Zeit für eine Kunstquote?
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Das aktuelle Ausstellungsprogramm im Kunstmuseum St.Gallen ist symptomatisch: drei Einzelausstellungen, allesamt männlich (Alex Hanimann, Albert Oehlen, Keith Sonnier), dazu kommen die wunderbaren, aber ebenfalls schwergewichtig männlichen «Altmeister-Geschichten» – mit immerhin für jene Epoche bemerkenswerten Ausnahmen, auf die Nadia Veronese, Kuratorin am Museum, hinweist: «In der Altmeister-Ausstellung zeigen wir zwei weibliche Positionen: Rachel Ruysch und Maria Sibylla Merian.»
Im Kunst-Museumsbetrieb ist St.Gallen mit seiner Männerdominanz kein Einzel-, sondern der Regelfall. Das zeigt jetzt eine Studie, die 125 Schweizer Kunstmuseen und ihr Programm über die letzten zehn Jahre abgefragt hat. 80 gaben Antwort. Die Daten eruiert haben swissinfo.ch und Radio Télévision Suisse (RTS), eine ausführliche Zusammenfassung der Ergebnisse findet sich auf infosperber.ch.
Drei von vier sind Männer
Die Resultate sind einigermassen niederschmetternd. Gerade einmal ein Viertel (26 Prozent) aller Einzelausstellungen waren Frauen gewidmet; bei den Gruppenausstellungen lag der Anteil mit 31 Prozent etwas höher, aber immer noch weit unter der Hälfte.
Dabei gibt es grosse Unterschiede zwischen den Institutionen. Am meisten Frauen (81 Prozent) ausgestellt hat das Musée Alexis Forel in Morges im Kanton Waadt. Der dortige Direktor Yvan Schwab sagt laut Swissinfo, er praktiziere keine Frauenquote, aber berücksichtige die Arbeit von Frauen besonders. Auf den nächsten Plätzen mit allerdings deutlich weniger Frauenanteil (55 bis 51 Prozent) folgen das Museum Nairs, die Kunsthalle Basel, das Centre Pasquart Biel und das Kunsthaus Grenchen.
Auf der anderen Seite der Skala, mit null Prozent Frauen-Einzelausstellungen, stehen zwei Genfer und zwei Tessiner Museen und das Museum Oskar Reinhart Winterthur. Nicht viel besser sind die Quoten in den meistbesuchten Museen: 20 Prozent in der Fondation Beyeler, 15 Prozent im Kunsthaus Zürich oder 11 Prozent im Musée d’Art et d’Histoire in Genf.
Gesucht: Frauen.
Das Historische und Völkerkundemuseum St.Gallen plant für 2020 eine Ausstellung über Ostschweizer Künstlerinnen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Darunter befinden sich die St.Galler Bürgerin Marie Louise Bion (1858-1939), die 1891 das Mädchen mit Sonnenhut gemalt hat, die in Herisau geborene Ida Baumann (1864-1932) oder die St.Gallerin Elly Bernet-Studer (1875-1950). Leider sei bis anhin nur wenig über diese Malerinnen bekannt. Das Museum ruft deshalb die Bevölkerung zur Mitarbeit auf.
Kunsthaus-Mediensprecher Björn Quellenberg sagt gegenüber Swissinfo: «Unser Museum spiegelt den Kunstkanon der vergangenen 600 Jahre – da gab es eben viel mehr Männer. Bei Ausstellungen zur Gegenwartskunst setzen wir aber auf ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis.» Und Nina Zimmer, Direktorin am Kunstmuseum Bern, hat seit ihrer Wahl 2016 viele Frauen ins Programm gebracht und sagt: «Wir kaufen auch bewusst Kunst von Frauen für die Sammlung – wir müssen aufholen.»
Immerhin ein Drittel im St.Galler Kunstmuseum
In der Ostschweiz ist das Bild auf den ersten Blick ähnlich, auf den zweiten differenzierter. Das Kunstmuseum St.Gallen ist aktuell zwar männerlastig, über die letzten zehn Jahre hinweg gab es aber immerhin 21 Einzelpräsentation von Künstlerinnen gegenüber 38 mit männlichen Kollegen – in jüngster Zeit zum Beispiel von Maria Lassnig, Caro Niederer, Nina Canell oder Judy Millar. Über die Jahre waren die Frauen «bloss» mit einem Drittel zu zwei Dritteln in der Minderheit.
