Die finanzpolitische Debatte im Kanton St.Gallen ist traditionell schwierig. Das liegt in erster Linie auch daran, dass die Regionen teils weit auseinander liegen – geografisch wie mental. Es kommt nicht überall gut an, wenn die Kantonshauptstadt, die millionenschwere Zentrumslasten zu tragen hat, vom Kanton mehr Lastenausgleich verlangt. Die Kritik daran wird lauter, je weiter von der Stadt entfernt die Stimmen herkommen.
Die SVP trägt mit ihrem Vorgehen aber einen (nicht mehr ganz so) neuen Umgangston in die Debatte. Selbst bürgerliche Ratskolleg:innen mahnten an der Herbstsession an, jetzt nicht in ein Stadt-Bashing zu verfallen. Genützt hats bekanntlich wenig. Die SVP hat gegen eine moderate temporäre Erhöhung des Lastenausgleichs zugunsten der Stadt um 14,8 Millionen Franken (3,7 Millionen jährlich) das Ratsreferendum ergriffen. So gerechtfertigt gewisse Argumente gerade aus Sicht von weit von der Kantonshauptstadt entfernt liegenden Gemeinden sind, ist es doch auch ein durchschaubares Spiel. Die SVP bewirtschaftet unverhohlen den Stadt-Land-Graben und macht keine Anstalten, in irgendeiner Richtung Hand für einen fairen Ausgleich zu bieten.
Grundlage für die Debatte zum Finanzausgleichsgesetz im Kantonsrat waren der aktuelle Wirksamkeitsbericht zum Finanzausgleich und die Studie Zentrumslasten der Stadt St.Gallen – Aktualisierung für das Jahr 2021. Die Stadt hat Letztere beim Berner Beratungsunternehmen Ecoplan, das schon diverse solcher Studien für Schweizer Städte erstellte, in Auftrag gegeben. Damit sind die Resultate daraus aus Sicht der St.Galler SVP schon per se verdächtig. Wer eine wissenschaftliche Studie in Auftrag gibt, wird wohl auch dafür sorgen, dass die Resultate zu seinen Gunsten ausfallen, so die Mutmassung von rechts. Zudem sei der finanzielle Nutzen, den die Stadt aufgrund ihrer Zentrumslage und -funktion hat, in der Studie nicht abgebildet.
Saiten hat bei einem Mitverfasser der Ecoplan-Studie und einem HSG-Politologen unter anderem nachgefragt, was von diesen Vorwürfen zu halten sei, wie es um die wissenschaftliche Redlichkeit bei der Erhebung der städtischen Zentrumslasten stehe und wie man im Kanton aus dem finanzpolitischen Patt herausfinden könne.
Wie werden Zentrumslasten berechnet und wie exakt sind die Ergebnisse?
Zentrumslasten sind Leistungen eines Zentrums, von denen ausserkommunale Nutzer:innen profitieren, ohne diese voll abzugelten. Dazu zählen klassischerweise Freizeit- und Kulturangebote, aber auch öffentlicher und privater Verkehr sowie öffentliche Sicherheit etc. (Mehr zur Zusammensetzung der von Ecoplan errechneten Zentrumslasten der Stadt St.Gallen auf der Infodoppelseite 18/19) Bei den Kulturangeboten kann in der Regel über Mitglieder-, Abo- oder Ticketverkaufszahlen relativ genau eruiert werden, wie stark sie von Auswärtigen genutzt werden. In anderen Bereichen, zum Beispiel bei der Nutzung der öffentlichen Grünanlagen oder Toiletten, muss man auf Schätzungen abstellen, weil kaum jemand vor dem Klo wartet und die Person nach verrichtetem Geschäft befragt, woher sie komme respektive wo sie Steuern zahle. In solchen Fällen hat Ecoplan anhand der Pendlerströme und Bevölkerungszahlen eine rechnerische Annäherung vorgenommen. Dieser berechnete Nutzerschlüssel wurde aber nur ganz selten verwendet und nur da, wo es keine bessere Alternative gab.
Ist die Ecoplan-Studie überhaupt aussagekräftig?
Studien zu Zentrumslasten werden gemäss HSG-Regionalwissenschaftler Roland Scherer, der in den Bereichen Regionalökonomie und grenzüberschreitende Kooperation forscht, seit rund 40 Jahren durchgeführt. Ebenso lange gibt es wissenschaftliche Debatten daüber, wie die Nutzen- und Lastenbeziehungen zwischen Zentrum und Umland systematisch erfasst werden können. Das heisst auch, dass die Methodik immer genauer wird – bei aller Unschärfe, die es bei einzelnen Sachbereichen bei der Erfassung von Kosten und Nutzen geben kann.
Ist die Ecoplan-Studie politisch neutral und die Zentrumslast der Stadt St.Gallen nach methodisch nachvollziehbaren Kriterien berechnet?
