Wohnraumpolitik: Die Stadt will aktiver werden

Boden- und Mietpreise zeigen nicht bloss in Zürich und Genf nur in eine Richtung: Auch in St.Gallen steigen sie, wenn auch langsamer und auf einem wesentlich tieferen Niveau als in den helvetischen Ballungs- und Wirtschaftszentren. Es ist ein schleichender Prozess, der auf lange Sicht unweigerlich zu noch mehr sozialer Segregation in den Quartieren führt. Der Mittelstand kann sich die Mieten auf den Stadthügeln oder im Museumsquartier irgendwann nicht mehr leisten.
Das hat auch die Stadt erkannt und 2020 eine Wohnraumstrategie verabschiedet. Sie betont darin die Bedeutung lebendiger, vielfältiger und durchmischter Quartiere und hält unter anderem die Absicht fest, die Wohnbauentwicklung sozialverträglich umzusetzen und damit den Zugang zu erschwinglichen Wohnungen erleichtern zu wollen.
Für Stadtrat Markus Buschor, Chef der Direktion Planung und Bau, sind tiefe Mieten ein Standortvorteil, wie er auf Anfrage sagt: «Sie erhöhen die Attraktivität der Stadt für verschiedene Bevölkerungsgruppen, insbesondere für Familien, junge Menschen und Fachkräfte, die bezahlbaren Wohnraum suchen.» Stellt sich die Frage: Setzt die Stadt ihre eigene Wohnraumstrategie auch konsequent genug um? Die politischen Meinungen hierzu gehen auseinander.
Alle wollen vielfältige Quartiere
Liliane Kobler sitzt für die FDP im Stadtparlament und ist dort Mitglied der Liegenschaften- und Baukommission (LBK). «Die Stadt macht bereits genug für ein günstiges Wohnungsangebot», sagt die Anwältin. «Einerseits mit Wohnungen, die die Stadt selber vermietet, andererseits mit der Abgabe von Liegenschaften im Baurecht an Genossenschaften und andere gemeinnützige Wohnbauträger.» Es solle in jedem Quartier für verschiedene Menschen, Lebensformen und Einkommensschichten Platz haben. Es brauche in St.Gallen daher neben kostengünstigen Wohnungen auch solche im oberen Preissegment, um attraktiv zu bleiben.
Ihr Kommissionskollege und Mitte-Stadtparlamentarier Ivo Liechti, von Beruf Raumplaner, sieht es ähnlich: «Für eine gesunde Durchmischung der Quartiere braucht es alle. Die Mitte versteht sich auch als Familienpartei. Dass sich Familien, vor allem auch junge, Wohnraum in der Stadt leisten können, ist uns ein grosses Anliegen.» Wohnen sei für die Attraktivität einer Stadt aber nur ein Faktor unter vielen, die Familien seien heute zum Beispiel auch durch Steuern und hohe Bildungskosten stark belastet.
Einig ist man sich von links bis rechts, dass es nicht Aufgabe der Stadt sei, selber Wohnungsbau zu betreiben. Dennoch hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, ihr Portfolio an städtischen Wohnungen bis 2030 um 10 Prozent zu erhöhen, vor allem durch Zukäufe. Den
Städtebau solle die Stadt aber grundsätzlich anderen überlassen, so Liechti. Und hierfür brauche es alle, nicht nur die Gemeinnützigen, sondern auch die gewinnorientierten Privaten und Institutionellen wie etwa Pensionskassen. «Die Genossenschaften können die Stadt nicht alleine bauen, es braucht alle, auch im Sinne einer guten Durchmischung», ist Ivo Liechti überzeugt.
Die Stadt legt ihr Augenmerk auf die Begünstigung erschwinglichen Wohnraums durch eine aktivere Boden- und Liegenschaftenpolitik. Hier hat St.Gallen – auch darüber ist man sich weitgehend einig – die letzten 20 bis 30 Jahre geschlafen. Auch die Genossenschaften waren lange konservativ unterwegs und pflegten vor allem den eigenen Bestand. Doch es scheint allmählich ein Umdenken stattzufinden. Stadtrat Buschor sagt: «Wir wollen nicht allenfalls Verpasstem nachtrauern, sondern sich künftig bietende Chancen nutzen.» Man habe sich mit der Wohnraum- wie der Liegenschaftenstrategie für eine aktivere Bodenpolitik entschieden. Es sollen vermehrt Grundstücke und Liegenschaften im Baurecht an Gemeinnützige abgetreten werden.
Stadt soll mehr Finanzkompetenzen erhalten
SP-Stadtparlamentarier Peter Olibet, ebenfalls Mitglied der LBK, begrüsst den neuen Ansatz der Stadt, auch wenn sie seiner Meinung nach noch etwas zögerlich vorangehe. «Der Stadt fehlen allerdings auch die nötigen Finanzkompetenzen», sagt er. «Sie darf nur dann ohne Genehmigung der LBK zuschlagen, wenn ein Grundstück oder eine Liegenschaft weniger als 1 Million Franken kostet.» Diese Regelung stamme aus den 80er-Jahren, damit komme man heute nicht mehr weit.
