Zu Tode missioniert
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Eine bleiche gelbe Scheibe, die es kaum schafft, sich gegen die alles verschlingenden rötlichen Rauchschwaden zu behaupten. Erst in der letzten Einstellung von Apenas el sol sieht man einmal kurz jene Sonne, von der im Filmtitel die Rede ist.
Menschen, denen alles genommen wurde
Sie sei wohl noch das einzige, das die Weissen nicht für sich beanspruchten – denn selbst das Wasser hätten sich die Weissen angeeignet und man müsse nun dafür bezahlen. In diesen Worten äussert sich einige Sequenzen davor ein alter Ayoreo und bringt auf den Punkt, was europäischstämmige Missionare und Kolonisatoren dieser indigenen Ethnie angetan haben.
Die Ayoreo lebten einst als Nomaden in den Weiten des Trockenwaldes im nordwestlichen Paraguay und dem angrenzenden Bolivien und besiedelten eine Fläche von über 300’000 Quadratkilometern. Dann kamen in den 1950er-Jahren die ersten Missionare in das Gebiet, zuerst Salesianer, dann ein Verein, der sich Tribes Mission nannte, und schliesslich die Mennoniten.
Wie wilde Tiere im Wald jagten sie die Ayoreo, die bis da ganz ohne Kontakt zu anderen Zivilisationen gelebt hatten. Heute leben noch etwa 4000 Ayoreo, fast alle von ihnen zusammengepfercht in elenden staubigen Siedlungen am Rande jenes Ödlands, das nach der Abholzung der Wälder übrig geblieben ist.
Die Kamera fährt zu Begin von Apenas el sol über rissige graue Erde, zeigt halbverweste Tierkadaver, stimmt ein auf ein Requiem für eine dem Untergang geweihte Kultur. So wie 450 Jahre zuvor mit der Ankunft von Kolumbus auf den Inseln, die heute als Kuba und Hispaniola bekannt sind, alles begonnen hatte, setzte sich in diesem entlegensten Teil Lateinamerikas ein Völkermord fort, der stets im Namen des angeblich richtigen Glaubens geführt wurde.
Und auch wenn dieser Völkermord sich längst nicht mehr so vollzieht wie damals um 1510 auf Kuba, als die spanischen Missionare Hatuey, den Anführer der kubanischen Taino-Ethnie, gefangen nahmen und zum Tod verurteilten: Immer ging es darum, die «Wilden» zum wahren Gott zu bekehren und sie von ihren «Götzen» dauerhaft zu entfernen.
Ob er sich vor seiner Hinrichtung nicht doch noch zum Christentum bekehren wolle, denn dann käme er in den Himmel, soll ein spanischer Priester damals Hatuey noch zu überzeugen versucht haben. «Gibt es dort im Himmel auch Christen?», soll Hatuey den Spanier daraufhin gefragt haben und als dieser bejahte, war für Hatuey klar: «Dann will ich sicher nicht dorthin.»
Oral History mit Kassettenrecorder
Nach diesem Exkurs, der nichts direkt mit dem Film zu tun hat, soll endlich der Protagonist von Apenas el Sol vorgestellt werden: Mateo Sabode Chiqueno, ein etwa 65-jähriger Ayoreo, der seit Jahrzehnten mit einem Kassettenrecorder loszieht und bei alten Mitgliedern seiner Ethnie unermüdlich Testimonials sammelt.
Als geduldiger Zuhörer nimmt Mateo Berichte über die konkreten Umstände von Vertreibung, Landraub und Zerstörung auf und spielt seinen Gesprächspartnern und -partnerinnen auch immer wieder Aufnahmen vergangener Jahrzehnte vor, bisweilen auch traditionelle Lieder, um Erinnerungen aufzufrischen oder erst wachzurufen.
1979 habe er, der selber in einer dieser staubigen Siedlungen aufwuchs, endlich genug Geld gehabt, um sich das Gerät zu kaufen, erzählt er einmal stolz – und immer wieder sieht man ihn, wie er die Bändchen der altersschwachen Tonbandkassetten, wenn sie sich denn verselbständigt haben, wieder sorgfältig ins Plastikgehäuse wickelt.
Es sind starke Bilder, die der Basler Kameramann Gabriel Lobos (der 2018 für seine Arbeit in Lisa Brühlmanns Blue My Mind den Schweizer Filmpreis gewann) hier zusammen mit Regisseurin Arami Ullón liefert.
Zwar stehen die Reise von Sabode Chiqueno und die Interviews, die er mit Angehörigen seiner Ethnie führt, im Zentrum. Und der Film lässt ihnen viel Raum. Aber trotzdem ist Apenas el sol meilenweit davon entfernt, ein Dokumentarfilm mit einem Überhang an Talking Heads zu sein. Es sind die Bilder, die am stärksten wirken, und wenn am Ende der Wald brennt, dann brennt sich das ebenso ein wie jene gänzlich unkommentierten Szenen, bei denen man Bürokraten aus der fernen Hauptstadt – der Hauptstadt der Weissen, wie einer einmal sagt – dabei zusehen kann, wie sie den Ayoreos Almosen in Form einer erbärmlichen Rente verteilen.
