Wölfe und Menschen: kontrovers
Der Wolf ist zurück – auch im Kanton St.Gallen. Was ist davon zu halten? Wir stellen zwei Positionen zur Debatte: Wolfskennerin Bettina Dyttrichs Appell an einen klugen Umgang mit Grossraubtieren. Und Rolf Bossarts Gedanken zu verquerer Tierethik.
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Bettina Dyttrich: Es geht nicht darum, ob wir den Wolf gut finden
«Nahe Valens im Taminatal wurden zehn Wölfe beobachtet», meldete der Kanton St.Gallen am 29.November. Dass sich im Calandagebiet, an der Grenze zwischen St.Gallen und Graubünden, Wölfe herumtreiben, ist nichts Neues: Letztes Jahr kamen dort Junge auf die Welt – zum ersten Mal seit der Rückkehr des Grossraubtiers in die Schweiz. Auch dieses Jahr gab es wieder Nachwuchs. Neu ist nur, dass erstmals das ganze Rudel «im Kanton St. Gallen nachgewiesen» werden konnte.
Der Wolf ist zurück in der Ostschweiz. Ob wir das gut finden oder nicht, ist eigentlich nebensächlich. Es geht darum, einen klugen Umgang mit ihm zu finden.
Wie andere Fleischfresser sind auch Wölfe opportunistisch: Sie versuchen mit möglichst wenig Aufwand an ihr Futter zu kommen. Bisher haben sie im Calandagebiet vor allem Wild gejagt. Auf den Schafalpen gab es dank Hirtinnen, Hirten und Herdenschutzhunden wenig Schäden. Im Winterhalbjahr können allerdings auch Schafe auf Weiden in Dorfnähe gefährdet sein.
In den letzten Jahren ist im Herdenschutz viel passiert: Es gibt eine neue Ausbildung für Hirten und Hirtinnen; auf vielen Alpen wurden Herden zusammengelegt, damit sich das Hüten lohnt; 200 Herdenschutzhunde bewachen Schafe und Ziegen selbständig oder zusammen mit Menschen; Zivildienstleistende und Freiwillige leisten Einsätze auf Alpen.
Letztes Jahr haben die Verbände Jagd Schweiz, Pro Natura, WWF und der Schweizerische Schafzuchtverband einen historischen Kompromiss geschlossen: Alle akzeptieren grundsätzlich die Rückkehr der Grossraubtiere in die Schweiz. Aber sie akzeptieren auch, dass ein Wolf oder Bär, der die Herdenschutzmassnahmen austrickst und zu viele Nutztiere frisst, abgeschossen werden darf – gemäss den Konzepten des Bundesamtes für Umwelt (Bafu).
Diese pragmatische Politik funktioniert nicht schlecht. Es ist ein Vorteil, dass in der Schweiz Stadt und Land immer noch in recht engem Kontakt stehen, anders als etwa in Frankreich, und die Entscheidungswege relativ kurz und nachvollziehbar sind, wenn ein Grossraubtier Probleme verursacht. Denn alle Wölfe abknallen ist keine Lösung. Die Bergbevölkerung mit ihnen allein lassen aber auch nicht.
Bettina Dyttrich ist WOZ-Redaktorin und war diesen Sommer in einem freiwilligen Herdenschutzeinsatz im Unterengadin, wo bisher noch keine Wölfe, aber Bären aufgetaucht sind.
Rolf Bossart: Wölfe einbürgern statt Flüchtlinge?
Die Meldung, dass Wölfe unter uns Menschen leben, lockt bei den einen idyllische Bilder einer wieder zur Ordnung kommenden Natur hervor. Bei anderen meldet sich ein Unbehagen. Für diese gibt es jeweils die Beschwichtigungsformel: Die rückgewanderten Raubtiere seien ungefährlich.
Aber was soll der Wolf denn anderes sein als gefährlich? Er ist ja deswegen ein Wolf und kein Hündchen. Selbstverständlich kann man den schlechten Leumund des Wolfs als Vorurteil dekonstruieren und den Kindern antworten: «Im Vergleich zur Grausamkeit des Menschen ist der Wolf harmlos». Aber man hebt damit auch die alte Fortschrittserzählung von der Humanisierung der Welt durch Überwindung und Zähmung der Naturgewalten auf, die in unserer Kultur eng an die Figur des Wolfs gebunden ist.
