, 1. Februar 2015
1 Kommentar

Wölfe, Pop & Renaissance

Aus unserem Februar-Heft: Acht Kapitel über die Entwicklungen in der arabischen Welt und über persönliche Erfahrungen mit dem Islam. von Alfred Hackensberger

1: Früher

Nein, früher war nicht alles besser: aber ganz anders. Vor über 30 Jahren reiste ich mehrere Monate durch Ägypten, Syrien, Jordanien und die Türkei. Länder, in denen der Islam heute eine wichtige Rolle in Politik und Gesellschaft spielt. Als wir damals unterwegs waren, fand der Islam eher am Rande statt. Natürlich ging man damals auch zum Freitagsgebet in die Moschee und ein Teil der Frauen war verschleiert. Die Moral schien, was angesichts der Offenherzigkeit des Westens in den 70er-Jahren nicht schwierig war, etwas zugeknöpfter. Aber im Ramadan waren Restaurants geöffnet, Studenten assen tagsüber und feierten abends mit Bier. Heute ist das im heiligen Fastenmonat undenkbar. Damals fragte uns niemand, was wir vom Islam hielten, ob das nicht eine Religion sei zu der man konvertieren könnte. Niemand trug seine Pietät uns gegenüber missionierend zur Schau, niemand wollte überzeugen, niemand eine Stellungnahme zur Rolle des Islams und den Muslimen generell in der Welt. Man liess uns alleine mit dem Glauben und der Kultur, zu der man uns zuordnete. Niemand beschimpfte uns und schon gar nicht wollte man uns an den Kragen.

Ja, Politik gab es als Thema – doch diese konzentrierte sich auf Israel. Israel war natürlich «böse», «zionistisch » und «unmenschlich». Allerdings wurde der jüdische Staat nicht als Feind der Muslime und des Islams gesehen, wie das heute gang und gäbe ist. Man glaubte an eine politische Verschwörung der USA und Israels gegen die Rechte der Palästinenser und der Araber. Die Palästinensische Befreiungsbewegung (PLO) gab sich sozialistisch, als säkular orientierte Widerstandsgruppe. Sie verstand sich als Teil der internationalen Anti-Imperialismus-Front, zu der die Roten Brigaden in Italien oder auch die deutsche Rote Armee Fraktion gehörten. Eine islamistische Hamas, die der PLO die Führung streitig machte, gab es noch nicht. Die islamische Widerstandsbewegung wurde offiziell erst 1987 gegründet. Auch im libanesischen Bürgerkrieg, der 1975 begann, spielten radikale Islamistengruppen noch keine grosse Rolle. Ja, es gab die iranische Revolution, die Schah Reza Pahlawi 1979 stürzte. Im Westen war man geschockt und besorgt, vor allen Dingen vom Hass, der dem «Satan» USA und seinen Verbündeten entgegenschlug. Ajatollah Ruhollah Khomeini, der neue Führer des Iran, galt im Westen als Inkarnation des Bösen. Es wurde von der «Steinzeit» gesprochen, in die der Iran mit einem Gottesstaat zurückgehen würde.

Die islamische Revolution hatte für uns tatsächlich etwas Anachronistisches: Wie konnte Religion, die man im Westen längst entzaubert hatte, erneut die Politik bestimmen? Heute ist das der Normalfall geworden, dass sich Politik und Terrorismus auf den Islam berufen. Wobei sich Schiiten und Sunniten obendrein noch selbst bekriegen. Diese Rivalität hat ihren Ursprung vor 1300 Jahren. Damals waren die Schiiten im Kampf um die rechtmässige Nachfolge des Propheten Mohammeds in der Schlacht bei Kerbala geschlagen und seitdem von den siegreichen Sunniten als Muslime zweiter Klasse behandelt worden.