Apenas el sol läuft am 24. November um 20 Uhr im Kinok St.Gallen in Anwesenheit der Regisseurin Arami Ullón. Das lateinamerikanische Filmfestival Pantalla Latina zeigt den Film am 26. November um 16 Uhr im Kino Scala 2, und im Kinok läuft er nochmals am 28. November um 16:20 Uhr. Weitere Vorführungen folgen im Dezember.
Da hilft auch nicht, was ein Ayoreo an einer früheren Stelle zu Protokoll gibt: «Die Vertreibung aus dem Wald brachte uns Leid – aber wenn Jesus kommt, geht es uns besser.» Der Satz wirkt wie auswendig gelernt, was die vielsagende Antwort des Mannes auf Sobode Chiquenos Frage, ob ihre Kultur wohl ganz verschwinden werde, nur bestätigt: «Ich muss zugeben, dass früher vieles besser war. Im Wald war alles möglich und die schweren Krankheiten von heute gab es dort nicht.»
Es ist ein Satz, dessen letzten Teil man im Licht heutiger globaler Realitäten nur als prophetisch bezeichnen kann.
Vier Tage Primetime
Dieses Jahr zeigt das Festival im St.Galler Kino Scala 13 Filme und 16 Kurzfilme aus insgesamt 12 Ländern. Zu Ehren des 50-jährigen Frauenstimm- und Wahlrechts in der Schweiz leuchtet die ganze Pantalla Latina-Welt für einmal lila, nicht nur im Logo, auch Filme und Rahmenprogramm nehmen das Thema auf und spielen es weiter.
Gestartet wird am Donnerstagabend mit einem ersten Kurzfilmblock, die Blöcke zwei und drei werden am Freitag und am Samstag gezeigt. Zur Primetime läuft das Drama Zahorí. Es handelt von der 13-jährigen Mora, die «Gaucha» werden will, Autoritäten radikal infrage stellt und schliesslich weit ins leere Land wandert, um ihrem Freund Nazareno bei der Pferdesuche zu helfen. Regisseurin Marí Alessandrini ist zu Gast im Scala.
Filmgespräche gibt es wie gewohnt an allen vier Tagen. Am Freitag spricht Iván Cáceres, der die Hauptrolle in Mis Hermanos sueñan despiertos spielt, nach der Vorführung über das Drama, das die Geschichte zweier Brüder erzählt, die im Jugendgefängnis sitzen und vom Ausbruch träumen. Gleich im Anschluss feiert Invasion Drag die Schweizer Premiere. Der Dokfilm zeichnet nach, wie 32 Dragqueens aus der Realityshow «RuPaul’s Drag Race» Lima auf den Kopf stellen und die dortige LGBT+-Community stärken. Wer die Show kennt, weiss: Das dürfte ziemlich unterhaltsam werden.
Passend zum Frauenstimm- und Wahlrecht finden auch abseits des Kinosaals – nebst Latin-Party, Familien-Yoga oder Kaffeereferat – zwei Veranstaltungen statt: Am Freitag beleuchtet in der Kunst Halle Sankt Gallen ein Netzwerktreffen zum Thema «Frauen, Migration und politische Partizipation» einen weiteren blinden Fleck unserer Demokratie: das fehlende Stimmrecht für Ausländer:innen. Und am Samstag wird im Palace über den «Platz der Frauen im lateinamerikanischen Kino» diskutiert, zu Gast sind die Professorinnen Marta Álvarez und Yvette Sanchez.
Ob Thriller, Drama oder Dokfilm – der Samstag gehört den Frauen, auch hinter der Kamera. Nuestra Libertad etwa zeigt den Kampf von Theodora Vásquez gegen das misogyne Justizsystem von El Salvador. Sie wurde wegen Mordes verurteilt, weil sie eine Fehlgeburt erlitt – und damit ist sie nicht die einzige. Oder Las Siamesas: In diesem Drama geht es um eine schwierige Mutter-Tochter-Beziehung, die wegen – oder dank? – einer Erbschaft auf die Probe gestellt wird.
Am Sonntag schliesslich wird vom Publikum der beste Kurzfilm gekürt. Ausserdem läuft unter anderem ¿Qué les Pasó a las Abejas?, ein Dokfilm über das Bienensterben im mexikanischen Bundesstaat Campeche, wo sich die indigenen Imker:innen zusammentun und gegen Monsanto stellen. Den Abschluss des Festivals macht das Drama Amparo, benannt nach seiner Protagonistin, die in Kolumbiens Guerilla-Gebieten nach ihrem Sohn sucht und es dabei mit Gewalt, Korruption und Machismus aufnehmen muss.