Zum Beispiel das «Kurhaus Martens» in Trogen

Vegi-Buffet und Reformhaus-Müsli, Sonnenbäder und Frühyoga, Abstinenz und Entgiftungskuren. Nein, wir sind nicht auf einem der unzähligen selbstoptimierten Insta-Kanäle, sondern mitten in Iris Blums neuem Buch über die Lebensreformbewegungen in der Ostschweiz von 1900 bis 1950. Wenn es denn dazu einen Hashtag geben würde, wäre es #Standardwerk. Wobei in Blums 352-seitigem Schmöker allerhand sonderbare, durchaus hashtag-taugliche Wortschöpfungen zu finden sind, zum Beispiel «Eiweissdogma», «Drüsenpflege», «Fusslümmelei» oder «Müssiggängerkolonie».
Unter dem Begriff Lebensreform sammelt man verschiedene soziale Reformbewegungen, die etwa ab Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem von Deutschland und der Schweiz ausgingen. Dazu gehören nach Blum die groben Kategorien Naturheilkunde, Reformernährung, neureligiöse Bewegungen, Reformsiedlungen, alternative Ökonomie, Reformtanz und Reformpädagogik – zumeist Reaktionen auf die Entwicklungen der Moderne und der Industrialisierung. Und mit ganzheitlichem Anspruch. «Zurück zur Natur» ist vielleicht der kleinste gemeinsame Nenner, denn in ihren Ausprägungen unterscheiden sich die diversen Bewegungen durchaus, auch wenn sie kaum isoliert betrachtet werden können und es ideologisch wie personell etliche Überschneidungen gibt. Blum spricht hier von «Mehrfachzugehörigkeiten».
Kulminationspunkt der Lebensreformbewegungen und lange Jahre der «place to be» war der berühmt-berüchtigte Monte Verità bei Ascona. Aus halb Europa kamen die «nackten Licht- und Sonnenbadenden», die «Würzeli-Fresserinnen» und «Tanzphilosophen» ins Tessin. Etliche Fäden dieses reformerischen Netzwerks sind aber auch in der Ostschweiz zu finden, vor allem in St.Gallen, im Thurgau und in Ausserrhoden, doch sie wurden bisher nur punktuell aufgenommen. Iris Blum hat nun eine Vielzahl davon herausgezupft und verwoben und liefert damit erstmals eine umfassende Publikation zum Ostschweizer Reformstrang zwischen 1900 und 1950 rund um den Säntis. Eine grosse Tat.
Managerin, Heiltätige, Publizistin
Sechs Jahre durchforstete Blum, Archivarin und freischaffende Historikerin, öffentliche und private Archive, wühlte in Fotos, Tagebüchern, Zeitungen und anderem Quellenmaterial. «Ziel meiner Spurensuche ist nicht ein Thesenbuch mit neuen Deutungen aus der Fachwissenschaft», schreibt sie im Auftakt. «Vielmehr möchte ich mit meinen Nachforschungen unbekannte Gesichter ans Licht holen und unerzählte Geschichten von Ostschweizerinnen und -schweizern nachzeichnen.»
Und davon gibt es einige in den insgesamt sieben Kapiteln. Zum Beispiel die Geschichte von Anna Martens (1883-1961). Sie kam 1922 mit ihrem Mann William von Deutschland via Abstecher nach Locarno und Herisau nach Trogen. Dort führte das Ehepaar als «dipl. Naturärzte» fast 40 Jahre die Kuranstalt Martens. Sie umfasste mehrere Häuser und vier Hektaren Wiese und Wald, wo unter anderem Wald-, Luft- und Sonnenbäder durchgeführt wurden. Ausserdem im als ganzheitlich angepriesenen Therapieangebot: Regenerations- und Diätkuren, Spezialmassagen, Atempflege, Gedanken- und Willensschulung, Farbtherapie, Schwitzbäder, Krisendiagnose und vieles mehr.

Iris Blum: Monte Verità am Säntis. Lebensreform in der Ostschweiz, 1900-1950. Verlagsgenossenschaft VGS, St.Gallen 2022.
Treibende Kraft dahinter war Anna Martens. Sie war nicht nur Heiltätige, sondern auch Managerin und Aushängeschild des Betriebs, gefragte Publizistin, Kursleiterin und Vortragsrednerin – «eine anerkannte Persönlichkeit in reformerischen Kreisen», wie Blum sie beschreibt, «energetisch und aktiv.»
Insbesondere für ihre Anwendungen bei «Frauenleiden» war Martens bekannt. Statt auf «Messergynäkologie» wie die Schulmedizin – lange vertraute diese auf operative Eingriffe, so wurde zum Beispiel zur Bekämpfung der sogenannten Hysterie oft die Klitoris entfernt – vertraute Martens auf die «Thure-Brandt-Massage», benannt nach ihrem schwedischen Erfinder, um «Verwachsungen und Entzündungsschwarten zu lösen». Die Technik bestand darin, «mit dem Einführen von einem oder zwei Fingern in die Vagina die Gebärmutter der Frauen zu heben bzw. zu verlagern und mit der anderen Hand die Bauchdecke zu massieren.»
Reformerische Körperideale und «Sexualhygiene»
Zentral für das Trogener Kurhaus waren diverse Mazdaznan-Praktiken. Sowohl Anna als auch William Martens zählten sich zu dieser neureligiösen Bewegung. Gegründet wurde die «Lebensschule» Mazdaznan vom deutschen Schriftsetzer Otto Hanisch, gemäss Blum ein ziemlich dubioser Typ mit sagenhaftem Lebenslauf und zweifelhaftem Leumund. Der Name Mazdaznan komme aus dem Persischen und stehe sinngemäss für «Meistergedanke» oder «meisterlich konzentriertes Denken», so Hanisch.