Das Stadtparlament prüft derzeit eine Revision der Gemeindeordnung, um diese Limite zu erhöhen. Die Rede ist von etwa 10 bis 15 Millionen Franken. Wo die Limite letztlich zu liegen kommt, war bis Redaktionsschluss unklar. Klar ist aber: So freizügig wie in Zürich, wo das Stadtparlament der Regierung gar keine Limiten auferlegt, wird es nicht werden. Für einen solchen Schritt ist der Druck auf den hiesigen Wohnungsmarkt selbst nach Ansicht linker Politiker:innen (noch) zu gering.
In Zürich sollen dereinst mindestens 30 Prozent aller Wohnungen gemeinnützig sein. Es steht derzeit bei 20 Prozent, St.Gallen bei vergleichsweise bescheidenen 8,7 Prozent. Der mangelnde Druck auf die Mieten ist der Hauptgrund, weshalb die Stadt bislang auf eine eigene Mindestquote für gemeinnützige Wohnungen, wie es die Genossenschaften gerne sähen, verzichtet.
Ivo Liechti räumt ein, dass eine solche Mindestquote als Fernziel zur Orientierung hilfreich sein könnte. Aber grundsätzlich ist er skeptisch, was festgeschriebene Zahlenwerte betrifft: «Es gibt noch diverse andere Kriterien und Bedürfnisse, die bei der Planung einer Überbauung berücksichtigt werden müssen, etwa Umwelt-, Energie-, Verkehrs- und andere Themen, bei denen die Stadt auch keine festgeschriebenen Mindestvorgaben kennt.» Er fände es sinnvoller, die Stadt würde sich hierbei ihre raumplanerische Flexibilität bewahren.
Mehrwert soll mit Auflagen verbunden sein
Auch bei der Wahl der Bauträger:innen und der Ausgestaltung der Baurechtsverträge sähen die Genossenschaften und die Linke Mittel und Wege, wie die Stadt den gemeinnützigen Wohnungsbau weiter fördern könnte. Zum Beispiel wenn man von privaten Baurechtnehmer:innen eine Mindestzahl an gemeinnützigen oder zumindest sozialverträglichen Mietwohnungen fordert oder privaten Grundbesitzer:innen via Sondernutzungsplanung entsprechende Auflagen macht.
Im Interview auf Seite 18 kritisieren die Genossenschafter Jacques Michel Conrad und Max Altherr ein aktuelles Beispiel: An der
Stephanshornstrasse hat die Stadt ein grosses Grundstück an die Ortsbürgergemeinde verkauft und aufgezont (mehr zur Rolle der Ortsbürgergemeinde im Hinweistext ganz unten). Sie bemängeln, dass die Stadt die mehrwertgenerierende Aufzonung nicht an gewisse soziale Minimalauflagen geknüpft hat.
Darauf angesprochen, antwortet Stadtrat Markus Buschor, dass bei dieser Zonenplanänderung die Mehrwertabgabe bereits beim Tausch der diversen Grundstücke zwischen der Ortsbürgergemeinde und der Stadt St.Gallen vom Herbst 2019 festgelegt worden sei. Die Mehrwertabgabe sei Teil des damaligen Tauschpreises für das Grundstück gewesen.
Baurechtsverträge entsprechen nicht den Empfehlungen des Bundes
Ein weiterer Kritikpunkt der Genossenschaften, den auch Peter Olibet von der SP teilt, betrifft die städtischen Baurechtsverträge. Davon gibt es aktuell immerhin 216, wovon 175 der Wohnnutzung zuzuschreiben sind. 78 Baurechte hat die Stadt an gemeinnützige Wohnbauträger abgegeben. Zur Ausgestaltung gibt es Empfehlungen des Bundesamtes für Wohnungswesen wie Kostenmieten und den Verzicht auf Gewinnabschöpfung, an die sich die Stadt aber selten hält. So zumindest der Vorwurf von links. In vielen Verträgen ist zum Beispiel der Bodenpreis variabel. Er wird alle fünf Jahre neu geschätzt und korrigiert – in der Regel also nach oben. Damit erhöht sich auch der Baurechtszins periodisch.
«Solche spekulativen Elemente gehören nicht in Baurechtsverträge mit Gemeinnützigen», findet Peter Olibet. Dabei geht es ihm um Grundsätzliches: «Wohnen ist ein Grundbedürfnis. Damit sollte grundsätzlich kein Profit gemacht werden.» Die Stadt verdiene genug an den Baurechtszinsen, auch wenn sie sich – wie vom Bund empfohlen – am Referenzzinssatz orientiere. Übersteige sie diesen, sollte ein entsprechender Abschlag auf den Bodenpreis erfolgen. Was aber kaum je geschieht.
Markus Buschor dazu: «Wir setzen auf eine ausgewogene Strategie, die eine nachhaltige städtische Finanzplanung ermöglicht, ohne das Ziel eines sozial durchmischten und bezahlbaren Wohnungsangebots aus den Augen zu verlieren.» Daher würden auch die Baurechtsverträge mit den Gemeinnützigen übers Finanzvermögen geführt und nicht übers Verwaltungsvermögen, das keine Rendite abwerfen müsste.
