Zeitenwenden, theatralisch

Der Sommer ist die hohe Zeit der freien Theaterproduktionen. Glücklich, wer dabei in diesem nassen Jahr nicht auf Openair setzt, sondern ein Dach über den Brettern hat, die die Welt bedeuten. Bei den beiden hier vorgestellten Stücken ist das der Fall.
Der Baron und die Aufklärung
Freies Theater zum Ersten, Zeitenwende zum Ersten: «Barone Utopia». Tommaso Francesco Maria de Bassus, Bündner Adliger und Aufklärer, will im ausgehenden 18. Jahrhundert von seinem Palazzo Massella in Poschiavo aus die Welt verändern und lässt sich unter anderem mit dem Orden der Illuminati ein. Heute ist der Palazzo ein Hotel, und dort setzt der St.Galler Regisseur Oliver Kühn von Theater Jetzt die Lebensgeschichte des Barons (gespielt von Gilles Tschudy) in Szene. Zur Seite steht ihm ein Laienensemble mit Spielern aus dem Tal, aus Norditalien und aus dem Unterland. Trägerschaft ist die «Filodrammatica Poschiavina», mit der Kühn schon 2006, in der Produktion «Bernina Express 65», gearbeitet hat.
Das neue Stück (aus ihm stammen die Szenenbilder) hatte Ende Juni Premiere und wird jetzt ab 15. August wieder gespielt. Was Oliver Kühn am Stoff interessiert? Zum einen ist es die Figur des Barons, die er nicht mit dem ganzen historischen «Ballast» auf die Bühne bringen will, sondern mit Fragen wie: Wie macht, wie modelliert einer seine Karriere? Was ist das überhaupt, eine Karriere? Hat sie ein Eigenleben, hat sie eine Moral? Kühn lacht: «Bei uns ist die Karriere eine rechte Schlampe geworden….». Zum andern interessiert den Regisseur der Umbruch Ende des 18. Jahrhunderts: «Es ist eine Epoche, in der die Welt nicht mehr wusste, wie es weitergehen soll.» Vieles wurde neu gedacht, neu organisiert, Aufklärung und Scharlatanerie liegen nahe beieinander – eine «gesellschaftliche Freakshow», sagt der Regisseur und schlägt daraus seine theatralischen Funken.
Tucholsky, Kraus & Co.
Freies Theater zum Zweiten, Zeitenwende zum Zweiten – diesmal ganz nah: Parfin de Siècle widmet seine traditionelle Sommerproduktion im Botanischen Garten St.Gallen den 1930-Jahren. Jazz und Swing, Depression und aufkommender Faschismus, Galgenhumor und Ängste: «Bittersüsse Schokolade» heisst das Programm mit Liedern, Fakten und Texten von Tucholsky, Horváth, Kraus, Ringelnatz und anderen. Arnim Halter und Regine Weingart stellen wiederum mit der Autorin Ruth Erat die Texte zusammen. Premiere ist heute Mittwoch abend, es spielt das bewährte Parfin-Team. Und von ihm sind, laut Vorankündigung, auch Seitenblicke und -hiebe vom Damals auf die heutige Zeitenwende, auf aktuelle Umbrüche zwischen Immobilienblase und Rechtspopulismus zu erwarten.
Barone Utopia: 15. bis 31. August, Hotel Albrici Poschiavo, theaterjetzt.ch
Bittersüsse Schokolade: 13. bis 30. August, Botanischer Garten St.Gallen, parfindesiecle.ch