Worte, die Reibung erzeugen
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Die Performance im Gewölbekeller der Buchhandlung zur Rose in St. Gallen endete mit einer Umarmung von Dichter und Musiker – so wie sich Text und Klang schon den ganzen Abend lang umarmt hatten.
Rauriser Notiz
Eine Sprache finden,
Worte, die nicht
über das Erzählte
hinweg flutschen,
sondern Reibung
erzeugen, Wärme,
Licht
Im Prosatext firma versammelt Klaus Merz Tagebucheinträge oder Protokollauszüge aus einem halben Jahrhundert, von 1968 bis 2018, von den Auswirkungen des Prager Frühlings bis zur Finanzkrise in der Gegenwart, von der Firmengründung an einem Sommerabend auf Badetüchern bis zur kollektiven Kündigung 50 Jahre später am Weihnachtsabend nach dem allerletzten Ausverkauf. Es sind Textfenster, zwischen denen Monate und Jahre liegen, Miniaturen, Beobachtungen und Kleinsterzählungen, die die Perspektive in die Zeit öffnen.
Ganz nebensächlich wirkt Weltgeschichte ins Kleinräumige hinein, der Fall der Berliner Mauer, das neue Deutschland, der Krieg im Irak, die Wahl des US-Präsidenten. Das kann erfrischend nah und erfrischend schräg ausfallen, wenn der Revisor vor seiner Arbeit fragt, «ob es recht sei, wenn er zum heutigen Allerseelentag zuerst ein paar Seiten aus Ein anderes Leben von Per Olov Enquist vorlese». Oder erfrischend knapp und erfrischend kantig, wenn sich Merz im Text mit seiner Kritik an der Welt nicht zurückhält.
«firma» lässt sich mit «beglaubigen», «unterschreiben», «Signatur setzen» übersetzen. Und Klaus Merz tut genau dies, er setzt dem Weltgeschehen seine Signatur hinzu. «Wir führen / nur sporadisch Buch. / Es geht um die Denk- / würdigkeiten» steht im Vorspann.
Die Verwandlung
Fotografien heben
die Wirklichkeit auf.
Wir lagern sie aus
in die Wolke. Und
unsere Allerwelts-
verbundenheit hält
uns gefangen. Auf
engstem Raum.
Der zweite Teil des Buches unter dem Titel «Über den Zaun hinaus» tut genau das, was der Titel meint; er schärft den eigenen Blick, den Blick nach innen.
Klaus Merz: firma, Prosa, Gedichte. Haymon Verlag 2019, Fr. 31.90
Klaus Merz Gedichte sind derart unangestrengt schlicht, dass sie einen mit offenen Armen empfangen. Der Autor muss nichts mehr beweisen, weiss sich seiner Leserschaft sicher. Einmal vom Merzvirus befallen, ist man ihm auf ewig verfallen. Ob feine Beobachtungen im Alltag, Einsichten eines langsam Schreitenden, ob bissig, feinsinnig, witzig oder mit hellen Farben malend: Klaus Merz ist stiller Könner, der sich nie verliert. Man möchte seine Gedichte langsam abschreiben, sie verinnerlichen – oder so mit ihnen verfahren wie jener Freund, der mir einmal verraten hat, dass er die Gedichte von Klaus Merz abschreibt und auf kleinen Zettel an den Spiegel im Badezimmer klebt, um sie beim Rasieren und Zähneputzen auswendig zu lernen.
So klar die Texte scheinen und so tun, als waren sie Teile eines Ganzen, ist jeder Text für sich ein Sprachblitzlicht, das all das für einen kurzen Moment ins Zentrum stellt, was sonst vergessen ginge, was man übersehen würde. Die Texte wirken weiter, hallen nach. Wie fast immer ist firma illustriert mit Pinselzeichnungen des Künstlers Heinz Egger.
Kleiner Reiseführer
1
das Auge, unser
individuelles Salz-
kammergut.
2
Vielleicht sind
die Unentwegten
die eigentlich
Entwegten.
3
Wohin nur
führen die Blut-
bahnen uns?
4
Eden. Gerste. Elfmeter
schreibt die Zugsnachbarin.
Und hat ihr Rätsel gelöst.
5
Auf welcher Seite
des fahrenden Zuges
liegt eigentlich die bessere
Hälfte der Welt?
Die Vorpremiere in St. Gallen, noch vor der Premiere im Literaturhaus Zürich (am 7. Februar), war dem Musiker Ruedi Lutz zu verdanken. Lutz und Merz: Das ist keine zufällige Begegnung, sondern eine langjährige Freundschaft zwischen Musik und Literatur. Ruedi Lutz und Klaus Merz übergeben einander das Wort, die Musik, die Melodie, den Klang. So wie Klaus Merz‘ Prosa und Lyrik weit mehr als Häppchen, literarisches Kurzfutter sind, spielt Ruedi Lutz filigran, zauberhaft, einen ganzen Saal mitreissend. Musik und Literatur verschränken sich, so wie Lyrik und Prosa in Klaus Merz Schaffen, so wie die Freude am Schluss eines Abends.
Klaus Merz, geboren 1945 in Aarau, lebt in Unterkulm/Schweiz. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Hermann-Hesse-Literaturpreis 1997, Gottfried-Keller-Preis 2004, Aargauer Kulturpreis 2005, Werkpreis der schweizerischen Schillerstiftung 2005 sowie zuletzt Rainer-Malkowski-Preis (2016), Basler Lyrikpreis und Friedrich-Hölderlin-Preis (beide 2012). 2016 erschien Helios Transport. Gedichte und 2017 zusammen mit Nora Gomringer, Marco Gosse, Annette Hagemann und Ulrich Koch Flüsterndes Licht. Ein Kettengedicht. Seit Herbst 2011 erscheint bei Haymon die Werkausgabe Klaus Merz in mehreren Bänden.
(Bild © David Zehnder)