, 30. Dezember 2022
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Wo steht Kurdistan?

Vor 100 Jahren wurde Kurdistan in vier Teile geteilt. Auch heute gibt es wieder einen territorialen Kuchen zu verteilen, Kurdistan steht erneut an einem Scheidepunkt und wird überall angegriffen. Wie ist es dazu gekommen? Wer verfolgt welche Interessen? Und was brauchen die Kurd:innen, um sich im Nahen Osten zu behaupten? von Ronî Riha

Die 12‘000 Jahre alte Stadt Hasankeyf wurde 2020 von der türkischen Regierung unter Protesten geflutet für den Bau des Ilısu-Staudamms. Batman, Türkei 2022. (Bild: Murat Yazar)

Kurdistan kommt nicht zur Ruhe. Da sind zum einen die Aufstände im Iran, die mit der Ermordung der Kurdin Jîna Amini begannen und auf die das Regime mit brutalen Angriffen insbesondere in den kurdischen Gebieten reagiert. Auf der anderen Seite stehen die erneuten Angriffe auf die Menschen in Rojava (Syrien-Kurdistan), die seit acht Jahren mit einem andauernden Krieg und Invasionsdrohungen durch die Türkei leben. In Bakur (Türkei-Kurdistan) hält die genozidale Politik gegen die Kurden an. Die Gefängnisse sind voller politischer Gefangener, in den Bergen Kurdistans herrscht seit 40 Jahren Krieg.

Die Bevölkerung in den vier Teilen Kurdistans teilt die gleiche Angst, den gleichen Schmerz, das gleiche Schicksal und die gleiche Geschichte. Und sie teilt einen Widerstand, der seit 100 Jahren anhält.

Die grössten kurdischen Gebiete in den vier Ländern Türkei, Syrien, Irak und Iran. (Klick zum Vergrössern)

Was heute in Kurdistan geschieht, ist untrennbar mit dem Vertrag von Lausanne verbunden, in dem sich die Kriegsgewinner 1923 nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches auf eine neue Ordnung einigten. In gewissem Sinne markiert dieser Vertrag die Fortsetzung der ersten Teilung Kurdistans: Am 17. Mai 1639 wurde das kurdische Territorium in der Stadt Kermanshah in Ostkurdistan im Vertrag von Kasr-i Shirin zwischen dem Osmanischen Reich und dem Safawidenreich aufgeteilt. Das war die erste verheerende Wunde.

Als 1923, wenige Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, die Karte Kurdistans als Appetitanreger für ein «friedliches» Ende der Auseinandersetzungen auf den Tisch gelegt und aufgeteilt wurde, fehlte der kurdischen Bevölkerung jegliches nationales Bewusstsein. Und auch heute kann man sich fragen, ob sie, deren Territorium aufgrund seiner Lage bis heute Schauplatz geopolitischer Auseinandersetzungen ist, die Lehren aus dem Gestern gezogen hat, um das Morgen aufzubauen. Wird es den Kurd:innen, die in den letzten 100 Jahren unter dieser Zersplitterung gelitten und dagegen rebelliert haben, gelingen, sich im Nahen Osten zu behaupten? Einem Gebiet, das erneut zum Schauplatz von Krieg und Interessenkonflikten zwischen internationalen und lokalen Mächten geworden ist.

Getrennte Heimat, getrennte Träume

Mit dem Vertrag von Lausanne wurde Kurdistan also seine zweite verheerende Wunde zugefügt. Das kurdische Kerngebiet war nun in vier Teile geteilt – einen türkischen, einen irakischen, einen syrischen und einen iranischen. Der Vertrag besiegelte endgültig die Nachkriegsordnung im Nahen Osten, wo zwischen 1919 und 1923 ein weiterer blutiger Krieg, der Griechisch-Türkische Krieg, geführt worden war. Dieser führte zur Besetzung der kurdischen und armenischen Gebiete durch die neu gegründete Türkei sowie zur Vertreibung der dort lebenden griechischen Bevölkerung in die Ägäis.