Ecoplan bejaht diese Fragen selbstredend. Auch Roland Scherer geht davon aus, dass die Studie die Ansprüche auf Wissenschaftlichkeit erfüllt. So sind die Berechnungsmethoden und Unschärfen in gewissen Bereichen im Bericht transparent dargelegt und im Anhang sowie im studienübergreifenden Methodenbericht, der ebenfalls öffentlich zugänglich ist, noch weiter ausgeführt. Die Diskussionsgrundlage für eine wissenschaftliche Debatte ist also gegeben.
Hat Ecoplan die Zentrumsnutzen und Standortvorteile unterschlagen, wie die SVP im Kantonsparlament behauptet hat?
Diese Aussage habe er damals in der Kommission nicht gemacht, sie sei auch falsch, erwidert Ecoplan-Ökonom Simon Schranz. Zur Berechnung der Zentrumslasten hat Ecoplan nicht einfach die städtischen Kosten je Sachbereich nach Nutzer:innen aufgeschlüsselt, sondern die Abgeltungen, die die Stadt in gewissen Bereichen von Kantonen und Gemeinden bereits erhält (z.B. beim Theater), abgezogen. Auch für die Standortvorteile und die Zentrumsnutzen wurden pauschal 3 resp. 12 Millionen Franken abgezogen, um die Nettozentrumslasten zu berechnen. Übrig bleiben die nicht abgegoltenen Kosten, die der Stadt durch die Nutzung ihrer Angebote durch Auswärtige erwachsen. «Natürlich gibt es auch gewisse Vorteile für ein Zentrum wie St.Gallen, was Zugänglichkeit, Steuereinnahmen, Arbeitsplätze oder Image betrifft», erläutert Simon Schranz. Und ergänzt zwei Punkte: «Einerseits sind solche Steuervorteile über den kantonalen Ressourcenausgleich abgegolten.» Und andererseits seien die Vorteile, die die Stadt aufgrund ihrer zentralen Lage habe, auch zu relativieren: Viele der Angestellten in attraktiven Jobs in der Stadt wohnen anderswo und zahlen also auch anderswo Steuern. Und viele grosse Zentrumsinstitutionen wie die Hochschulen, das Theater, die Museen oder die Schwimmbäder bezahlen gar keine Steuern.
Im Fall von St.Gallen ist der Bereich privater Verkehr mit 16,7 Millionen Franken der grösste Posten bei den jährlich anfallenden Zentrumslasten. Warum wurden nicht abgegoltene öV-Kosten in der Studie nicht berücksichtigt?
«Den öffentlichen Verkehr haben wir weggelassen, weil es hierfür bereits einen Verteilschlüssel für die ungedeckten Kosten gibt», sagt Simon Schranz. Kanton und Gemeinden teilen sich die Kosten 50:50. Eine Studie der PubliXdata AG habe aber gezeigt, dass nach dem aktuell geltenden Schlüssel die Stadt St.Gallen viel mehr an die ungedeckten öV-Kosten zahlt als andere Gemeinden, weil die Abfahrtszahlen viel höher gewichtet wurden als die Bevölkerungszahlen: nämlich rund 230 Franken pro Einwohner:in pro Jahr im Vergleich etwa zu Wil (163 Franken), Rapperswil-Jona (148 Franken) oder Gossau (112 Franken). Aufs Jahr gerechnet und die Bevölkerungszahl mitberücksichtigt bedeutet dies, dass St.Gallen 9,8 Millionen Franken pro Jahr mehr bezahlt als die anderen Gemeinden im Durchschnitt. Allerdings relativiert sich diese Zahl ein wenig durch den Umstand, dass das öV-Angebot im Kanton in der Stadt St.Gallen am besten ausgebaut ist. Andere Kantone gewichten ihre Berechnungen der öV-Kosten zugunsten der Zentren anders. Auch haben in vielen anderen Kantonen die Gemeinden weit weniger als die Hälfte der ungedeckten öV-Kosten zu tragen.
Welche weiteren finanziellen Belastungen für die Stadt wurden nebst dem öV noch ausgeklammert aus der Studie?
Nicht berücksichtigt sind in der Ecoplan-Studie ausserdem soziodemografische Sonderlasten, in den Bereichen Familie und Jugend, finanzielle Sozialhilfe und stationäre Pflege. Diese zählen nicht zu den Zentrumslasten, weil sie nicht von Auswärtigen genutzt werden, und belaufen sich in der Stadt pro Jahr auf 31,7 Millionen Franken, wovon über den kantonalen Finanzausgleich rund 18 Millionen abgegolten werden. Die übrigen Kosten von 13,8 Millionen Franken bleiben ungedeckt und fallen somit zulasten der Stadt. Gemäss Ecoplan wird St.Gallen für seine Zentrumslasten in den anderen Bereichen im Finanz- und Lastenausgleich vom Kanton mit rund 16 Millionen Franken entschädigt, aufgrund der Anpassung an die Teuerung sind es derzeit gut 17 Millionen. Tatsächlich hat die Stadt aber 28,4 Millionen Franken Zentrumslasten. Ungedeckt bleiben zulasten der Stadt also nach wie vor rund 11 Millionen Franken. Rechnet man die Mehrbelastung im öV (9,8 Millionen) und bei den soziodemografischen Sonderlasten (13,8 Millionen) mit, resultieren – im Stil der Studienverfasser konservativ geschätzt – gut 30 Millionen Franken, die die Menschen in der Stadt für Leistungen, die auch von Externen genutzt werden, «zu viel» bezahlen.
