, 24. Januar 2017
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Zeitreise im Kunstmuseum

13’000 Quadratmeter sind es nicht, wie im künftigen Kunsthaus Zürich. Aber immerhin fast 2400 – und damit das Doppelte der vorherigen Ausstellungsfläche. Was das Kunstmuseum St.Gallen damit macht, ist jetzt in der neuen Sammlungsschau «Endlich!» zu sehen.

Bilder: Daniel Ammann

Plötzlich diese Fülle. An irgendetwas muss man sich halten, bei der Menge der «alten Schinken». Irgendwo bleibt man, zum Glück, hängen. Alles seriös zu besichtigen und sich ein Urteil zu bilden, wäre unmöglich. Rund hundert Bilder und ein paar Skulpturen versammelt die Ausstellung «Endlich – Glanzlichter der Sammlung» im Kunstmuseum St.Gallen. Sie nimmt das ganze Erdgeschoss in Beschlag, als Dauerausstellung, wie sie dank dem Auszug des Naturmuseums aus dem Kunklerbau erstmals möglich geworden ist. Man kann also wiederkommen.

Besuch bei Keller und Högger

Zuhinterst bin ich hängen geblieben: bei Gottfried Keller. Der Dichter war, bevor er Dichter wurde, Maler oder in seinen eigenen Worten: «Landschafter». Ein Beispiel davon hängt in der Sammlung: Ausblick vom Hottingerberg ins Limmattal, 1842 entstanden, ein Bild, das zwei föhrenartige Riesenbäume zeigt, eine arkadische Landschaft, leicht südländisch angehaucht, man hätte sie gern in der eigenen Stube.

An der Wand daneben dreimal Spitzweg, in der Mitte sein grossartiger Eremit. Und wieder ums Eck Watzmann von Andreas Renatus Högger, dem legendenumrankten St.Galler Maler und Erfinder (1808-1854), unter dessen Name (als Pseudonym) sich der frühere Kunstmuseums-Konservator Rudolf Hanhart einst allerhand Spuk hat einfallen lassen.

Eine leise Verneigung vor Hanhart passt gut zum Anlass – er hatte das Museum durch die «museumslosen» Jahre (1970-1987) vor dem Umbau durchgetragen und den traditionellen Kunsthorizont unter anderem mit dem Einbezug der Bauernmalerei entscheidend erweitert. Auch davon zeigt die jetzige Ausstellung einige Beispiele.

Hodler bewundern oder links liegen lassen: Das Lied aus der Ferne.

Keller und Högger sind Teil der «Schweizer Fraktion» im Museum, deren zeitlichen Abschluss die Giacomettis und Hodler bilden. Von letzterem ist das symbolistische Zentralwerk Das Lied aus der Ferne von 1906 zu sehen, daneben auch der Thunersee mit Stockhornkette: eines von zwei Bildern mit langer juristischer Raubkunst-Vorgeschichte.

Im Fall Hodler streiten sich die Charlotte-und-Simon-Frick-Stiftung und der Gerta Silberberg Trust um das Erbe. Im Fall der Odalisque von Camille Corot wurde eine einvernehmliche Lösung mit den früheren, von den Nazis ihrer Bilder beraubten Besitzern gefunden: Es gehört heute den Kunstmuseen von Basel und St.Gallen gemeinsam. Aktuell hängt es hier.

Die Puzzlesteine der Sammlung

Geschichten aus der Geschichte der Sammlung wie diese gibt es zahllose. Einige waren an der Vernissage zu hören von Direktor Roland Wäspe und dem Kurator der Altmeister, Matthias Wohlgemuth. So der Preis des unbestrittenen Stars der Sammlung, Monets Palazzo Contarini: Kunsthändler Fritz Nathan hatte ihn 1950 für gerade einmal 30’000 Franken nach St.Gallen vermittelt. Oder die Querelen um den Ankauf eines Gemäldes von Anselm Feuerbach im 19. Jahrhundert, die fast zwei Jahrzehnte dauerten.

Oder die Anekdote um die Sammlung von Marie Müller-Guarneri: Die Erblasserin hatte es im Testament versäumt, zu deklarieren, ob die Stadt oder die Ortsbürgergemeinde die Bilder erben sollte. Eine Stiftung brachte schliesslich die Lösung, sie ist seither eine der Säulen der Anschaffungspolitik des Museums.

Federico Baroccis Heiliger Sebastian (links), der einzige Barocci in einem Schweizer Museum.

Von der Marienkrönung (um 1500) bis zur Zeitenwende 1900 führt der Rundgang, dazwischen breiten sich die Landschaften, Stilleben und Porträts der niederländischen Altmeister aus. Es folgen Romantik und Realismus, deutscher und französischer Impressionismus mit den «St.Galler Sisleys», mit zwei gewaltigen Naturschauspielen von Courbet, mit Monet und anderen, und schliesslich der Schweizer Schwerpunkt in den hinteren, neu hinzugewonnenen Räumen. Etwa um 1900 bricht die Ausstellung ab; zu einem späteren Zeitpunkt soll das 20. Jahrhundert ebenfalls seinen Platz erhalten.

Endlich – Glanzlichter der Sammlung

Tour du Patron: Mi 25. Januar, 18.30 Uhr
400 Jahre in 60 Minuten: So 5. Februar 13 Uhr
Kunstmuseum St.Gallen

Mit der neuen Dauerausstellung kommen kunstgeschichtlich Interessierte «endlich» auf ihre Rechnung. Sie bietet einen Streifzug durch vier Jahrhunderte europäischer Kunst. Es fehlen, erklärtermassen, noch die Bezüge zur Gegenwart. Wer sich Fragen nach der Relevanz dieser vergangenen Zeiten für heute stellt, wer in der Schau mehr als eine Ansammlung staunenswerter Malkunst von einst sehen will: Der nimmt sich am besten viel Zeit. Oder bleibt hier und dort hängen. Oder besucht eine Führung (wie sie zum Beispiel diesen Mittwoch angeboten wird).

Bürgersinn, 140 Jahre danach

Das Kunstmuseum wurde bei seiner Errichtung 1877 gefeiert als «Manifestation des Bürgersinns». In seiner Vernissagenrede wünschte sich Roland Wäspe eine neuerliche solche Manifestation: für den Umbau des Kunklerbaus. Das Projekt dazu ist vorhanden, für die Finanzierung braucht es den politischen Willen und Überzeugungsarbeit bei der Bevölkerung. Daran erinnerte Stadtpräsident Thomas Scheitlin: Das sei der letzte noch nötige Schritt für die Vollendung des Plans «3 Museen – 3 Häuser».

Und es sei entscheidend für die Positionierung St.Gallens als Kunststadt. St.Gallen stehe im Wettbewerb mit anderen Städten um die besten Arbeitskräfte und Unternehmungen – diese orientierten sich an der Attraktivität einer Stadt, und dafür wiederum sei ein ausgezeichnetes Kulturangebot entscheidend.

Dass Stadt und Staat dafür genug Geld brauchen, und dass am 12. Februar ein Nein zur USR III dazu beitragen könnte, den Staat nicht zugunsten der Wirtschaft weiter zu schwächen: Das sagte Scheitlin nicht.

Mehr zum Kunstmuseum, zur Sammlung, zum geplanten Umbau und zu den Erwartungen der Ostschweizer Kunstszene: im Themenschwerpunkt des Februarhefts von Saiten.

Marmornymphe mit Besucherinnen, im Hintergrund Spitzwegs Eremit.

 

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