Als sich die westlichen Grossmächte, die heute für Menschenrechte und Demokratie eintreten, 1923 mit der Türkei in Lausanne an den Verhandlungstisch setzten, war das Blut des Völkermords an den Armenier:innen und Griech:innen an den Händen der Türkei noch nicht getrocknet. Das Gebiet Kurdistans, das 1639 dem Osmanischen Reich überlassen worden war, wurde von Grossbritannien, Frankreich und der heutigen Türkei aufgeteilt. Die Wahl der Türkei als geostrategischer Partnerin muss nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Russichen Revolution zwischen 1917 und 1923 verstanden werden. Insbesondere für Grossbritannien hatte die Türkei eine strategische Bedeutung, die mit dem Vertrag von Lausanne formalisiert wurde.

Was heute in Kurdistan geschieht, lässt an die Situation vor 100 Jahren denken: Wieder gibt es einen territorialen Kuchen zu verteilen. Diesmal steht Syrien im Zentrum hegemonialer Konflikte. Die regionale Grossmacht Iran war von Anfang an in den Krieg verwickelt, um eine Vorherrschaft Israels und der USA im Nahen Osten zu verhindern. Russland sah im Krieg in Syrien nicht nur die Möglichkeit, seine Position im Nahen Osten zu stärken, sondern auch bis zum Mittelmeer vorzudringen – was von zentraler Bedeutung ist, um Russlands Position gegenüber der NATO zu stärken. Das Mittelmeer ist jedoch nicht nur für Russland, sondern auch für den Iran und die USA von strategischer Bedeutung, nämlich für den Transfer von Öl und Gas aus Iran und Irak.

Rojava (Syrien-Kurdistan) befindet sich an ebendiesem strategisch kritischen Punkt. Die Türkei wiederum setzt alles daran, dass die Kurd:innen dieses geostrategische Gebiet verlieren – egal, mit wem sie dafür zusammenarbeiten müssen: Mal kooperiert die Türkei mit Russland, mal mit den USA und mal mit dem Iran – und vieles spricht dafür, dass sie in naher Zukunft auch mit dem syrischen Diktator Assad zusammenarbeiten wird, um dieses Ziel zu erreichen. Alle wichtigen Player scheinen also eine Agenda für das kurdische Territorium zu haben – doch was ist mit den Kurd:innen selbst?

Im Schatten von Parteien, Anführer:innen und Ideologien

Momentan schien ihnen eine klare gemeinsame Linie und Vision zu fehlen. Obwohl sich seit dem Widerstandskampf in Rojava 2014 ein gemeinsames Bewusstsein innerhalb der verstreut lebenden kurdischen Bevölkerung entwickelt hat, kann man kaum von einer wirklichen Einheit in den kurdischen politischen Bewegungen sprechen.

Die Kurd:innen, deren Gebiete über die Jahrhunderte verschiedentlich besetzt wurden, haben sich im Lauf der Zeit notwendigerweise in unterschiedliche Richtungen entwickelt. In allen vier Teilen Kurdistans ist jeweils mehr als eine Partei entstanden. So gibt es im Gesamtgebiet Dutzende von Parteien, und jede von ihnen verfolgt andere Ziele und Meinungen. Nun kann man zurecht sagen, dass eine solche Meinungsvielfalt eine Demokratie ausmacht. Doch was bedeutet sie für ein Gebiet, das nach wie vor besetzt ist und dessen Bevölkerung für Freiheit und Unabhängigkeit kämpft?

Die Kurd:innen, die sich gestern noch ihren jeweiligen Stammeshäuptlingen unterworfen haben, stehen heute im Schatten von Parteien, Anführer:innen und Ideologien. Es scheint, dass diese in den Vordergrund gerückt sind statt ein grosses, gemeinsames Projekt. Das ist nicht nur ein Problem der Vergangenheit, sondern auch das grösste Problem der Gegenwart und für die Zukunft. In Ermangelung eines Bewusstseins für Nation und Einheit war Kurdistan immer offen für Besetzungen.

Ohne Öcalan auf der Suche nach Orientierung

Es war die 1978 gegründete PKK (Kurdische Arbeiterpartei), die die «besetzte» kurdische Mentalität in Richtung eines gemeinsamen Bewusstseins verändert hat. Mit der Gefangennahme von Abdullah Öcalan, dem Gründer der PKK, im Jahr 1999 hat sich die kurdische Freiheitsbewegung ideologisch verändert und sich von der Frage der nationalen Unabhängigkeit entfernt. Hauptgrund dafür sind die historischen Verbindungen derer, die nach Öcalan in der Partei die Führung übernahmen, zur türkischen Linken.