Wie hoch sind die Zentrumslasten St.Gallens verglichen mit anderen Schweizer Städten?
Von der Grösse her vergleichbar wäre zum Beispiel Luzern. Luzern trägt gemäss Ecoplan Nettozentrumslasten (d.h. auch hier nach Abzug der Zentrumsnutzen und der Standortvorteile) von 26,6 Millionen Franken, also etwas weniger als St.Gallen (28,4 Millionen). Via kantonalen Infrastrukturlastenausgleich erhält Luzern bislang nur 8 Millionen Franken. Im Gegensatz zur Stadt St.Gallen sprudeln in der Stadt Luzern allerdings die Steuererträge, vor allem die Unternehmenssteuern schenken ein. Gegenüber dem Kanton hat die Stadt Luzern im Sommer argumentiert, dass sie einen Ausgleich von 17,7 Millionen für «sachlich» gerechtfertigt halte, sich aber im Sinne eines Kompromisses mit 10,6 zufrieden gebe. Der Kanton wollte allerdings am bisherigen Betrag (8 Millionen) festhalten, scheiterte Anfang Dezember damit aber im Kantonsparlament. Die Stadt, einige finanzschwache Gemeinden sowie der Verband der Luzerner Gemeinden (VLG) hatten sich im Vorfeld für die Kompromisslösung eingesetzt. Der Präsident der Finanzkommission, ein SVP-Mann, sprach von einem bislang «unterdotierten Infrastrukturlastenausgleich» und mit Bezug auf die gesamte Revision des kantonalen Finanzausgleichs von «vertrauensbildenden Massnahmen» gegenüber den finanzschwächeren Gemeinden.
Wäre es denkbar, dass auch regionale Zentren ihre Zentrumslasten geltend machen könnten?
Im Kanton Bern erhalten nebst der Hauptstadt auch die Agglomerationszentren Thun und Biel einen pauschalen Zentrumslastenausgleich, den beiden kleineren Städten Burgdorf und Langenthal werden die Zentrumslasten via Finanzausgleich teilweise abgegolten. In Zürich erhält nebst der Kantonshauptstadt auch Winterthur einen Zentrumslastenausgleich.
In St.Gallen ist der Zentrumslastenausgleich via Kanton, also vertikal, geregelt. Wäre es nicht sinnvoller, dass die Gemeinden ihre Lasten untereinander abgelten, also horizontal?
Die beiden von Saiten befragten Wissenschaftler wollen sich nicht in die Politik einmischen. Beide betonen, es gebe verschiedene Mittel und Wege, die Finanzpolitik zwischen Kanton und Gemeinden und vor allem auch zwischen den Gemeinden untereinander auszutarieren. Roland Scherer betont hier die zunehmende Wichtigkeit regionaler Kooperation. Gemeinden müssten nicht alles anbieten, denn bereits heute arbeiten 70 Prozent der Schweizer Bevölkerung nicht in ihrer Wohngemeinde. Deshalb sollten sie sich seiner Meinung nach vermehrt und umfassender in regionalen Pools zusammenschliessen – wie es heute punktuell und thematisch auch schon in St.Gallen geschehe (Spitexregionen, Regionale Kulturförderorganisation (RFO) etc.). In solchen Regionen könnten Lasten auch zielgenauer errechnet werden, das heisst, die Kosten noch besser nach dem Verursacherprinzip abgegolten werden. Solche interkommunalen Strukturen erlaubten auch kantonsübergreifende Lösungen, ohne die Kantone als Mittler zwischenschalten zu müssen. Im Fall St.Gallens mit der Ausserrhoder Nachbargemeinde Teufen sei das sicher ein interessanter Ansatz (mehr zur Haltung der Nachbargemeinden im Beitrag ab Seite 14).
Wie steht es um den Willen der St.Galler Gemeinden, einen besseren finanzpolitischen Ausgleich untereinander zu schaffen?
Roland Scherer sagt dazu: «Wir beobachten in der Schweiz allgemein, aber auch im europäischen Raum, dass die Kirchtürme und Grenzzäune wieder höher werden.» Gemeint ist damit zum Beispiel die abnehmende Bereitschaft vieler Gemeinden, einmal ein Projekt einer anderen Gemeinde mitzutragen, ohne direkt einen eigenen Nutzen daraus ziehen zu können. Früher sei die Bereitschaft dazu grösser gewesen, weil man auch darauf vertrauen konnte, dass man dafür später bei eigenen Projekten auf den Goodwill der andern zählen kann. Eine Ursache für diese neue Selbstbezogenheit sieht Scherer in globalen Entwicklungen, beispielsweise der politischen Debattenkultur, die aus den USA langsam auch nach Europa überschwappe. Der Ton und das gegenseitige Misstrauen verschärften sich. Umso wichtiger sei es für die Gemeinden, nun gemeinsam an den Tisch zu sitzen.