, 3. Juni 2014
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Zeitvorsorge: Streitbares St.Galler Pilotprojekt

St.Gallen will Pionierarbeit in der Altenbetreuung leisten. Nach zehnmonatiger Vorbereitungs- und Testphase startet das erste kommunale Zeitvorsorgesystem der Schweiz. Die Erwartungen sind gross, aber es gibt auch noch offene Fragen.

 

So funktioniert das Zeitvorsorgesystem der Stadt St.Gallen: Rüstige Rentnerinnen und Rentner betreuen und unterstützen alte Menschen, die hilfsbedürftig sind. Die Zeit, die sie dafür aufwenden, wird ihnen auf einem Konto gutgeschrieben. Sind sie selber einmal hilfsbedürftig, erhalten sie im Rahmen der angesparten Zeitgutschriften von anderen Zeitvorsorgenden Unterstützung und Betreuung. Das kann nach kurzer oder auch langer Zeit (in 3 bis 30 Jahren) der Fall sein. Mit dem Zeitvorsorgesystem, der vierten Säule der Altersvorsorge, soll die dritte Generation dazu animiert werden, sich für die vierte zu engagieren. Ausgelöst worden ist das Zeitvorsorge-Modell durch das starke Wachstum der Altersgruppe 80plus und den absehbaren Personalmangel in Pflege und Betreuung.

Freiwilligenarbeit tangiert

Im Unterschied zur Idee ist die Umsetzung des Zeitvorsorgesystems nicht einfach: Viele Menschen und Organisationen kommen in Kontakt zueinander, viele technische Fragen  bedürfen einer Lösung. Gemeinsam mit Testorganisationen wurden in den vergangenen Monaten in St. Gallen Prozesse definiert, Merkblätter entworfen und eine Website aufgeschaltet.

Ähnliche Zeitvorsorgesysteme wie das St.Galler-Projekt gibt es bereits in Japan, in den USA, in Österreich und in Deutschland. Obschon die Modelle noch nicht über längere Zeit erprobt wurden, gibt es bereits Kritik: Freiwilligenarbeit und die Nachbarschaftshilfe würden durch das Projekt tangiert. Diese traditionellen und vielerorts verankerten Formen gesellschaftlicher Selbsthilfe basieren im Gegensatz zur Zeitvorsorge nicht auf der Erbringung von Gegenleistungen; es werden keine Guthaben angehäuft, die irgendwann abgegolten werden müssen. Zeitvorsorge hingegen setzt auf Monetarisierung und könnte laut den Kritikern zur Folge haben, dass niemand mehr ohne Anspruch auf eine Gegenleistung etwas zugunsten seiner Mitmenschen tun will.

Medienkonferenz im St. Galler Rathaus. Von rechts nach links: Geschäftsführerin Prisma Muggli, Stadtrat Nina Cozzio und Stiftungs-Präsident Reinhold Harringer.

Medienkonferenz im St.Galler Rathaus. V. r. n. l.: Geschäftsführerin Priska Muggli, Stadtrat Nino Cozzio und Stiftungs-Präsident Reinhold Harringer.

Auch Zeit ist eine Währung

Der Direktor für Soziales und Sicherheit, Stadtrat Nino Cozzio, meinte an der Medienvorstellung des St.Galler Pilotprojekts: «Aus politischer Sicht geht es bei der Zeitvorsorge vor allem darum, etwas zu wagen.» Die Stadt könne die Folgen der demografischen Alterung nicht ändern und auch nicht beeinflussen, aber sie könne handeln, und das tue sie.

Zur Monetarisierung meint der CVP-Politiker, dass viele Bereiche gesellschaftlicher Arbeit darunter fielen. Es gebe aber weiterhin auch in St.Gallen Menschen, die klassische Freiwilligenarbeit leisteten und dafür keine Gegenleistung entgegennehmen wollten, also gegen die Monetarisierung seien.