Bis 2015 lenkte Öcalan die PKK, wenn auch in begrenztem Umfang, über seine Anwälte und kurdische Politiker:innen, die sich mit ihm auf der Gefägnisinsel İmralı trafen. In den letzten acht Jahren wurde Öcalan jedoch in Isolationshaft gehalten, und so ist es kaum mehr möglich, etwas von ihm direkt zu erfahren. Diese Situation stärkt jene Kräfte in der Partei, die eine radikal linkere Linie statt der «kurdischen Frage» verfolgen.

Der türkische Staat, der Öcalan genau kennt, hat gute Gründe dafür, ihn unter strenger Isolation zu halten: Öcalan ist eine Persönlichkeit, die sowohl die Kontrolle über die PKK als auch Einfluss auf die kurdische Bevölkerung als Gesamtheit sowie auf wichtige Persönlichkeiten und Parteien in allen vier Teilen Kurdistans hatte. Immer wieder war es Öcalan, der vielen internen kurdischen Konflikten ein Ende setzte. Für eine Gesellschaft, die im Nahen Osten ohne Staat lebt, ist eine solche Figur, die Einigkeit stiften kann, elementar.

Der Geist von Kobanê

Jetzt, ohne eine solche Figur, suchen die Kurd:innen nach Orientierung. Das ist das grösste Problem, mit dem sie derzeit konfrontiert sind. Nicht nur das kurdische Territorium ist zersplittert, sondern auch ihre Zukunftsträume. Diese Desorganisation spielt den Invasoren – einmal mehr – in die Hände. Es stimmt zwar, dass die regionalen Mächte Kurdistan zersplittert und stets rücksichtslos ihre Eigeninteressen verfolgt haben, doch man darf nicht vergessen, dass die fehlende kurdische Einheit den Weg dafür geebnet hat.

Als der IS 2014 zunächst Shengal und dann Kobanê angriff, führte Öcalans «Aufruf zur Mobilisierung» zu einer grossen und entschlossenen Einigkeit unter den Kurd:innen. Männer und Frauen aus allen vier Teilen Kurdistans strömten nach Kobanê und Sinjar, um ihrem Volk zu helfen und gegen den IS zu kämpfen. Auf dem Friedhof der Stadt Kobanê befinden sich Gräber von Kämpfer:innen aus ganz Kurdistan. Der Geist von Kobanê ist der Geist der Befreiung Kurdistans. Leider haben die politischen Parteien diese «Einheit von unten» ignoriert, diesen besonderen Geist von Kobanê nicht geschützt, sondern stattdessen nach ihren jeweiligen Ideologien und Interessen gehandelt.

Heute steht Kurdistan erneut an einem Scheidepunkt: Alle vier Teile sind Schauplatz zermürbender Kriege entlang komplexer geopolitischer Konfliktlinien und ethnischer Unterdrückung und Verfolgung der kurdischen Bevölkerung. Zugleich nehmen die Unstimmigkeiten und Widersprüche unter den Kurd:innen trotz dieser aktuen Bedrohungen eher zu als ab. Betrachten wir die Schauplätze genauer:

Autonome Region Kurdistan (Irak-Kurdistan, Südkurdistan)

Wenn man die Situation in Başûr betrachtet, kommt man nicht umhin, den acht Jahre dauernden Ersten Golfkrieg zwischen Irak und Iran (1980-1988) und das Massaker von Halabja zu erwähnen – das schmerzlichste Beispiel für den Völkermord an den Kurd:innen. Sie waren die Hauptverlierer:innen in diesem Krieg, der keinen Sieger hatte. Er forderte etwa eine Million Tote und zwei Millionen Verwundete und verursachte in Kurdistan grosse Zerstörung und eine Welle der Migration.

Nachdem es bereits von 1970 bis 1974 eine Teilautonomie gegeben hatte, wurde Anfang der 90er-Jahre aus Başûr die (zunächst einseitig ausgerufene) Autonome Region Kurdistan mit der Hauptstadt Erbil – die Hoffnung für alle anderen besetzten Gebiete. Doch sie hatte einerseits mit den vom Irak, Iran und der Türkei verhängten Embargos zu kämpfen und konnte andererseits aufgrund der Partei- und Stammestraditionen keine Einheit in sich selbst erreichen. Die Regierung in Bagdad erkannte die Autonomie der Region Kurdistan nach dem Sturz von Saddam Husseins Baath-Regime 2005 mit einer neuen irakischen Verfassung wieder an.

