Zirkus gegen die Autobahn – lange her…

1975 verhinderte der Pic-o-Pello-Zirkus die geplante Südumfahrung der St.Galler Altstadt. 2019 gibt es am Güterbahnhof wieder gigantische Autobahnpläne. Widerstand damals - Widerstand heute? Am 16. Mai lädt Saiten im ExRex zur Diskussion.
Von  Peter Surber
Luftaufnahme des Dammquartiers, links oben der Pic-o-Pello-Platz.

Die Geschichte ist verschiedentlich nacherzählt worden, erinnernswert ist sie immer wieder von neuem. Die Geschichte heisst: «Ein Kulturprojekt macht Politik und rettet ein Stadtquartier.» Oder auch: «Das St.Galler Wunder.» Es ist die Geschichte des Pic-o-Pello-Zirkus, der 1975 auf dem Splügenplatz, heute Pic-o-Pello-Platz, einen Sommer lang die Stadt verzaubert und das politische Klima nachhaltig verändert hat.

(Bild: Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz)

Einen Teil der Geschichte erzählt der Fernsehbeitrag, der in der damaligen Sendung «Bericht vor acht» im Schweizer Fernsehen ausgestrahlt wurde. Der Film wird am 16. Mai im ExRex zu sehen sein. Darin kommen vor allem die Anwohnerinnen und Anwohner zu Wort, und man erhält einen so lebendigen wie bedenklichen Eindruck vom Grad der Vernachlässigung der Häuser auf dem Damm; St.Gallen, wie es definitiv nicht mehr existiert und vorstellbar ist.

Der gewollte Zerfall

Der Zerfall war gewollt – die Stadt hatte in den Jahren davor die meisten Liegenschaften aufgekauft im Hinblick auf die geplante Autobahn, die als «Südtangente» zwar untertunnelt, aber im Tagbau erstellt werden sollte.

Die Geschichte erzählt, im grossen Bogen und aus historischem Abstand, auch das Buch Aufbruch. Neue soziale Bewegungen in der Ostschweiz von 2016. In diesem Standardwerk des fortschrittlichen St.Gallens, als Neujahrsblatt des Historischen Vereins erschienen, rekapituliert Rea Brändle die Geschichte des Zirkus unter dem Titel «Das Wunder und die Ochsentour».

Interessant daran zum einen: der unhinterfragte Gigantismus der Strassenplanungen in den Sechzigerjahren. St.Gallen wäre mit einer Nord- und einer Südtangente und einer Vielzahl von Anschlüssen geradezu automobil stranguliert worden. Und zum andern: Clown Pic, in der St.Galler Altstadt aufgewachsen, hatte zwar Strassentheater im Sinn, als er 1974 aus Paris zurückkam – aber nicht Verkehrsprotest oder den Kampf um erschwinglichen Wohnraum. Der Zirkus weckte das Bewusstsein dafür, was hier an Verlusten drohte, erst nach und nach, im Quartier selber und später auch in der übrigen Bevölkerung.

Autobahnkämpfe einst – und jetzt?

Film, Informationen von René Hornung zu den St.Galler Autobahnplänen einst und jetzt und Diskussion: 16. Mai, 19.30 Uhr, ExRex St.Gallen