Reinhold Harringer, Präsident der eigens in St.Gallen gegründeten Stiftung Zeitvorsorge, bestreitet die Monetarisierung durch das St.Galler Modell. «Schliesslich geht es hier nicht um Geld», streicht er heraus – trotzdem, Zeit ist in diesem Fall eine Währungsform. Natürlich unterliegt sie keinen konjunkturellen und inflationären Schwankungen wie etwa Geld. Auch sind die angesparten Stunden in zehn oder 20 Jahren immer noch die gleichen Stunden wie heute. Was aber ins Gewicht fällt, ist die Tatsache, dass die Leistung gegenüber den Mitmenschen nicht mehr selbstlos erfolgt und damit durchaus auf die Motivation der Helfenden wirken kann, nach dem Motto: Ich tue etwas, also habe ich auch etwas zugute.

Nicht familientauglich

Innerfamiliäre Betagtenbetreuung wird vom Zeitvorsorgesystem der Stadt St.Gallen nicht berücksichtigt. Ist in einer Ehe beispielsweise der Partner oder die Partnerin an Demenz erkrankt, wird die Betreuung durch den Partner oder die Partnerin nicht als Zeitvorsorge gutgeschrieben. Man wolle nicht zu stark in die Familienstrukturen eingreifen, sagt dazu Stadtrat Cozzio. Dieser Ausschluss eines Teils der Bevölkerung muss als schwerer Mangel des Zeitvorsorgesystems betrachtet werden. Es bleibt nur zu hoffen, dass er dereinst behoben werden kann, weil die innerfamiliäre Betreuung hilfsbedürftiger Betagter sicherlich insgesamt nicht unwesentlich ist.

Der Fokus der Einsätze Zeitvorsorgender liegt im häuslichen Umfeld: gemeinsames Einkaufen, Kochen, Essen, Fahrten zum Arzt oder Spaziergänge. Pflegerische Leistungen werden nicht von Zeitvorsorgenden, sondern von den entsprechenden professionellen Institutionen erbracht.

Die Stadt St.Gallen garantiert für die angesparten Zeitguthaben. Falls für die heutigen Zeitvorsorgenden künftig zu wenig neue oder gar keine Zeitvorsorgenden mehr gewonnen werden können, wird die Stadt für die Guthaben Realersatz leisten. Dafür steht eine Summe von 3,4 Millionen Franken zur Verfügung.

Kontroverse Reaktionen

Priska Muggli, die Geschäftsführerin der Stiftung Zeitvorsorge, berichtet an der Medienkonferenz, dass dem St.Galler Modell kontrovers und sehr individuell begegnet werde: «Die Haltungen reichen von kompletter Ablehnung gegenüber Vergütungen jeglicher Art innerhalb eines sozialen Engagements bis hin zur Befürwortung, dass soziales Engagement diese Form der Anerkennung benötigt.»

Das St.Galler Stadtparlament hat im Sommer 2012 grünes Licht für den Aufbau des Zeitvorsorgesystems gegeben. In der Folge ist die Stiftung gegründet worden, welcher neben der Stadt und dem Amt für Soziales des Kantons auch die lokalen Kirchgemeinden, die Frauenzentrale sowie die Kantonalverbände von Pro Senectute, Spitex, und Rotem Kreuz angehören. Auch das Bundesamt für Sozialversicherungen unterstützt die St.Galler Initiative und begleitet sie wissenschaftlich. Interesse am St.Galler Modell hat auch der Kanton Aargau bekundet. Im Kantonsparlament ist eine Motion hängig.

Wer Zeitversorger oder Zeitversorgerin werden möchte, muss in St.Gallen wohnen, pensioniert oder über 60 Jahre alt sein. Wer diese Anforderungen erfüllt, kann sich an die Geschäftsstelle der Zeitvorsorge (Telefon 071 227 07 67, E-Mail: info@zeitvorsorge.ch) wenden.
Zeitvorsorgende können maximal ein Zeitguthaben von 750 Stunden ansparen.

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