Nach 20 Jahren autonomer Verwaltung versucht man immer noch, seine Sicherheit mit zwei verschiedenen Armeen unter dem Kommando von zwei verschiedenen Parteien zu gewährleisten, die immer wieder aneinandergeraten. Die Autonome Region Kurdistan hat sich ausserdem zu einem Familienunternehmen entwickelt und wird seit 2005 von der Familie Barzani regiert. Der Thron wird vom Vater an den Sohn weitergegeben.

In dieser Region geschehen zweifellos wertvolle Dinge. Kurdisch ist beispielsweise die Bildungssprache, und es gibt Universitäten, an denen auf Kurdisch unterrichtet wird. Doch Başûr muss dringend zwei wichtige Dinge tun: erstens eine unparteiische Berufsarmee aufbauen, die den kurdischen Interessen Vorrang einräumt, und zweitens die eigene ökonomische Entwicklung vorantreiben, um sich aus der Abhängigkeit von der Türkei und dem Iran zu lösen. Wenn das gelingt, kann Başûr als Inspiration für die anderen drei Teile Kurdistans dienen.

Bakur (Türkei-Kurdistan, Nordkurdistan)

Bakur, die Heimat von 20 Millionen Kurd:innen, ist der grösste Teil Kurdistans und gewissermassen das Hauptquartier der Befreiungsbewegung. In Bakur, wo seit der Gründung der türkischen Republik sogar kurdische Namen verboten sind, tobt in den kurdischen Berggebieten seit 40 Jahren ein heftiger Krieg zwischen der türkischen Armee und PKK-Kämpfer:innen.

Kürzlich zirkulierten Videos, die den Einsatz verbotener Waffen durch die türkische Armee in den von der PKK gegrabenen Tunnelsystemen zeigen. Bisher sind die Aufrufe von PKK-Vertreter:innen an die internationale Gemeinschaft, Ermittlungen durchzuführen, unbeantwortet geblieben. Die meisten Berge, in denen die PKK ihre Lager hat und in denen jetzt gekämpft wird, befinden sich in Südkurdistan, also auf dem Territorium des Irak. Das bedeutet, dass sowohl der Krieg, den die türkische Armee dort führt, als auch der Einsatz chemischer Waffen den westlichen Ländern und der NATO bekannt sein dürften.

Zugleich hat der türkische Staat, der die Kurd:innen aufrief, ihre Waffen niederzulegen und sich zivilpolitisch zu engagieren, Dutzende von Bürgermeistern und Gemeinderatsmitgliedern kurdischer Städte inhaftiert – auch zivilpolitisches Engagement wird also bestraft. Unter diesen Tausenden von politischen Gefangenen befinden sich viele Politiker:innen und Abgeordnete der HDP (Demokratische Volkspartei), darunter die beiden Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ.

Rojhelat (Iran-Kurdistan, Ostkurdistan)

Die von Frauen angeführten Proteste unter dem Ruf «Jin, Jiyan, Azadî» («Frau, Leben, Freiheit»), die nach der Ermordung der Kurdin Jîna Mehsa Amini im September in Saqiz begannen, halten weiter an. Das iranische Regime versucht Zugeständnisse zu machen, um mit minimalem Schaden überleben zu können: Es kündigte die Auflösung der Sittenpolizei an, die seit Jahren mit ihren entwürdigenden Praktiken gegen Frauen für Unmut sorgt, und ausserdem die «Überprüfung» des Gesetzes über den Kopftuchzwang von 1983.

Zugleich zieht es die Schrauben an: Während die Proteste in den vierten Monat gehen, hat das iranische Regime im Dezember damit begonnen, Demonstrant:innen öffentlich hinzurichten. Doch die starken, breiten Proteste, die sich anfangs auf den gesamten Iran erstreckt haben, halten nun vor allem noch in den Regionen Kurdistan und Belutschistan an. Gleichzeitig scheint die alte Propaganda des Regimes, dass diese Minderheiten «den Iran spalten wollen», in Teilen der persischen Bevölkerung noch immer zu verfangen. Angesichts dieser Entwicklungen kann das Regime seine Kräfte nun konzentrierter gegen diese Minderheiten wenden und den Boden für ein blutiges Massaker bereiten.