 

2: Statik

Nein, es geht nicht um die Verklärung «goldener Zeiten». Seit dem Beginn des Arabischen Frühlings 2011 musste ich in Gesprächen, gerade mit jüngeren Leuten, immer wieder feststellen: Sie wissen von einer «Zeit davor» nichts oder höchst wenig. Wer heute 25 ist, hat vielleicht George W. Bushs «Krieg gegen den Terror» miterlebt, vorausgesetzt es interessierte. Es ist ein kurzer geschichtlicher Referenzrahmen, mit dem heute die Proteste der Muslimbruderschaft in Ägypten oder ein Massaker der Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) eingeordnet werden. Jüngere Generationen sind überrascht, dass der Islam auch mal anders gewesen ist. In ihrer Erinnerung ist nur abgespeichert: Der Islam ist eine konservative Religion, mit Gewalt und Konflikten besetzt. Deshalb ist es wichtig, ein Gegenbild zu liefern. Zumal auch die sunnitischen Islamisten ihrerseits einen statischen und monolithischen Begriff kolportieren. Sie sprechen vom wahren Islam, den es schon immer gegeben habe, nur habe ihn niemand verstanden und richtig umgesetzt. Sie sehnen sich zurück in die Zeit des Propheten Mohammed, in die angeblich ideale Gesellschaft: eine Gesellschaft, die auf der Scharia und den Lebensprinzipien des Propheten basieren soll. Alles andere ist indiskutabel. Diese Ideologie des Ursprungs ist bekannt als Salafismus. Seit über 20 Jahren kämpfen die Radikalen nun schon um die Verwirklichung des vermeintlichen Paradieses, was Tausenden von Menschen das Leben kostete.

 

3: Wölfe im Schafpelz

Als ich 2006 ein Buch über den Islam veröffentlichte, kam dieser dabei sehr positiv weg. Das lag zum einen daran, dass ich damals in Marokko wohnte. Im Vergleich zu allen anderen islamischen Ländern muss man es das liberalste nennen. Ausserdem wollte ich in der Propagandaschlacht, die im Zuge des «Kriegs gegen den Terror» gegen Muslime und Islam vor sich ging, einen klaren Kopf bewahren. Aufgrund neuer Reisen nach Tunesien, Libyen, Ägypten, in den Gaza-Streifen, in den Irak und auch Syrien hat sich meine Einstellung zum Islam merklich gewandelt. Der strikte Unterschied, den ich zwischen Extremisten und Moderaten machte, ist in der Form nicht mehr vorhanden. Ich muss gestehen, beinahe werfe ich alle in ein und denselben Topf – zumindest, was den politischen Islam betrifft. Der Arabische Frühling ist mittlerweile zum Winter geworden und offenbart eine schonungslose Realität. Was von den Extremisten zu halten ist, die mit Waffengewalt das Scharia-Paradies installieren wollen, wusste man seit langem. Die Ereignisse der letzten zwei Jahre zeigen jedoch: Auch die Moderaten sind gefährlich.

In Tunesien gab sich die islamistische Partei Ennhada nach dem Sturz des Autokraten Ben Ali gemässigt. «Wir wollen Demokratie und auch nicht die Rechte der Frauen beschneiden », beteuerte ihr Führer Raschid Ghannouchi. War man allerdings «unter sich», wurden andere Töne angeschlagen. Es wurde vom «neuen Zyklus der Zivilisation» gesprochen – «und, so Gott will, befinden wir uns im sechsten Kalifat». Damit verknüpfte man die Gegenwart als Nachfolge der fünf «rechtgeleiteten Kalifen» des Islam vor 1400 Jahren. Es war kein Wunder, dass Ennhada enge Beziehungen zu radikalen Salafisten nachgewiesen werden konnten. Aber zum Glück gibt es in Tunesien einen starke, säkulare Zivilgesellschaft, die einen islamistischen Staat verhindern konnte.

Das Nachbarland Libyen muss man als einen «gescheiterten Staat» bezeichnen. Seit dem Ende der Revolution ist Libyen eine Spielweise von al-Qaida und anderen extremistischen Gruppen. Sie unterhalten Trainingscamps und schicken Kämpfer nach Syrien. Seit neuestem gibt es auch Ableger des IS. Sie werden von General Khalifa Hiftar, der die nationale Armee anführt, seit Mai 2014 in Ostlibyen bekämpft. Er vertritt die international anerkannte Regierung, die in Tobruk residiert. Die Hauptstadt Tripoli war im August von islamistischen Milizen eingenommen worden, die eine neue, zweite Regierung einsetzten. Dort sind Buben und Mädchen in der Schule sofort getrennt worden. Der kürzlich in Genf vereinbarte Waffenstillstand zwischen Tobruk und Tripoli ist längst gebrochen worden.

