Zürich schröpft weiter

Seit Jahren schöpft die NZZ Millionen aus den Regionen ab. Unter dieser Politik leidet auch das «St.Galler Tagblatt». Ein engagierter Kleinaktionär aus Zug kritisiert die «Dividenden-Abzüglete aus der Provinz nach Zürich».
Von  Roman Hertler

Die alte Tante von der Falkenstrasse kriegt den Hals nicht voll. Gerade erst versenkten die Aktionäre der «Neuen Zürcher Zeitung» 8 Millionen Franken in ihren eigenen Taschen, während die Redaktionen auf Kurzarbeit gesetzt sind. Dividenden, die die Besitzer der NZZ kaum nötig haben, wie ein Aktionär kürzlich der «Republik» anvertraute. Immer schön gegen den Staat wettern («Bitte keinen Seuchen-Sozialismus»), gleichzeitig die Unternehmen zur Mässigung aufrufen («Zurückhaltung bei den Dividenden ist jetzt angebracht»), unter dem Tisch aber die hohle Hand machen. Und gleichzeitig fleissig die Regionen weitermelken.

Auch früher waren es die NZZ-Regionalmedien, darunter das «St.Galler Tagblatt» und die «Neue Luzerner Zeitung», die den immerhin noch einigermassen aufwändigen Journalismus der NZZ querfinanzierten. Das ist heute nicht anders, unablässig fliesst regionales Geld nach Zürich ab. Jetzt sind es nicht einmal mehr Gewinne, die die NZZ anzapft, sondern Reserven, die die Regionen früher erwirtschaftet haben.

Holdingstruktur:
Im Mai 2018 ist aus der LZ Medien Holding AG mit der Übernahme der Tagblatt Medien Holding AG die RMH Regionalmedien AG mit Sitz in Luzern hervorgegangen. Die St.Galler Tagblatt Medien haben einen Aktivenüberschuss von knapp 70 Millionen Franken ins neue Konstrukt eingebracht. Die NZZ hält 97 Prozent der RMH-Aktien. Am Joint Venture CH Media zwischen den Aargauer AZ Medien und den NZZ-Regionalmedien ist die NZZ über die RMH zu 50 Prozent beteiligt.

Die Generalversammlung der RMH Regionalmedien AG, damit also vor allem Hauptaktionärin NZZ (siehe Infokasten), hat am 14. Mai einer Dividendenausschüttung inklusive «Sonderdividende» von 13,4 Millionen Franken zugestimmt – fast das 1,7-fache von jenen 8 Millionen, die sich die NZZ-Aktionäre ihrerseits auszahlten. Der im Aktionärsbericht der RMH ausgewiesene Jahresgewinn der RMH beträgt aber lediglich 1,9 Millionen Franken, womit sich eine sagenhafte Ausschüttungsquote von 714 Prozent ergibt.

Ein Kleinaktionär muckt auf

Das stösst dem Zuger RMH-Aktionär Daniel Brunner sauer auf. Im Aktionärsbericht werde zwar ein «Gruppenergebnis» von 11,4 Millionen ausgewiesen und damit eine Ausschüttungsquote von «nur» 117,5 Prozent behauptet. Wie dieses Gruppenergebnis zustande gekommen sein soll, bleibt allerdings schleierhaft. In einer Fussnote im Aktionärsbrief heisst es: «Um den anteiligen Wert der CH Media adjustiert resultiert ein EBITDA von TCHF 27’922.» Ausgewiesen wird aber ein EBITDA von 9,5 Millionen. Der betriebliche Aufwand von 11,9 Millionen Franken übertrifft den entsprechenden Ertrag sogar ganz leicht. Brunner dazu: «Holding-Rechnungen schlucken Vieles, nach der Equity-Methode sowieso.»

Daniel Brunner, RMH-Aktionär

Brunner gehört als Publikumsaktionär der früheren «Volks-AGs» «Vaterland» und Keller & Co. AG («Luzerner Tagblatt») zu jenen drei Prozent, denen die heutige RMH neben der NZZ eben auch noch gehört. In der Zentralschweiz kennt man den «roten Dani» als früheren linksgrünen Politiker und als Mitgründer der «Zuger Presse». Als Erbe der Zuger Landis & Gyr-Dynastie gehört er zur raren Spezies der «reichen Linken». Weil er wollte, dass seine politischen Mitstreiter gut informiert sind, gründete er Mitte der 1990er-Jahre das Dokumentationszentrum Doku-Zug (damals «Büro Gegenwind») und hat dort mittlerweile über 20 Millionen Franken seines Vermögens investiert.