Die städtischen Baurechtsverträge übers Verwaltungs- statt übers Finanzvermögen zu führen, wie es Zürich seit langem praktiziert, hält Peter Olibet für einen «spannenden Ansatz». Allerdings sei fraglich, ob dies gemäss kantonalem Rechnungslegungsmodell überhaupt zulässig wäre. Wichtiger sei ohnehin, dass die Stadt jetzt endlich eine konsequente Bodenpolitik verfolge.
Auch Genossenschaften in der Pflicht
Olibet weist zudem auf zwei schon etwas ältere Instrumente zur Förderung günstigen Wohnraums in der Stadt hin, die zwischenzeitlich in Vergessenheit geraten sind. Zum einen gibt es das «Reglement zur Volksinitiative zur Erhaltung preisgünstiger Wohnungen», das es der Stadt schon seit 1991 erlaubt, Liegenschaften aufzukaufen und vergünstigt im Baurecht oder zur Miete an gemeinnützige Bauträger abzugeben, sofern die Einkommen und Vermögen der Mieter:innen einen gewissen Grenzwert nicht überschreiten. Die Differenz zum Marktpreis wird durch die Stadt beglichen, die dafür vom Parlament einen 12-Millionen-Kredit bereitgestellt bekommen hat. Irgendwann wurden aus diesem Topf aber offenbar keine Fördergelder mehr beantragt, weshalb heute noch gut die Hälfte der 12 Millionen Franken vorhanden wären.
Zum anderen hat das Stadtparlament 2013 das «Reglement zur Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaus» erlassen. Damit kann die Stadt den Gemeinnützigen unter anderem vergünstigte Darlehen für Bauvorhaben vergeben. Auch dieses Instrument blieb lange in den Schubladen liegen. REM3 ist das erste Projekt, das davon profitiert und ein solches Darlehen bekommen hat.
Olibet nimmt hier nicht nur die Stadt in die Pflicht, die ihre eigenen Förderinstrumente besser kennen sollte, sondern auch jene, für die sie erdacht wurden: Die gemeinnützigen Wohnbauträger:innen. Wichtig sei auch, dass diese gegenüber der Stadt endlich geeinter auftreten. Es könne nicht sein, dass sie spekulative Elemente wie variable Bodenpreise und andere Abweichungen von den Empfehlungen des Bundes in ihren Baurechtsverträgen akzeptierten. Nur so könne ein effektiver Spekulationsentzug von möglichst viel Wohnraum gelingen.
OBG
Die Ortsbürgergemeinde St.Gallen (OBG) ist ein wichtiger Player auf dem städtischen Liegenschaftenmarkt. Auch sie betont die Notwendigkeit einer «guten Durchmischung, einer Vielfalt an unterschiedlichem Wohnraum in der Stadt St.Gallen». Sie verfügt über viele Grundstücke und Liegenschaften – auch zum Beispiel im landwirtschaftlichen Bereich, wo sie «sehr günstigen Wohnraum anbietet und keinerlei Rendite erwirtschaftet», wie Ortsbürgerpräsidentin Katrin Meier auf Anfrage sagt. Die Mieten im eigenen Bestand entsprechen zwar nicht der Definition von Gemeinnützigkeit des Bundes, welche unter anderem vorsieht, dass kein Mehrwert abgeschöpft und Kostenmieten erhoben werden, seien aber tiefer als im Durchschnitt.
Hingegen hat die OBG aktuell sechs Baurechte zu einem vergünstigten Zins an Wohnbaugenossenschaften abgegeben. Nach Kenntnisstand der OBG würden diese Wohnungen zur Kostenmiete vermietet. Ein weiteres Dutzend Baurechtsgrundstücke sei an Wohnbaugenossenschaften respektive Stiftungen für Wohnungshilfe abgegeben worden, die teils ebenfalls gemeinnützig seien. Insgesamt seien dies rund die Hälfte der ortsbürgerlichen Baurechtsgrundstücke.
Auf die Frage, ob die OBG im Sinne des Gemeinwohls nicht möglichst viel Wohnraum der Spekulation entziehen wolle, antwortet Meier: «Die Liegenschaften bleiben ja im Eigentum der Ortsbürgergemeinde und generieren Erträge, die zugunsten der Bevölkerung eingesetzt werden.» Das Land sei somit der Spekulation entzogen, selbst dort, wo Wohnraum zu Marktkonditionen angeboten werde.
Diese zumindest in Teilen gewinnorientierte Wohnraumpolitik der OBG wird von Teilen der Genossenschaften und linken Politiker:innen kritisiert. Auch steht die Frage im Raum, ob sie auslaufende Baurechtsverträge an Gemeinnützige verlängert oder nicht. Die OBG arbeite derzeit intensiv an einer Strategie, sagt Katrin Meier hierzu. Sie betont aber, dass es der OBG nicht um «Maximalerträge» gehe. Man stelle die Böden in der Regel für ökologisch, sozial-gesellschaftlich und wirtschaftlich nachhaltige Wohnbauten mit gutem Wohnungsmix zur Verfügung. (hrt)