In Ägypten verliess Präsident Mohammed Morsi die Geduld, die im Islam so tugendhaft sein soll. Mit einem Dekret versuchte er sich zum Alleinherrscher auszurufen. Ein Verfassungsentwurf sollte per Referendum einen neuen islamischen Staat absegnen. Jahrzehntelang war die konservative Muslimbruderschaft in Opposition gewesen, vom Regime Hosni Mubaraks verfolgt und eingesperrt worden. Nach einem glanzvollen Wahlsieg sass sie nun endlich in der Regierung. Nur: Morsi verlor seine Contenance, oder besser die Cleverness? Statt Ägypten Schritt für Schritt in ein Land seiner Couleur zu verwandeln, handelte er überstürzt. Vom Militär bekam er die Rechnung; es setzte ihn am 3. Juli 2013 kurzerhand ab.

 

4: Vision und Auftrag

Als Inkarnation der gemässigten Islamisten gilt der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdoğan. Mit seiner Gerechtigkeits-und Entwicklungspartei (AKP) wird er von islamistischen Parteien in arabischen Ländern gerne als Erfolgsmodell gepriesen. In westlichen Ländern steht die Türkei als Musterbeispiel dafür, dass Demokratie und Islam sich nicht unbedingt ausschliessen müssen. Dabei betreibt Erdoğan seit Amtsbeginn eine schleichende Islamisierung der Gesellschaft. Ein neues Anti-Alkoholgesetz, das strikteste in der 89-jährigen Geschichte der türkischen Republik, und die Aufhebung des Kopftuchverbots im Staatsdienst sind einige Beispiele. Es war keine Überraschung, als die türkische Regierung scharf den «Coup» in Ägypten kritisierte und sich auf Seiten der Muslimbruderschaft Morsis stellte. Wie die Proteste um den Taksim-Platz in Istanbul vergangenen Juni erneut zeigten, existiert in der Türkei, ähnlich wie in Tunesien, eine starke Zivilgesellschaft. Auf sie muss Erdoğan und seine AKP Rücksicht nehmen. Gäbe es diese Opposition nicht, wäre es um das Fundament der modernen Türkei, die Trennung von Staat und Religion, längst geschehen.

Es scheint ein Paradigma zu geben: Moderate Islamisten sind Demokraten, so lange sie durch das politische System gezwungen sind, Kompromisse zu machen. Doch ob Erdoğan in der Türkei, Ghannouchi in Tunesien oder Morsi in Ägypten – sie haben etwas gemein: Sie haben eine politische Vision, die von ihrem religiösen Auftrag geprägt ist. Der Islam ist das Heilsversprechen einer besseren Welt. Sie sehen sich auf dem rechten Pfad, Politik ist für sie eine religiöse Pflicht, schliesslich nehmen sie es mit den heiligen Schriften ernst und führen letztendlich nur den Willen Gottes aus.

 

5: Erfindung

Der Islam, wie er heute Schlagzeilen macht, ist eine relativ junge Erfindung. Seit den 70er-Jahren wurde er als «dritter Weg» zwischen Kapitalismus und Kommunismus propagiert. Eine wahre Unabhängigkeit der arabischen Länder habe es nach dem Ende der Kolonialherrschaft nie gegeben. Dazu sei der Einfluss, die Fremdbestimmung durch den Westen, zu gross gewesen. Die herrschenden Eliten hätten sich nur bereichert und mit Hilfe des Westens korrupte Regime installiert. Gleichzeitig seien die sozialistische Experimente wie im Jemen, im Irak, in Libyen oder Syrien völlig fehlgeschlagen. Im Oktober 1981 gab es das erste grosse Attentat, und zwar auf den damaligen ägyptischen Präsidenten Anwar el-Sadat. Er war der «Verräter», der mit Israel einen Friedensvertrag abgeschlossen hatte. Die bevorzugte Lektüre des Attentäters, Leutnant Khalid al-Islambuli, war ein Buch mit dem Titel Die vergessene Pflicht. Darin beschreibt der Autor Abdes al-Salam, der ebenfalls wegen Beteiligung an der Ermordung 1982 hingerichtet wurde, den Dschihad als «sechste Säule» des Islams. Eigentlich sind es nur fünf Säulen: Glaubensbekenntnis, rituelles Gebet, Wohltätigkeit, Fasten im Ramadan und Pilgerschaft nach Mekka.