Der Zirkus zahlte Parkplatzgeld

Rea Brändle  schildert, wie das Projekt mobilisierte: «Für sein Zirkusorchester etwa engagierte Pic den jungen Töbi Tobler (lange bevor dieser die Appenzeller Space Schöttl gründete). In Rorschach traf er sich mit dem Seminaristen Mädi Eugster (dem späteren Initianten des Circus-Theaters Rigolo) und engagierte ihn, samt der jüngeren Schwester Susi, als Trampolinspringer. Ein stadtbekannter Schwinger, Erich Ledergerber aus der gleichnamigen Weinhandlung, liess sich als Kraftmensch verpflichten. Marianne Fuchs bewarb sich mit ihrem Ballett. Der Künstler Kurt Wolf machte auf den Messerwerfer Albinowitsch aufmerksam und wurde dessen Assistent. Der Bildhauer Max Oertli empfahl sich als Dompteur mit einem Elefanten, den er aus fünfzig Brocki-Pelzmänteln fabrizierte. Die Splügenwirtin stellte sich als Nummerngirl zur Verfügung. So kam allmählich ein klassisches Repertoire zusammen, samt Schlangenbeschwörerinnen, Jongleur, Feuerschluckerin und Kunstradfahrer. Nicht zu vergessen die Tierschau, wie sie jeder Zirkus mit sich führt; sie war in einem Schopf an der Wallstrasse einquartiert. Statt Bestien gab es einen Geissbock und zahlreiche Insekten zu besichtigen.»

Was es auch gab: Verkehr. Erst in letzter Minute willigten die Stadtbehörden ein, die damals vielbefahrene Strasse für die Dauer der Vorführungen mit einem Fahrverbot zu belegen. Und für die Einnahmen, die der Stadt durch die Sperrung der paar Parkplätze auf dem Platz entgingen, hatten die Organisatoren gradezustehen.

Aus rund vierzigjähriger Distanz zieht Rea Brändle im Buch das Fazit, dass die verkehrspolitischen Auseinandersetzung sich seither zumindest ein Stück weit entkrampft hätten, unter anderem dank dem «Reglement für eine nachhaltige Verkehrsentwicklung», das im März 2010 vom Volk gutgeheissen wurde, als «ein klares Bekenntnis zur verstärkten Förderung des öffentlichen Verkehrs sowie des Fuss- und Veloverkehrs». «Und wer nach längerer Zeit wieder mal zum Pic-o-Pello-Plätzli kommt, wundert sich, wie gründlich reihum sämtliche Liegenschaften saniert worden sind. Nach den Umbauten hätten die Mieten sich verdreifacht, sie seien aber immer noch vergleichsweise günstig, ist zu erfahren. Die Künstlergemeinschaft am Mühlensteg hat sich aufgelöst, Hauptmieterin im Atelierhaus ist heute die freie Theatertruppe Parfin de siècle. Pic wohnt immer noch ganz in der Nähe.»

Und heute?

Lange her – aber unbedingt der Rede wert auch deshalb, weil sich die verkehrspolitische «Entkrampfung» bekanntlich in Grenzen hält. Wieder geht es heute um eine Autobahnlösung, welche die Stadt entzweit, baulich wie politisch. Zur Diskussion steht, neben der Erweiterung der Stadtautobahn um eine dritte Röhre, ein neuer Anschluss mit unterirdischem Kreisel und Ausfahrten beim Güterbahnhof. Wenige hundert Meter von der heutigen Ausfahrt St.Leonhard soll ein neues Anschlussbauwerke entstehen, Infos und Einschätzungen dazu hier oder hier.

Sinnvoll, wie die Autobahnbefürworter von Stadt, Kanton und Bund meinen? Oder grössenwahnsinnig und nicht mehr zeitgemäss, wie die Gegner kritisieren? Das ist die eine Frage. Und die andere heisst: Wäre eine Widerstandsbewegung wie damals auch heute wieder denkbar? Oder haben sich nicht nur die finanziellen Grössenordnungen geändert (damals sollte der Tunnel unter dem Damm 45 Millionen Franken kosten, heute wird der als «Bestvariante» bezeichnete Anschluss Güterbahnhof auf 1,14 Milliarden beziffert)? Sondern auch der Zeitgeist, der solche Spontanaktionen kaum noch kennt?

Am kommenden Donnerstag, 16. Mai (nicht am Mittwoch, wie im Maiheft von Saiten irrtümlich vermerkt) ist im ExRex einerseits der TV-Film von 1975 zu sehen – ein Zeitdokument erster Güte. Andrerseits gibt es Informationen von René Hornung zu den gebauten beziehungsweise nie realisierten städtischen Autobahnprojekten, samt anschliessender Diskussion.