Brunner hat Anfang Mai einen offenen Brief verfasst, dessen Publikation vergangene Woche er sich immerhin eine «tiefe sechsstellige Summe» hat kosten lassen. Der Brief erschien als ganzseitiges Inserat zuerst im «Urner Wochenblatt», später unter anderem in der «Weltwoche», im «Blick» und der WOZ und in Christoph Blochers Gratisblättern der Swiss Regiomedia. Abgelehnt haben ihn die drei grossen Medienhäuser Tamedia, CH Media und NZZ. Im Brief fordert Brunner die Adressaten Etienne Jornod und Felix Graf – die Verwaltungsratspräsidenten von NZZ bzw. RMH, letzterer zudem NZZ-CEO – in ihrer Funktion als Hauptaktionäre der RMH, Verantwortung zu übernehmen und «die fehlgeleiteten Anträge betreffend Dividendenausschüttung» abzulehnen.

Gegenüber Saiten sagt Brunner, ihn beelende, dass die NZZ ihren Töchtern in der Zentral- und in der Ostschweiz «seit Jahrzehnten» Mittel entziehe, obwohl mit den Gewinnen eigentlich ein Ausbau des redaktionellen Angebots angezeigt gewesen wäre. An einem starken, regional verankerten Journalismus liege der NZZ aber offenbar wenig.

NZZ bestreitet Brunners Vorwürfe

Die NZZ reagierte am Mittwoch via Twitter auf die massive Kritik Brunners. Seine Aussagen würden sich «auf eine überholte Struktur beziehen» und seien «insofern falsch». Die früheren NZZ-Regionalmedien in St.Gallen und Luzern würden nicht mehr von den regionalen Holdings herausgegeben, sondern von der CH Media. Die Dividenden würden nicht ausgeschüttet, sondern in ein «nachrangiges Aktionärsdarlehen zur Absicherung der Liquidität von CH Media» umgewandelt. CH Media würden also keine Mittel entzogen.

Peter Wanner, CH Media-Verleger

Wie «Kleinreport» schreibt, ist es CH Media-Verleger Peter Wanner, der dieses Aktionärsdarlehen offenbar initiiert hatte, wohl etwas mulmig geworden ob der geplanten Dividendenausschüttung. Gegenüber der «Republik» hat Wanner denn auch sein Bedauern darüber ausgedrückt, dass die grossen Branchenvertreter – allen voran die NZZ und Tamedia – nicht solidarisch auf das Ausschütten von Dividenden verzichtet haben. Er sieht staatliche Hilfen für die Medienbranche in Gefahr.

Brunner mokiert sich über die «vermeintliche Richtigstellung» der NZZ. Es sei unerheblich, ob die Dividende, die die CH Media beschlossen habe, in Form eines Darlehens als neue Schuld auf einem Bankkonto der CH Media belassen würde oder nicht. «In jedem Fall handelt es sich bei den Dividenden bereits per heute um Vermögen der CH Media-Aktionärinnen AZ Medien und RMH.»

Dass die Ausrichtung einer Dividende durch CH Media «nicht ohne» sei, zeige auch die bilanzmässige Auswirkung des Kaufs der 3 Plus TV-Gruppe: Im Vorjahr hatte die CH Media noch über 120 Millionen Franken Eigenkapital in ihren Büchern. Per Ende 2019 war es ein negatives Eigenkapital von 2,4 Millionen bei einem Fremdkapital von 350 Millionen Franken. «Die Ausrichtung der CH Media-Dividende lässt sich deshalb nur mit den Eigeninteressen der RMH-Hauptaktionärin NZZ erklären», sagt Brunner. «Und nächstes Jahr will sie sich dann wieder an den Finanzpolstern der ost- und zentralschweizerischen Provinzen bedienen.»

Ein buchhalterisches Bubentrickli

Die Kritik Brunners gilt denn auch nicht der CH Media, sondern explizit der RMH und der NZZ. Indem man die Dividenden als Darlehen im Unternehmen belasse, könne die RMH im laufenden Geschäftsjahr trotzdem einen schönen Beteiligungsgewinn verbuchen, was es ihr erlaube, auf der GV 2021 eine umso schönere «Sonderdividende» zu beantragen, wie gehabt zu 3 Prozent zugunsten der Publikumsaktionäre und zu 97 Prozent der NZZ. «Nach diesem Schema werden nun seit Jahren Gelder, die viel früher in den Regionen erwirtschaftet worden sind, nach und nach Richtung Zürich abgezügelt.»