Knapp zehn Jahre zuvor hatte ein blinder Student, Omar Abder Rahman, eine 2000 Seiten umfassende Dissertation zum Thema Dschihad an der Kairoer Universität Azahr abgefasst. Nach der gängigen Interpretation islamischer Rechtsgelehrter bedeutet Dschihad: sich anstrengen, um ein gottgefälliges Leben zu führen. Einen Heiligen Krieg gegen äussere Aggressoren führe man nur im Verteidigungsfall. Laut Rahman ist diese Interpretation jedoch ein Resultat der Angst vor den Kolonialmächten. Dschihad wird bei ihm zur «kriegerischen Pflicht». Er wurde spiritueller Führer der Al-Gama,a al-Islamiya, die für mehrere Anschläge in Ägypten verantwortlich ist. Heute verbüsst der Scheich in den USA eine lebenslange Haftstrafe wegen der Beteiligung am ersten Anschlag auf das World Trade Center von 1993. Ein anderer wichtiger Baustein kam 1979 von Abdullah Azzam, einem palästinensischen Islamisten und Mitbegründer der Hamas. In seiner Fatwa wird der Märtyrertod verherrlicht. Azzam kämpfte in Afghanistan gegen die Besatzung der Sowjetunion, organisierte Trainingscamps der Mudschaheddin und sammelte Geld. Er traf Osama bin Laden in Pakistan und soll sein religiöser Lehrer geworden sein. Ein Märtyrerkult war im Islam in dieser Form bisher nicht bekannt. Nach Azzam instrumentalisierte auch Ajatollah Khomeini den «erstrebenswerten Tod als Märtyrer», in Erinnerung und Anlehnung an den Tod Imams Husseins in der Schlacht von Kerbala (10. Oktober 680). Im Krieg mit dem Irak (1980–88) liess man Selbstmordbataillone gegen die feindlichen Stellungen in Wellen anlaufen.

Wie wir wissen, hatte Afghanistan Katalysatorfunktion für die Verbreitung der neuen Dschihad-Ideologie. Hier konnte man konkret handeln, für die gute Sache kämpfen und sterben. In den 80er-Jahren wurde in muslimischen Ländern öffentlich Geld für die Mudschaheddin gesammelt, und Kämpfer durften offiziell ausreisen. Es gab grosse Sympathie für die Afghanen, die für ihre Unabhängigkeit kämpften. Aber die Popularität eines globalen heiligen Kriegs, wie ihn Osama bin Laden 1998 erklärte, hielt sich merklich in Grenzen. Er erliess eine Fatwa, in der er zur «islamischen Weltrevolution» aufrief; wegen seiner fehlenden religiösen Ausbildung wäre er dazu allerdings gar nicht berechtigt gewesen. Saudi-arabische Frauen spendeten ihren Schmuck und Wohltätigkeitsorganisationen schickten Millionen nach Afghanistan. Generell blieb das «islamische Erwachen» mit einer remodellierten Religion aber noch die Sache einer extremen Minderheit.

 

6: Pop

Mit den Anschlägen vom 11. September änderte sich alles. Ein Datum übrigens, das nicht zufällig war. Am 11. September 1683 war der Islam (das Osmanische Reich) den Christen (dem Heiligen Römischen Reich) in der Schlacht bei Wien unterlegen. In den Monaten nach den Anschlägen von 2001 bekamen in Nord-Nigeria 70 Prozent aller neugeborenen Buben den Namen Osama. In Marokko wurden die brennenden Twin Towers und das Porträt bin Ladens zum beliebtesten Handy-Display-Motiv. In Pakistan entwickelten sich T-Shirts mit bin Ladens Konterfei zum grossen Renner. (Sie werden sogar von Hells Angels in Stockholm getragen, allerdings in einem anderen Kontext als Counter-Culture-Symbole.) Erst in den Folgejahren fiel diese Popularität stark ab. Grund dafür waren neue Attentate des Terrornetzwerks in Tunesien, Bali, Kenia, Saudi-Arabien, Marokko oder auch Indonesien, bei denen Hunderte von Zivilisten starben.

In den Jahren nach 2001 fand eine allgemeine Re-Islamisierung statt. Frauen trugen zunehmend Kopftuch, auch prominente Fernsehmoderatorinnen. Männer liessen sich Bärte wachsen, Fasten im Ramadan wurde cool, und an den Universitäten organisierten islamische und nicht wie bisher linke Gruppen die Wahlen zur Studentenvertretung. Eine Art Popkulturphänomen: Man «besinnt» sich auf eine neue, eigene Kultur, um sich abzugrenzen, und bezieht daraus ein neues Selbstbewusstsein.

