzen Ostschweiz, die nicht namentlich genannt werden wollen, schätzen den Hustensaft-Trend unterschiedlich ein. Offenbar wurde das Mittel im Raum Bodensee eine Zeit lang stark nachgefragt. Einige geben an, die Nachfrage habe in den letzten zwei Jahren deutlich nachgelassen. Das beobachtet auch die Galenica AG, die in der Ostschweiz einige Apotheken betreibt. Andere machen die gegenteilige Erfahrung: Gerade im Coronajahr 2020 sei wieder viel mehr nach dem Hustensirup verlangt worden und es seien entsprechend viele gefälschte Rezepte im Umlauf. Das Sirup-Phänomen ploppt lokal und zeitlich beschränkt immer wieder auf.
Die verstärkte Kontrolle seitens der Apotheken hat den Schwarzmarkt beflügelt. Im Thurgau bezahlt man für ein Fläschchen mittlerweile 80 Franken und mehr, in Zürich beginnen die Preise bei 120 Franken. Für ein Fläschchen, das in der Apotheke keine zehn Franken kostet. Es besteht also weiterhin eine Nachfrage. «Einige Leute verdienen sich damit noch heute eine goldene Nase», sagt auch Emil.
Die Kantonspolizei wiederum kann momentan keinen Trend feststellen. Es komme zwar vor, dass im Rahmen von Kontrollen und Ermittlungen Kodeinpräparate gefunden werden, jedoch nicht im grossen Stil. Die Polizei hat ausserdem wenig Handlungsmöglichkeiten: Makatussin ist – auch gemischt mit Sprite – legal. Werden stark berauschte Jugendliche aufgegriffen und wird dabei erkannt, dass sie Kodein zu sich genommen haben, werden zumindest die Eltern informiert respektive die Jugendlichen in deren Obhut übergeben. Je nach Fall wird auch die Kesb benachrichtigt.
Sehnsucht nach Entgrenzung
Die Gefahren, die vom Kodeinkonsum ausgehen, sind bekannt: Das Opiat setzt im zentralen Nervensystem im Gehirn an, eine Überdosierung kann zu Atemdepression und letztlich zum Tod führen. Es gibt einige prominente Todesfälle in der US- und auch in der deutschen Trap-Szene. Gerade in Kombination mit Alkohol oder weiteren sedativen Medikamenten kann es schnell zu Komplikationen kommen. Mehreren Quellen zufolge sind auch mindestens drei Todesfälle jüngerer Personen aus der Ostschweiz bekannt, die in Zusammenhang mit Opiaten, Opioiden oder Benzodiazepinen stehen. Ein grosses Risiko bergen vor allem gefälschte Präparate, die zu einem Grossteil aus dem Balkan stammen. Aufgrund ihrer unbekannten Zusammensetzung sind sie kaum zu dosieren.
Für Regine Rust, Leiterin der Stiftung Suchthilfe, ist der Hustensaft-Trend im Grunde nichts völlig Neues, sondern eine Fortsetzung des Opiat- und Opioidkonsums, der sich schon lange durch die Menschheitsgeschichte zieht und von dem man bis vor wenigen Jahren noch glaubte, er verschwinde allmählich. Die Kodein-Welle scheint in Deutschland und in den USA abzuflachen. Für die Schweiz muss das nicht gelten. Die Stiftung Suchthilfe verzeichnet vermehrt Anfragen junger Menschen, die ihren Opiat- oder Opioidkonsum nicht mehr im Griff haben.
«Der Wunsch nach dem Kick, nach Ablenkung, Beruhigung und Entgrenzung bleibt», sagt Rust. Lediglich die Konsumform habe sich verändert. Die offenen Drogenszenen und das damit verbundene grosse Elend sind aus der Öffentlichkeit verschwunden. Damals hat der von der Firma Bayer entwickelte, sehr erfolgreiche Hustensaft mit dem Markennamen Heroin den Weg in die Spritzen gefunden. «Die User machten das aus finanziellen Gründen: Anders als bei der oralen Einnahme lässt sich intravenös mit wenig Stoff eine maximale Wirkung erzielen. Im 21. Jahrhundert ist die Substanz für viele Jugendliche wieder bezahlbar geworden. Anders als bei den Platzspitz- und Sternackergenerationen werden Opiate wieder geschluckt.» Als ob die Substanz zu seinen Wurzeln, zurück ins Husten-Fläschchen gefunden hätte.