Der Iran betrachtet die Demonstrationen als ein Szenario des Chaos und weist mit dem Finger auf die Demokratische Partei Iran-Kurdistans (IDKP), die Revolutionäre Arbeitergemeinschaft Iran-Kurdistans (Komele) und die Kurdische Freiheitspartei (PAK), die in Irak-Kurdistan (Südkurdistan) Unterschlupf gefunden haben, als Elemente der Verschwörung. Das Regime bezeichnet diese Gruppen als terroristische Organisationen, die von den USA, Israel und der Golfregion unterstützt würden. Es fürchtet, dass sich eine bewaffnete Rebellion in den kurdischen Gebieten wiederholen könnte, wie sie nach der Revolution von 1979 über vier Jahre lang anhielt. Ausserdem wird behauptet, dass das Gebiet für Waffen- und Milizenlieferungen genutzt wird.

Einerseits kesseln darum bewaffnete Truppen die kurdischen Städte im Iran ein, andererseits werden auch an der Grenze zum Irak militärische Kräfte zusammengezogen. Die iranische Regierung übt gezielte Angriffe gegen die Region Irak-Kurdistan aus, die der Hauptstützpunkt für die kurdische Opposition des Irans ist. Am 28. September trafen Raketen die Hauptquartiere in Koye, Kalazide und Pirde. 16 Menschen wurden getötet und 58 verwundet. Am 14. November kam es zu einem weiteren Anschlag, bei dem drei Menschen getötet und zehn verletzt wurden. Am 20. November wurden bei einem erneuten Angriff eine Person getötet und zehn verletzt. Am 22. November zielten Drohnen auf PAK-Stützpunkte zwischen Erbil und Kirkuk. Aufgrund der Luftangriffe wurde das von der IKDP genutzte Hauptquartier in Koye evakuiert.

Das iranische Regime, das mit grossem Hass gegen die Kurd:innen vorgeht und einen Berg nach dem anderen bombardiert, hat die kurdischen Kräfte in Unordnung gebracht. Es gibt sieben oder acht kurdische politische Parteien in Rojhelat, doch weder haben sie eine gemeinsame Haltung noch eine gemeinsame Agenda gegen den Iran. Die meisten sind untereinander zerstritten.

Rojava (Syrien-Kurdistan, Westkurdistan)

Die kurdische Bevölkerung von Rojava, deren Land im Rahmen der Arabisierungspolitik des syrischen Baath-Regimes sukzessive genommen worden war, wurde mit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien zur Zielscheibe radikaler islamistischer Gruppen. Die Bevölkerung von Rojava hat vor allem durch ihren Widerstand gegen den IS in Kobanê 2014 grosse Unterstützung und Sympathie in den westlichen Ländern gewonnen.

In den ersten Tagen des Kobanê-Krieges wurde eine internationale Koalition unter der Führung der USA in Abstimmung mit den kurdischen Kräften eingerichtet. Dank der bereitgestellten Luftunterstützung und des epischen Widerstands der kurdischen Freiheitsbewegung konnte Kobanê vom IS befreit werden. Einige Jahre später befreiten die Kämpfer:innen der kurdisch geführten SDF (Syrian Democratic Forces) das gesamte syrische Territorium, einschliesslich Raqqa, das der IS zu seiner Hauptstadt erklärt hatte.

Der IS ist (vermeintlich) besiegt, doch der Krieg und das Leid in Rojava sind noch nicht vorbei. Der türkische Staat, der mit den radikal-islamistischen Kräften vor Ort damals nicht erreichen konnte, was er wollte, begann bald nach dem Sieg von Kobanê mit der Besetzung von Rojava. Seit 2016 hat die Türkei sechs nordostsyrische Städte (Jarabulus, Azaz, al-Bab, Afrin, Tel Abyad und Ras al-Ayn) besetzt. Damit nicht genug: Jetzt bereitet der türkische Staat eine neue Invasion vor. Die Angriffe der türkischen Kampfflugzeuge seit dem 20. November können zweifellos nicht ohne das Wissen der USA und Russlands durchgeführt werden. Die beiden Mächte teilen sich den Luftraum über Nordostsyrien auf koordinierte Weise.