Hintergrund sei ein Gefühl der Unterlegenheit, analysierte 2004 Nizar Hamzeh, Professor für Politikwissenschaft an der Amerikanischen Universität in Beirut. Die muslimisch-arabische Welt sehe sich als Opfer einer kulturellen Invasion des Westens. Dieser nivelliere alle traditionellen Werte. «Hinzu kommen natürlich die zahllosen militärischen Niederlagen», so Nizar Hamzeh weiter, «die der Islam nach den ruhmreichen Eroberungen in der ganzen Welt erlitten hat.» Für die Gegenwart seien aber die Niederlagen 1948, 1967 und 1973 gegen Israel besonders bedeutsam. «Da hat sich etwas aufgestaut, das nach Ausgleich sucht». Vergessen dürfe man auch nicht, dass kein annäherndes sozio-ökonomisches Gleichgewicht existiere. «20 Prozent verbrauchen 80 Prozent der natürlichen Ressourcen. Das sorgt für Unzufriedenheit mit den Regimes, von denen die meisten diktatorisch und korrupt sind. Radikale Islamisten sprechen Staaten wie Saudi-Arabien keinerlei Legitimität zu».

Für viele Jugendliche in arabischen Ländern – ohne Ausbildung, Job oder positive Zukunft – ist die Positionierung gegen den Westen und der Kampf gegen illegitime Könige und Präsidenten der eigenen Region eine Genugtuung, ein symbolischer Ausgleich für die eigenen Frustrationen. Der emanzipatorische Islam wird zu einem Vehikel der Selbstverwirklichung und der Identitätsbildung. Die vorher trostlose Welt bekommt wieder Sinn, man ist aktiver Teil einer Veränderungsbewegung. Dazu gibt es Anti-Kuffar-Songs im Internet, Videospiele für Dschihadisten, Webseiten mit Propaganda und Predigten für den Heiligen Krieg. Die Terrormiliz des IS treibt das Ganze katastrophal auf die Spitze. Gräueltaten werden in Popvideos verpackt und finden Anklang: Sie sind ein bewährtes Rekrutierungswerkzeug für Kämpfer aus dem Ausland.

 

7: Renaissance

Ende des letzten Jahrzehnts hatte man schon geglaubt, die Islamwelle stagniere. Dann kam der Arabische Frühling und brachte den politischen Islam mit einer für den Westen völlig unerwarteten Vehemenz zurück ins Rampenlicht, als wäre ein Ventil geplatzt, das viel zu lange unter Druck stand. Ausgerechnet der radikale Islam erlebte dadurch eine ungeahnte Renaissance. Schrecklichstes Beispiel ist Syrien. Auch hier hatte man an eine demokratische Revolution geglaubt, als Zehntausende von Demonstranten im März 2011 gegen das Regime von Präsident Bashar al-Assad zu protestieren begannen. Die Leute kämpften für Freiheit, wussten aber letztendlich nicht, wie diese aussehen sollte. Ausser dem Kampf gegen Präsident Assad und seinen Machtapparat gab es keine wirklichen Ziele. Der Islam füllte dieses Vakuum aus.

In Syrien konnte man spätestens nach dem Einmarsch der Rebellen in Aleppo im Juli 2012 die islamistische Ausrichtung der Rebellion erkennen. Auf dem Dach im Hauptquartier der Liwa Tawhid, damals die grösste Rebellengruppierung in der Industriemetropole, flatterte die schwarze Flagge mit dem muslimischen Glaubensbekenntnis. Auf dem Gelände mussten selbst nicht-muslimische Frauen ein Kopftuch tragen. Exekutionen wurden mit dem Grundsatz «Auge für Auge» gerechtfertigt. Im Ramadan wurden Gefangene nach dem Fastenbrechen am Abend gefoltert. «Gott will es so», sagte einer der Rebellen als Reaktion auf die Schreie eines der Gefangenen. Die als moderat geltende Liwa Tawhid hat sich mittlerweile mit 13 radikal-islamistischen Gruppen zu einem Bündnis zusammengeschlossen. Zu Zehntausenden sind Dschihadisten aus dem Irak, Pakistan, Saudi-Arabien, Marokko, Tunesien, Tschetschenien oder auch Ägypten nach Syrien gekommen, um den Glaubensbrüdern beim Sturz des Tyrannen beizustehen. Die Ausländer kämpfen in den Reihen extremistischer Gruppen, die al-Qaida nahe stehen oder beim IS.