Dass diese Dividendenpolitik grundsätzlich schon sehr lange andauert und selbst im Hause NZZ schon länger umstritten ist, belegt Brunner im offenen Brief unter anderem mit einem Zitat aus den Verwaltungsratsprotokollen der NZZ vom 24. November 2005. Darin heisst es: «Hans Kaufmann spricht das Unverständnis an, das einige Arbeitnehmende in Bezug auf die Dividendenpolitik geäussert haben.» Beat Lauber, damals Chef der NZZ-Regionalmedienholding fph-Freie Presse Holding, zuvor bei Tamedia und Ringier, betonte, «dass Ringier AG sehr viel mehr Dividende abgeschöpft hat». So müsse das aber auch kommuniziert werden.

Ein Zentralschweizer Verleger gratulierte Daniel Brunner zu seinem Mut und fand, man müsse der NZZ immerhin zugutehalten, dass sie im Gegensatz zum «Tagesanzeiger» relativ viel in den Journalismus investiere.

Brunner hingegen schreibt im offenen Brief: «Dabei profitier(t)en die Redaktionen der NZZ offensichtlich nicht von der jahrzehntelangen ‹Dividenden-Abzüglete aus der Provinz nach Zürich›. Vielmehr finanzierten und finanzieren diese Transfers die gerade unter dem gegenwärtigen NZZ-Verwaltungsratspräsidenten Etienne Jornod häufig wechselnden Spitzenmanager samt ihrem akkumulierten Sammelsurium ‹elektronischer ventures› – die wiederkehrenden Wertberichtigungen und Goodwill-Abschreibungen in den NZZ-Geschäftsberichten lassen grüssen!»

«Tagblatt» bezahlt mit Stellen

Finanziert haben die Dividenden die einstigen NZZ-Regionaltitel, die heute unter Aargauer CH Media-Flagge segeln. Von Anfang an mitgeschippert ist «Kolumbus». Der Name steht nicht für den visionären Seefahrer – der immerhin wusste, wohin er eigentlich wollte –, sondern für das nach ihm benannte Sparprogramm, das die CH Media-Geschäftsleitung ihren Redaktionen sogleich auferlegte. Das ausgedünnte Resultat halten unter anderem die «Tagblatt»-Abonnentinnen täglich in ihren Händen.

Den Aussenredaktionen wurden Stellen gestrichen, die Büros in Herisau und Rorschach geschlossen und nach St.Gallen zentralisiert, jene von Wil und Wattwil zusammengelegt. Als nächstes dürfte wohl der Thurgau dran glauben müssen. Es kam zu zig Entlassungen, nicht nur in den Redaktionen, sondern auch bei der Bildbearbeitung, beim Korrektorat und weiteren angehängten Abteilungen.

Wenn man sich in Insiderkreisen umhört, gibt es wenig Anzeichen dafür, dass Kolumbus sein Ziel dereinst erreicht. Zumindest solange die Werbeeinnahmen derart einbrechen und keine neuen Printabos dazukommen. Daran, dass das harzende Online-Geschäft die Ausfälle im Print je kompensieren können, mag kaum noch jemand glauben.

Etienne Jornod, NZZ-VR-Präsident

Ausser vielleicht der Verwaltungsrat der NZZ. «Die NZZ-Mediengruppe setzt ihren strategischen Fokus auf Qualitätsjournalismus und Wachstum im Nutzermarkt. Unsere Aktionärinnen und Aktionäre unterstützen diese auf Langfristigkeit angelegte Strategie», schrieb NZZ-Präsident Etienne Jornod Ende April in einer Medienmitteilung. «Gerade in Krisenzeiten sind diese Loyalität und die nachhaltige Sichtweise eine wichtige Voraussetzung für die Handlungsfähigkeit des Unternehmens. Entsprechend ist auch unsere Dividendenpolitik auf Kontinuität angelegt. Mit dem Dividendenantrag wollten wir bewusst ein Zeichen für diese langfristige Optik setzen.»

Dass die «langfristige Optik» nicht über den Züriberg hinausschaut, zeigt die Situation bei den Regionalblättern augenscheinlich. Als Ende 2017 die AZ Medien und die NZZ bekannt gaben, das regionale Mediengeschäft in einem Joint-Venture zusammenzuführen, brachte die St.Galler Regierung dem Entscheid ein gewisses «ökonomisches Verständnis» entgegen. Gleichzeitig gab sie an zu prüfen, «ob es Massnahmen brauche, um den regionalen Service Public sicherzustellen».

Der Optimismus, dass die Auswirkungen der Zentralisierung «nur» den Mantelteil und kaum die regionale Berichterstattung beträfen, war offenbar vergeblich. Beim «Tagblatt» wird gezwungenermassen nach wie vor gespart, während der Rubel weiterhin nach Zürich rollt. In den Rachen der alten Tante Nimmersatt.