Das Thurgauer Kunstmuseum in Ittingen präsentiert aktuell die Künstlerin Germaine Winterberg und ihr «Universum». Diesen Sonntag zu Ende geht zudem die Hommage an Helen Dahm. Über die Jahre war die Bilanz allerdings negativ: weniger als ein Fünftel der Einzelausstellungen galten Frauen. Das Kunstmuseum Appenzell steht noch etwas schlechter da. Alle drei kantonalen Kunstinstitutionen haben auch, dies nebenbei, langjährig tätige Direktoren an der Spitze.
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Germaine Winterberg in der Ausstellung «L’univers de Germaine» im Kunstmuseum Thurgau. (Bild: Ismael Lorenzo)
Die St.Galler Kunsthalle zeigte bis 4. August die Künstlerin Ella Litwitz, darum herum dominieren aber auch hier Künstlermänner: Mit rund 70 zu 30 Prozent seit 2008 waren sie im Vorteil. Dieselbe (Dis-)Proportion zeigt die Ausstellungsbilanz im Kunstzeughaus in Rapperswil; seit Anfang Jahr ist dort allerdings ein reines Frauenteam am Werk, und mit «îles – elles» ist eben eine thematische Schau dreier Künstlerinnen (Selina Baumann, Patricia Bucher und Chloé Délarue) zu Ende gegangen.
Woran liegt das? Gibt es Hoffnung, dass sich an dieser Lage etwas ändert, wenn die Leitung weiblich ist? Wäre eine Frauenquote sinnvoll? Und umgekehrt: Sollen solche Gender-Überlegungen eben gerade keine Rolle spielen, weil es ja um Qualität und nicht um Quoten gehen soll?
Nadia Veronese: «Gleichberechtigung ist grossgeschrieben»
Nadia Veronese, Kuratorin am Kunstmuseum St.Gallen seit 2012, differenziert: Sie habe in dieser Zeit mehrheitlich Werke von Künstlerinnen gezeigt: unter anderem Alicja Kwade, Annaïk Lou Pitteloud, Loredana Sperini, Magali Reus oder Nina Canell. «Mein kuratorisches Konzept fokussiert auf aktuelle Tendenzen wie den Einsatz von komplexen Techniken und Materialien wie bei Magali Reus oder kunst- und kulturhistorische Referenzen wie bei Loredana Sperini und Iman Issa.»
Das Kunstmuseum St.Gallen lege den Schwerpunkt einerseits auf Künstlerinnen und Künstler, die erstmals in der Schweiz eine Einzelausstellung erhalten, zum Beispiel Nina Canell, andererseits auf solche, deren Arbeit über Jahre verfolgt werde und die dementsprechend auch in der Sammlung vertreten sind, zum Beispiel Judy Millar – dies neben den thematischen Sammlungsausstellungen und den Präsentationen in der Lokremise.
Und die aktuelle Dominanz der Männer? «Ab Dezember 2019 werde ich in Folge die Arbeiten der Künstlerinnen Iman Issa und Siobhán Hapaska in St.Gallen zeigen. Und weitere Frauen sind im Ausstellungsprogramm 2020 vorgesehen», sagt Veronese. Die Programmplanung hänge von vielen Faktoren ab: Kooperationen, Verfügbarkeit von Kunstwerken, die Agenda der Kunstschaffenden, aber auch Schenkungen. So werde Alex Hanimanns Ausstellung nach St.Gallen in Esslingen und Dunkerque zu sehen sein. Keith Sonniers Präsentation wiederum basiere auf Videoarbeiten, die als Schenkung in die Sammlung eingehen werden.
Ihr Fazit: «Das Kuratorenteam mit Lorenzo Benedetti, Nadia Veronese und Matthias Wohlgemuth und Direktor Roland Wäspe ist sehr darauf bedacht, Künstlerinnen und Künstler gleichberechtigt zu zeigen. Ausschlaggebend ist die Qualität der Arbeit sowie eine Sensibilisierung für die Förderung von Künstlerinnen. Das Kunstmuseum unterstützt, fördert und bettet Werke von Künstlerinnen in einen kunsthistorischen Kontext ein (etwa in der Gruppenausstellung Menschenzellen). Gleichberechtigung ist im aktuellen und zukünftigen Diskurs im Kunstmuseum grossgeschrieben.»