In Interviews zeigt sich ihr Weltbild voller Klischees, Halbwahrheiten, Versatzstücken und Simplifizierungen. Ein Islam-Bild, wie man es sich heute leicht im Internet zusammenschustern kann und wie es von Propaganda-Predigern vermittelt wird. Der Islam wird als einzige Rettungsphilosophie des Menschen aus seinem Elend begriffen. Und wer die reale Welt nicht überlebt, geht als Märtyrer ins Paradies. «Das ideologische Rüstzeug von al-Qaida ist wenig elaboriert, sehr vereinfachend und statisch. Aber darin liegt wohl das Geheimnis seiner Attraktivität», stellt Amal Ghorayeb, Politikwissenschaftlerin an der Libanesisch-Amerikanischen Universität in Beirut, fest. Die Kurzfassung geht so: Die Menschen im Westen sind durch die technische Modernisierung fremdbestimmt. Der Kapitalismus dominiert alle Lebensbereiche, pervertiert die Sexualität, die Beziehung der Geschlechter und erzeugt übertriebene Individualit.t. Es ist eine Gesellschaft des Materialismus, ohne Moral und Ethik. Der Westen ist ein Musterbeispiel für das, was im Koran als Verführungen des Satans bezeichnet wird. Obendrein sind die westlichen Staaten imperialistische Ausbeuter. Sie verhalten sich wie einst die Kreuzfahrer in Palästina. Und sie unterstützen die Zionisten, die Diebe islamischen Landes. «In der Kulturkritik lassen sich deutliche Parallelen zu den linken Bewegungen der 60er-und 70er-Jahre finden», meint Nizar Hamzeh, Spezialist für islamischen Widerstand an der Amerikanischen Universität in Beirut. «Substanziell ist das natürlich etwas ganz anderes. Al-Qaida und der IS bleiben eine religiöse Bewegung.»

Syrien ist ein besonderer Ort für die Heiligen Krieger. Einige der Rebellengruppen tragen al-Scham im Namen, den arabischen Begriff für die Levante. Sie ist das gelobte Land. Es gibt heilige Stätten, zudem findet das Jüngste Gericht in al-Scham statt. Nach dem Fall Assads und der Errichtung eines Kalifats müssen die al-Aksa Moschee in Jerusalem befreit werden und die heiligen Stätten in Saudi-Arabien sowieso. Alle Ungläubigen sollen aus den Ländern des Islam vertrieben werden. Propagiert wird ein Endkampf um das Weiterbestehen der islamischen Kultur, ein Kampf um Alles oder Nichts. Die Dschihadisten in Syrien sind die Botschafter einer neuen Welt. Sie sind die kämpfende Avantgarde, welche die Gläubigen aufrüttelt, mobilisiert und im Kampf für das Gute und Wahre vereint. Wie man aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts weiss, führt solches Elitedenken, der Wahn vom besseren Wissen, in die Barbarei. Die höheren Ziele haben Vorrang vor der Menschlichkeit. Der IS, der sich als der wahrste aller Islamistenvereine versteht, geht entsprechend am grausamsten vor.

 

8: Letztes Aufbäumen

Hassan sitzt seit über 20 Jahren in seinem kleinen Lebensmittelladen in der marokkanischen Hafenstadt Tanger. Er sitzt auf einem Stuhl hinter der Ladentheke von früh morgens bis spät abends, meist sieben Tage die Woche. Ein kleiner Fernseher mit Satellitenanschluss ist seine mediale Verbindung zur Aussenwelt. «Ich bete fünf Mal am Tag und bin ein sehr gläubiger Muslim», sagt Hassan bestimmt. «Für mich sind sie alle verrückt – Taliban, Morsi, Dschabhat al-Nusra und besonders dieser angebliche Islamische Staat. Sie haben den Islam vollkommen verdreht und ganz vergessen, dass man nicht mit dem Islam und auch mit keiner anderen Religion Politik machen kann. Ich trage den Islam im Herzen, und wenn das jeder machen würde und ihn dort auch beliesse, hätten wir eine bessere Welt.»

