«Zeit für eine humanitäre Wende»

Nach 50 Jahren in der Schweiz sollte ein St.Galler Secondo-Paar nach Italien ausgeschafft werden. Jetzt hat der Kanton entschieden: Die beiden können bleiben - ein Erfolg auch für die im Frühling lancierte Petition gegen Ausschaffung.
Von  Peter Surber

Das St.Galler Sicherheits- und Justizdepartement hat beschlossen, dem Wiedererwägungsgesuch des Ehepaars stattzugeben und dieses nicht nach Italien auszuschaffen. Der Fall hatte hohe Wellen geworfen. Das Paar, das in St.Gallen aufgewachsen ist und nie in Italien gelebt hat, sollte nach 50 Jahren in der Schweiz ausgeschafft werden. Wegen ihrer Drogenabhängigkeit waren die beiden mehrmals straffällig geworden. Den Ausschaffungsbefehl begründete das Bundesgericht damit, dass sie «therapieresistent» seien und eine «schwere Gefährdung» der öffentlichen Ordnung darstellten. Das Gericht berief sich dabei auf die Ausschaffungsinitiative der SVP, die im November 2010 vom Volk angenommen worden war, jedoch noch nicht umgesetzt wurde.

Als Reaktion auf den Bundesgerichtsentscheid hatte sich auf Initiative der Journalistin Bettina Dyttrich ein Komitee gegen Ausschaffung formiert und eine Petition lanciert, die innert einem Monat von 2283 Personen unterzeichnet wurde. Anfang April 2014 wurde sie dem St.Galler Justizdirektor Fredy Fässler übergeben (Bild oben). Der Rechtsvertreter des Paars, der St. Galler SP-Ständerat Paul Rechsteiner, hat den Fall zudem an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg weitergezogen.

Jetzt hat das St.Galler Sicherheits- und Justizdepartement dem Wiedererwägungsgesuch des Paars stattgegeben. Hans-Rudolf Arta, Generalsekretär des Departements, erläuterte dazu, man anerkenne damit die positive Entwicklung und soziale Stabilisierung des Paars seit dem ersten Behördenentscheid, der bereits über drei Jahre zurückliegt. Das Paar habe nochmals eine «letzte Chance» erhalten. Der Entscheid ist unter der Führung der St. Galler Regierungspräsidentin Heidi Hanselmann gefällt worden. Fredy Fässler, Vorsteher der Sicherheits- und Justizdepartements, war als ehemaliger Anwalt des Paars in den Ausstand getreten.

In den Augen des Komitees setzt der Kanton St.Gallen damit ein «klares Signal für eine menschenwürdige Migrationspolitik». Die Petition habe deutlich zum Ausdruck gebracht, dass ein grosser Teil der St.Galler Bevölkerung für eine humanitäre und fortschrittliche Migrationspolitik einstehe. «Der Entscheid zeigt, dass sich der Widerstand aus der Bevölkerung im konkreten Einzelfall lohnt: Die lokalen und kantonalen Behörden haben immer einen Handlungsspielraum, den sie zugunsten von Migranten und Flüchtlingen nutzen können. Im Kanton St.Gallen kann der ehemalige Polizeihauptmann und Flüchtlingsretter Paul Grüninger dafür ein Vorbild sein.»

Rabiater formuliert die Aktion Zunder, die die Petition unterstützt hatte, ihre Genugtuung: Der Entscheid sei «ein wuchtiger Schlag in die fremdenfeindliche Fresse der ausschaffungsgeilen SVP und ihrer Gesinnungskumpane». Das Komitee seinerseits verspricht, sich  weiterhin für eine menschenwürdige Migrationspolitik einsetzen zu wollen: «Es ist Zeit für eine humanitäre Wende.»