Schon früher wurde der Wirkstoff popkulturell hochgejubelt. Die Rolling Stones etwa sangen 1971 vom Brown Sugar. Rust sieht weitere Parallelen. «Die Leute gehen unbedarft und ohne Angst an die Sache, sie experimentieren, wie die Jungen früher mit Heroin.» Damals habe sich auch kaum jemand Sorgen gemacht. «In einigen Kreisen, gerade auch in der Trap-Kultur, herrscht eine Art No-Future-Stimmung wie damals in den 80ern.» Das stehe in starkem Gegensatz zu den eigentlichen Bedürfnissen.
Wenn sie selber mit Jugendlichen spreche, würde kaum jemand sagen, er oder sie wünsche sich keinen guten Job, Geld, Familie, eine Zukunft. Viele Junge seien heute sehr fleissig und diszipliniert, an sich eine arbeitsame und eher brave Generation. Aber es gebe eben auch jene, die dem zunehmenden gesellschaftlichen Druck nicht standhalten können und sich deshalb dem Leistungsprinzip verweigerten. «Daraus entsteht in einigen Kreisen eine richtig depressive Perspektivlosigkeit.» Die Pandemie tue ein Übriges, es ist noch schwerer geworden, die eigene Zukunft mitzugestalten, Jobs und Lehrstellen zu finden.
Die Spritze markiere für die meisten Jungen eine klare Grenze, vor der sie viel Respekt haben, nicht aber der Wirkstoff. «Das Siruptrinken hat ja auch etwas Candyhaftes, Kindliches», sagt Rust. «Die Schwelle zum Ausprobieren ist extrem tief. Das gleiche Prinzip kennen Suchtfachleute bereits von den Alcopops, ohne die beiden Sachen per se vergleichen zu wollen. Manche User kommen über den süssen Kodein-Sirup-Mix auf den Geschmack und können dann schwer stoppen.» Bei der Suchthilfe melden sich meist die Leute, die nach ihrer Sirup-Phase weitergemacht haben mit Methadon, Morphium, Tramadol und ähnlichen Stoffen, die auf der Strasse beschafft werden.
Emil, Seraina und Thomas sind dem Sirup entwachsen. Sie haben alle seit einem oder zwei Jahren kein Maka mehr getrunken. «Meine Kollegen und ich sind älter geworden, wir finden es nicht mehr so geil. Bei uns ist Alkohol und Koks hoch im Kurs. Koks war im Gegensatz zu den Medis auch während des ganzen Lockdowns viel leichter erhältlich», sagt Thomas. Seit etwa drei Monaten snifft er täglich. «Mit Koks bist du voll parat, voll am Start. Aber irgendwann ist auch das wieder vorbei.» – «Ich möchte jetzt Party machen, nicht erst mit 30. Dann habe ich vielleicht Familie und so ein Konsum macht die Familie kaputt, das will ich nicht», sagt Emil. Auch Seraina hat lange kein Maka mehr genommen. Benzos schon noch ab und zu. «Es macht dich dumm, das ist sehr angenehm.»
Und was, wenn einen doch die Sucht packt? «Jeder, der es verkackt, ist selber schuld», findet Thomas. Er will sein Leben einfach geniessen. «Für die Arbeit auf dem Bau bin ich mir zu schade, ganz ehrlich.» Auch seine Eltern, bei denen er lebt, finden, er solle einfach das machen, was ihn glücklich macht. Von seinen Drogeneskapaden haben sie keinen Schimmer.
*Namen anonymisiert.