Einfacher könnte man es nicht sagen, dass Religion Privatsache sein sollte. In der Politik führt sie zum Desaster. Man kann nur hoffen, dass die neuerliche Renaissance und Radikalisierung des Islam ein letztes Aufbäumen ist. Bisher ist der politische Islam stets gescheitert. Der Iran ist weit von einer Demokratie entfernt. In Ägypten stellten sich Morsi und seine Muslimbrüderschaft selbst bloss. In Tunesien hat sich Ennhada längst entlarvt und muss erst einmal verlorenes Terrain wieder gut machen. In Libyen haben die Islamisten die Wahl verloren, wollen aber mit Gewalt an die Regierung. Völlig absurd war die Herrschaft der «von Gott stammenden Scharia» in Mali. Kein Mensch wollte die Islamisten, die den Norden des Landes unter Kontrolle gebracht hatten. Alle waren froh, als sie Anfang dieses Jahres von den Franzosen aus dem Land gebombt wurden. In Syrien ist das Scheitern vorprogrammiert; auf Dauer macht man sich mit der Missachtung humaner Werte keine Freunde. Die IS-Extremisten mögen grosse Gebiete in Syrien und auch im Irak noch besetzt halten. Militärisch sind sie jedoch auf dem Rückzug. Wen könnte man noch aufführen? Saudi-Arabien natürlich, in dem nicht einmal Auto fahrende Frauen geduldet werden, ganz zu schweigen vom Umgang mit Kritikern des Königshauses. Der unliebsame Blogger Raif Badawi wurde kürzlich zu tausend Stockschlägen verurteilt.

Für mich scheint die Version Hassans aus dem Lebensmittelladen am sympathischsten und vor allem praktikabel zu sein. Aber als Nicht-Muslim gelte ich wahrscheinlich als voreingenommen. Zu meiner Unterstützung will ich die Meinung eines jungen Syriers, Samir, anführen, der mit seiner Familie vor dem Bürgerkrieg in die Türkei geflüchtet ist. «Das Religionsspiel sollte man nicht mitmachen», sagte er. «Das ist idiotisch und es gibt nur Verlierer.» Samir würde nie verraten, in welche Religion er zufällig hineingeboren wurde. «Was sollte das auch für einen Sinn haben?», fügt er mit ernstem Gesicht an.

 

 

Alfred Hackensberger, 1959, lebte in New York, Beirut und Lanzarote, heute in Tanger. Er ist Korrespondent für Nordafrika und die Arabische Welt und hat mehrere Bücher veröffentlicht, unter anderem ein Islam-Lexikon.
Zuletzt erschien der Kriminalroman «Letzte Tage in Beirut». Daraus liest er im Kult-Bau St.Gallen, am Montag, 9. März, um 20 Uhr.

 

Dieser Text erschien im Februar-Heft von Saiten.

Titelbild: Kaligrafische Interpretation der Schahāda, dem islamischen Glaubensbekenntnis.

1 Kommentar zu Wölfe, Pop & Renaissance

  • Sylvia Rosenkranz sagt:

    Guten Tag,
    ich würde gerne die Februarausgabe bestellen. Könnten Sie mir diese zu senden und bezahle dann per Überweisung.
    Danke, mfG
    S. Rosenkranz

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Impressum

Herausgeber:

 

Verein Saiten
Gutenbergstrasse 2
Postfach 2246
9001 St. Gallen

 

Telefon: +41 71 222 30 66

 

Hindernisfreier Zugang via St.Leonhardstrasse 40

 

Der Verein Saiten ist Mitglied des Verbands Medien mit Zukunft.

Redaktion

Corinne Riedener, David Gadze, Roman Hertler

redaktion@saiten.ch

 

Verlag/Anzeigen

Marc Jenny, Philip Stuber

verlag@saiten.ch

 

Anzeigentarife

siehe Mediadaten

 

Sekretariat

Isabella Zotti

sekretariat@saiten.ch

 

Kalender

Michael Felix Grieder

kalender@saiten.ch

 

Gestaltung

Data-Orbit (Nayla Baumgartner, Fabio Menet, Louis Vaucher),
Michel Egger
grafik@saiten.ch

 

Saiten unterstützen

 

Saiten steht seit 30 Jahren für kritischen und unabhängigen Journalismus – unterstütze uns dabei.

 

Spenden auf das Postkonto IBAN:

CH87 0900 0000 9016 8856 1

 

Herzlichen Dank!