Céline Gaillard: «Eine Quote sollte nicht nötig sein»
Für das Kunstzeughaus Rapperswil-Jona weist Co-Direktorin Céline Gaillard darauf hin, dass ein beträchtlicher Teil der Museen ältere Kunst bis hin zur Moderne zeige – «da waren Frauen viel weniger vertreten, genauso wie in anderen Berufen. Die Quote ist daher allein in der Gegenwartskunst unverhältnismässig – und muss hier natürlich unbedingt thematisiert werden.»
Dass im Kunstzeughaus diese Balance nicht immer vorhanden war, könnte mit der Ausrichtung nach der Sammlung von Peter und Elisabeth Bosshard zu tun haben: Die Schweizer Kunstszene der letzten 50 Jahre wiederspiegelnd, umfasse auch sie mehr männliche als weibliche Kunstschaffende. «Grundsätzlich bin ich aber der Meinung, dass die Qualität im Vordergrund stehen sollte – und da es mindestens so viele spannende Künstlerinnen wie Künstler in der gegenwärtigen Schweizer Kunstszene gibt, sollte eine Quote gar nicht vonnöten sein», sagt Céline Gaillard.
Ihr und ihrer Kollegin Simone Kobler sei die Ausgeglichenheit der Geschlechter sehr wichtig. «So hat es uns gefreut, dass wir gleichzeitig zur Ausstellung ‹îles – elles›, die drei Künstlerinnen gewidmet war, im ‹Seitenwagen› mit Aramis Navarro einen Künstler zeigen konnten. Und genauso haben wir uns gefreut, dass auf Navarro mit Jessica Ammann nun eine junge Künstlerin folgt – allerdings sind das für uns ganz klar nicht die wichtigen Kriterien bei der Gestaltung des Ausstellungsprogramms: Dass am Ende einer Zeitperiode die Anzahl ausgestellter Künstlerinnen und Künstler in Balance ist, ist aber eindeutig ein Wunsch von uns.» (Mehr zu den aktuellen Ausstellungen im Kunstzeughaus im Septemberheft von Saiten)
Maren Brauner: Für familienfreundliche Förderung
Maren Brauner, Kuratorin an der Kunst Halle Sankt Gallen, sagt zum «Warum» dieses Missverhältnisses: «Ein Grund ist sicherlich, dass in den Sammlungen, aus denen heraus die Ausstellungen gemacht werden, mehr Künstler als Künstlerinnen vertreten sind. Natürlich hat es auch viel mit den Interessen und Schwerpunkten der Direktorinnen und Direktoren zu tun, für die ich nicht sprechen kann. Mir kommt aber auch die schwierige Vereinbarkeit von Familie und Beruf in den Sinn, die ja leider Frauen (nicht nur in der Kunst) mehr als Männer betrifft. Zum Beispiel sind Residencies häufig nicht an Künstlerinnen mit Kindern gerichtet. Es gibt ein paar erfreuliche Ausnahmen und auch ein interessantes Projekt von Lenka Clayton (Residency in Motherhood).» Künstlerinnen auf solche Weise zu unterstützen, wäre nützlicher als Quoten.
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2018 in der Kunst Halle Sankt Gallen: Die Gruppenausstellung «No Fear of Fainting in a Gym» mit Louisa Gagliardi, Ebecho Muslimova, Tabita Rezaire und Anna Uddenberg. (Bild: Kunst Halle)
Programmentscheide fallen nach Maren Brauners Überzeugung «nicht gegen Künstlerinnen, sondern für interessante Kunst – ungeachtet, welchem Geschlecht die Kunstschaffenden angehören». Im Zentrum stehe, ob eine künstlerische Arbeit, ob Themen, Medium oder Material interessant und relevant sind. «Nichtsdestotrotz: Wo es möglich ist und nicht auf Kosten des Inhaltes geht, auf ein ausgeglichenes Verhältnis bei den Geschlechtern zu achten, das sollte selbstverständlich sein.»
Und was sagt der Saiten-Kalender?
Im nächste Woche erscheinenden Septemberheft sind knapp 80 Ausstellungen mit Bildender Kunst in der Ostschweiz und dem angrenzenden Ausland verzeichnet – eine imposante Zahl. 32 können als Gruppen- oder Sammelausstellungen nicht eindeutig einem Geschlecht zugeordnet werden. 28 Einzelausstellungen gelten Männern, 18 Frauen. Es gibt also (noch) keine komplette Gleichberechtigung. Aber auch keinen Anlass, eine Kunstquote zu fordern.