Im Mittelpunkt seiner Lehre stand die individuelle und kollektive Arbeit am Körper. Hanisch propagierte Vegetarismus, Alkohol- und Tabakabstinenz, Drüsenreinigung, Atemübungen, Yoga – und die Überlegenheit der «weissen arischen Rasse». Diese sei über die Jahrhunderte «degeneriert» und müsse nun mittels «Reinigung des Blutes», «Durchgeistigung des Körpers» oder «Sexualhygiene» wieder gestärkt werden. Seine Körperideale waren die reformerische «Einstiegsdroge» für rassistische Vorstellungen von Mensch und Gesellschaft.
Hanisch war kein einsamer Spinner, sondern hatte etliche Anhänger:innen: «1912 bestanden in Deutschland, der Donaumonarchie und der Schweiz bereits 33 Gruppen, auch Logen genannt», schreibt Blum. «Diese Vereinigungen organisierten Vortragsreihen, Wiedergeburts- sowie Diät- und Kochkurse. Gerade solche lebenspraktischen Aspekte des religiös überhöhten Körper-Kultes machten den Erfolg von Mazdaznan aus. Es war das Mazdaznan-Kochbuch, das innerhalb der Reformliteratur zur massenwirksamsten Schrift avancierte.»
Ein düsteres Buchkapitel, das bis in die Sturmabteilung der Nazis reicht. Und das auch die Geschichte eines Sekundarlehrers namens Othmar Böhm aus Schaffhausen erzählt, der Otto Hanisch – von dem sich mit den Jahren immer mehr Anhänger:innen abgewendet hatten, darunter auch Anna Martens, obwohl sie eine Verfechterin von «familiärer Eugenik» und «Biopraktik» blieb – ein Leben lang die Treue hielt. Er ist 1938 nach Trogen gezogen, hat antisemitische Schriften verbreitet und wird dort bis heute «Nazi-Böhm» genannt.
Hanisch, Böhm und andere zeigen die Abgründe der Lebensreform. Das Phänomen der Reformbewegungen fasziniere sie seit Jahren, sagt Blum an der Vernissage im St.Galler Pfalzkeller Anfang November, es stosse sie aber gleichzeitig auch ab. «Hier die Pioniere, Visionärinnen und Menschen mit einer Utopie vor Augen, wie sie die Welt besser machen können, dort die Sektierer und Ideologinnen, die Rassissten und Antisemitinnen. Auch das sind Elemente der Lebensreformbewegung.» Iris Blum hat diese dunklen Seiten bewusst angepackt und sorgfältig auseinandergenommen. Sie ordnet ein, stets sachlich, aber nie emotionslos.
Fäden bis in die Gegenwart
Die anderen Seiten der Reformbewegungen, die utopischen, progressiven, ansteckenden, nehmen den grösseren Teil des Buchs ein. Die Geschichte über die Appenzellerin Amalia Egli zum Beispiel, die in Zürich das erste Reformhaus der Schweiz eröffnet hat. Oder jene des Einwanderers Carlo Mattarel, der mit seiner Frau Gertrud das erste Reformhaus in St.Gallen aufbaute. Auch jene von den «Bähnlern» und «Pöschtlern» in der Schorensiedlung und den Eisenbahnern in Rorschach mit ihren Gartenstädten. Und natürlich die Geschichten der Reformtänzerinnen Margrit Forrer-Birbaum und ihrer Schülerin Julia Tardy-Marcus, die einst eine Hitler-Parodie getanzt hat.
Blum erzählt diese Geschichten mit der Genauigkeit einer Historikerin und der Routine einer Journalistin. Trotz aller Komplexität, aller Querbezüge und Überschneidungen verliert man nie die Orientierung. Dabei hilft auch das «Bildgedächtnis» der St.Galler Fotografenfamilie Rietmann in der Mitte des Buchs. Auf über 60 Seiten ist hier bildlich komprimiert, was Blum in den sieben Kapiteln beschreibt – eine famose Fundgrube. Die Gestaltung des Buchs übernahm wieder das St.Galler Büro Sequenz (Anna Furrer und Sascha Tittmann). Auch Blums 2016 erschienene Publikation Mächtig geheim über die Psychosophische Gesellschaft 1945–2009 kam aus ihrer Küche.
Blum blickt tief in die Vergangenheit der Ostschweizer Reformbewegten. Doch sie haben auch Grundsteine für Entwicklungen gelegt, die bis heute ausstrahlen oder wieder neue Relevanz gewinnen. Sie haben den Tanz revolutioniert, sich mit nachhaltiger Wirtschaft und ganzheitlicher Bildung auseinandergesetzt, sich in unabhängigen, selbstversorgerischen Reformsiedlungen zusammengefunden und die Gütergemeinschaft gelebt.
Ihr Ziel war eine «bessere» Gesellschaft, so zwiespältig dieser Begriff vor dem teils düsteren Hintergrund dieser Bewegungen auch ist. «In ihren Augen führte die Gesellschaftsreform über die Selbstreform», schreibt Blum im Nachklang. Das «Ich» sollte täglich an sich selbst arbeiten. Das ist vielleicht der grösste Unterschied zur selbstoptimierten Yoga-Fitness-Insta-Gesellschaft dieser Tage: Der Reformbewegung ging es noch um anderes als nur ums eigene Ich.