Zum Kotzen schön
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«Wer war denn nochmal dieser Suso?», fragte mich neulich jemand und anstatt erstmal Google zu konsultieren, konnte ich aus dem Stegreif antworten: ein mittelalterlicher Mystiker am Bodensee! Und dann wusste ich sogar noch, dass er den Begriff der Gelassenheit quasi erfunden hatte: «Der Mensch muss sich loslassen und dadurch gelassen werden.» So ein Zitat merkt man sich schliesslich!
Gut, es war ein Zufall, dass ich eben erst das Buch Bodenseeland gelesen hatte – diesem Zufall verdankte ich die kleine Sternstunde der Angeberei. Und bestimmt schliessen sich noch einige daran an, denn das Sammelwerk unterschiedlichster Themen rund um das Seeufer birgt noch so einiges, was die Grundwissenslücken zum Bodensee füllt.
Literarisches Who is Who
Sebastian Winterberg scheint kein Freund angeberischer Sternstunden zu sein – der Name ist ein Pseudonym. Dabei umfasst seine Quellenliste regionale Zeitungen, Statistiken sowie ein literarisches Fundament, das für eine akademische Abschlussarbeit ausreichen würde.
Auch Saiten wurde gelesen. Im Kapitel «Konstanz versus St.Gallen» wird der Anzeigentext vom Palace aus dem Jahr 2013 zitiert: «We whisper in your ear a great secret – St.Gallen is NOT a provincial town.» Konstanz hingegen erhält den schlichten Slogan des Stadtmarketings: «Konstanz – die Stadt zum See».
Darüber hinaus führt Winterberg Zitate von Kunst- und Kulturschaffenden an, die etwas zum Bodensee geschrieben haben: Von Balzac über Hesse, Mann oder Bosch geht es hin zu jungen Autoren wie Christian Kracht oder Philipp Schönthaler.
Regionale Stimmen wie Gerd Zahner, Jochen Kelter oder Peter Stamm sind ebenfalls mit im Repertoire. Von ihnen sammelt Winterberg Zitate zu Landschaft, Wetter, Menschen und dem Leben am See und stellt diese den entsprechenden Kapiteln voran oder verstreut sie locker im Text. Ein Streifzug durch eine Bibliothek also – für die Leserin und den Leser im Vorübergehen präsentiert.
Der Ton des Buches hält sich leicht, unterhaltsam und unangestrengt, ohne dabei banal zu werden. Sein hohes Mass an sprachlichem Geschick zeigt der Autor in eigenen lyrischen oder prosaischen Arbeiten. Ein Beispiel: «Beim Aufprall auf die Seeoberfläche zerspringt das Sonnenlicht in hunderttausend Scherben. Jede einzelne sticht glitzernd Dir ins Auge und kitzelt Dich zugleich. Oder der Hochnebel spiegelt sich matt und stahlgrau im See, wenn nicht gar bleiern in Deiner Seele. Alle halbe Jahre geschieht ein atmosphärisches Wunder: Im späten Frühjahr und im frühen Herbst ist der östliche See zum Feierabend in eine durchsichtige, altrosa leuchtende Wolke gehüllt, wie aus gefärbter Zuckerwatte.»
«Zum Kotzen schön» würde Otto Dix vermutlich sagen. Highlights wie diese werden lose zwischen essayistische Texte und journalistische Beobachtungen gestreut.
Diskurs über das Wetter
Selbst bei Abhandlungen über das Wetter am See kommt keine Langeweile auf, da diese wieder Fakten beinhalten, die man spätestens beim nächsten Hardcore-Smalltalk herauskramen kann. Es ist aber kein Schön-Wetter-Büchlein und keine Tourismuslektüre, auch wenn die Schönheit des Sees in zahlreichen Zitaten bis über den grünen Klee, bzw. das blaue Wasser gelobt wird, so von Alissa Walser: «Seine Glätte. Das Licht. Die immer sanften Hügel. Die nahen Ufer und die weiten.»
Sebastian Winterberg: Bodenseeland – Ein Log- und Lockbuch für Leute von nah und fern, Thorbecke Verlag 2019, Fr. 31.90
Auch die Anatomie von Wasserleichen wird beschrieben, das Flugzeugunglück von Überlingen, Erinnerungen an den Holocaust, der florierende Wirtschaftszweig der Waffenindustrie und banalere Leiden der Seebewohner wie der lästige Föhn, die Fasnacht, Touristen oder die Eintönigkeit der Provinz, die Winterberg mit Ausschnitten aus dem Polizeifunk abbildet: In Appenzell Innerrhoden ist ein Auto in einen Weiher gerutscht…
Auch Ausflugstipps kommen nicht zu kurz. In eigenen Erfahrungsberichten geht es einmal rund um den See, sei es auf Schneeschuhen durch die Vorarlberger Landschaft oder in die Clubszene der Ostschweiz. Und auch auf einigen Privat-Partys scheint der Autor sich herumgetrieben zu haben:
«Wenn man in Konstanz mit dem Maler A auf die Party einer WG, in der man niemanden kennt, geht, dann ist da zunächst auch der Maler B, den man ganz gut kennt und der zufällig im selben Haus wohnt (Der Maler C verkehrt in anderen Kreisen). Aber später kommt auch D, der kein Maler ist und den man auch ganz gut kennt und immer mal wieder trifft. E, der einen berühmten Vater in Berlin hat und dem man gelegentlich eher beruflich über den Weg läuft, ist schon mit F da, den man nur aus der Ferne und von einigen Fast-Begegnungen kennt. Später erzählt B, dass in der Party-Wohnung, die er einst selber renovierte, mal der Bruder der Ex-Freundin und jetzigen Sekretärin des von A und B sehr verehrten Berliner Gross-Malers G gewohnt hat. B hat den Bruder kürzlich getroffen, wobei die Verbindung offenbar wurde. Der Bruder hat gerne angeboten, einen Kontakt zum grossen Maler herzustellen. Aber wahrscheinlich wird (trotzdem) nichts draus».
Entstanden ist ein Buch für Menschen, die gerne durch Landschaften und Literatur streifen. Geeignet für end- lose Tage an sonnigen Seeufern ebenso wie unter den undurchdringlichen Decken des Hochnebels.
Dieser Beitrag erschien im Februarheft von Saiten.