Wie wichtig für die Menschwerdung des Kindes in unseren Breitengraden diese Erzählung ist, geht schnell vergessen, wo man gewohnt ist, die Entfremdung vom Natürlichen als Wurzel allen Übels zu sehen. Dagegen ist sie überall dort lebendig, wo man den Gewalten der Natur unmittelbar ausgesetzt ist. Im Pazifischen Ozean mehr als in London und im Taminatal mehr als in St. Gallen.
Dass man in vielen Gegenden der Welt mangels anderer Möglichkeiten mit dem Wolf gelebt hat, wird zum Beweis für die Menschenverträglichkeit des Wolfs, ja überhaupt für die wahre Lebensart. Der Naturfatalismus, der sich darin äussert, trägt die Untergangsphantasie eines als dekadent bewerteten Kulturmodells im Gepäck. Die dazu passende Tierethik ist gerade dabei, sich an den Universitäten zu etablieren.
Wie wir uns das etwa vorstellen können, davon gibt das Buch «Zoopolis» von Sue Donaldson und Will Kymlicka, das Bürgerrechte für Tiere fordert, eine Idee. Aus der Rezension in der NZZ: «Mit all diesen Tieren leben wir nun einmal auf einem Territorium zusammen. Kymlicka und Donaldson schlagen vor, über dieses Zusammenleben mithilfe des Modells der Staatsbürgerschaft nachzudenken. Domestizierte Tiere würden zu Staatsbürgern, ähnlich wie Kinder oder Schwerbehinderte; Schwellentiere zu Einwohnern, ähnlich wie Flüchtlinge, Gastarbeiter, Touristen; und Wildtiere zu Eingeborenen mit Recht auf territoriale Souveränität und Selbstbestimmung, ähnlich wie die Inuit in Kanada. Hier werden nicht Kinder, Behinderte und Eingeborene mit Tieren gleichgesetzt, sondern ihr rechtlicher Status wird als Modell für eine politische Theorie der Tierrechte verwendet.»
Selten war mehr Zynismus gegenüber den ungerechten Verhältnissen in unseren Staatsbürgerkonzepten, als sie zustimmend als Modell fürs Tierreich vorzuschlagen.
Die Frage, die sich an der Rückkehr des Wolfs symbolisch fest machen lässt, lautet: Was an verdrängter und zerstörter Natur wollen wir wieder haben? Wir dürfen die Frage, wie wir leben wollen, weder den Gewinnkalkülen der Börse noch den Idyllen einer naturalistischen Zivilisationskritik überlassen, weil beides den Fatalismus des Sozialdarwinismus zur Grundlage hat. Wir sollten so leben und alles dafür tun, dass wir auch künftig nicht den Naturgewalten ausgesetzt sind, denn Natur ist weder ein feststehendes noch ein idyllisches Konzept, sondern eine zu bearbeitende Realität. Das heisst, dass wir beharrlich und behutsam das Ziel der Humanisierung der Welt mit allen Problemen und moralischen Fragen, die sich dabei stellen, weiter verfolgen.
Das ökologische Credo lautet daher: die Dinge weder dem Markt (grünliberal) noch der Natur (grün fundamental) zu überlassen, sondern so zu leben und zu wirtschaften, dass wir den Alpenraum nicht den Wölfen preisgeben, die Küsten nicht den Wirbelstürmen und die Armen nicht den Kreditinstituten. Die Eindämmung der Kapitalflüsse und der Wolfswanderungen dient somit demselben Ziel, ebenso die Freude über den Märchen-Tod des Wolfes und die Freude über jede gescheiterte Roboterutopie. Dazu gehört schliesslich die Erlaubnis, wildernde Wölfe zu schiessen und der Einsatz für eine funktionierende Infrastruktur der Randgebiete, inklusive Direktzahlungen für Bergbauern.
Rolf Bossart ist Theologe und Autor in St.Gallen.