Kriegsverbrechen in Rojava

Auffällig an den jüngsten Angriffen der Türkei ist, dass sie auf die unmittelbaren Lebensgrundlagen der Menschen zielen: In Rojava wurden Stromkraftwerke, Gaskraftwerke und Getreidesilos bombardiert. Angriffe auf die Zivilbevölkerung und deren Lebensgrundlagen sind nach dem Völkerrecht Kriegsverbrechen. Die türkische Armee begeht diese vor den Augen der Welt und in einem Gebiet, das von den USA und Russland kontrolliert wird – zum wiederholten Mal.

Diese Realität ist erschreckend. Die Türkei, die in einen Streifen von 30 Kilometern entlang der syrischen Grenze vordringen will, zielt letztlich auf eine Entkurdifizierung der Region. Indem sie radikal-islamische syrische Flüchtlinge aus der Türkei zwischen den beiden kurdischen Regionen ansiedeln will, sollen diese Gebiete der Türkei einverleibt und die kurdische Bevölkerung in die trockenen Gebiete Syriens verdrängt werden. Die Türkei versucht, ihre neo-osmanischen Träume in Syrien und im Irak mit allen Mitteln zu realisieren.

Die Angriffe haben die humanitäre Krise, mit der kurdische, arabische und andere Gemeinschaften in der Region bereits konfrontiert sind, weiter verschärft. Und sie zwangen viele Familien erneut, ihre Häuser zu verlassen. Rojava leidet derzeit unter gravierendem Brennstoffmangel und Stromausfällen. Aufgrund der Luftangriffe und des Mörserbeschusses durch die Türkei mussten Hilfsorganisationen ihre humanitären Aktivitäten einstellen.

USA vs. PKK

Kann die Türkei Rojava trotz der US-Präsenz besetzen? Nein, natürlich nicht. Der Krieg zwischen der Türkei und den Kurd:innen in Rojava ist jedoch der Schatten eines schwelenden Konflikts zwischen den USA und der PKK. Die USA und Israel haben gemeinsam mit der irakisch-kurdischen Autonomieverwaltung einen Plan für Rojava. Amerika und Israel wollen ein Kurdistan unter der Kontrolle der KDP (Barzani), das ihnen unterstellt ist. Ein solches Kurdistan wollen und werden die Kurd:innen, die auf der Linie von Öcalan kämpfen, aber nicht akzeptieren. Sie haben einen anderen Plan.

Solange diese Krise zwischen der Regierung von Rojava, die sich der PKK annähert, und den USA nicht gelöst wird, werden die Angriffe auf Rojava weitergehen. In gewisser Weise versuchen die USA, die Kurd:innen mithilfe der Türkei zu disziplinieren.

Ob die Türkei eine Bodenoffensive in Rojava startet oder nicht, wird sich in den kommenden Monaten zeigen – es wird von den USA und Russland abhängen. Aber es gibt einen weiteren Aspekt, der nicht übersehen werden sollte: Jedes Mal, wenn die Türkei mit einem Einmarsch in Rojava droht, gewinnen auch Russland und Iran – Schutzmächte des syrischen Regimes –, die sich in Syrien im Konflikt mit den USA befinden.

Nach jeder türkischen Drohung sind die kurdischen Kräfte dem syrischen Regime verpflichtet: Sie versuchen sich vor einer möglichen Invasion zu schützen, indem sie die syrische Armee unter Russischer Schirmherrschaft in ihr Gebiet einladen. Dies kommt dem türkischen Staat letztlich nicht ungelegen, denn so oder so gewinnen die Invasoren Kurdistans, die sich in der Verleugnung des Kurdischen einig sind und mit einer Stimme sagen: «Ein Staat, eine Nation und eine Sprache.»

Können die Kurd:innen erfolgreich sein?

Was machen die Kurd:innen im Nahen Osten, während all dies geschieht – die Kurd:innen, die zu Dämonen erklärt wurden und deren Abschlachtung als «halal» gilt? Nichts für die kurdische Einigkeit! Manche arbeiten für ihre Ideologie, manche für ihren Thron, manche für ihren Scheich. So gibt es interne Konflikte, die viel zu viele Ressourcen binden. Ein Beispiel dafür ist die Auseinandersetzung zwischen den beiden kurdischen Hauptachsenparteien: Die eine ist die KDP in Irak-Kurdistan, die derzeitige Regierungspartei der Autonomen Region Kurdistan. Die andere ist die PKK in Türkei-Kurdistan, die seit 40 Jahren einen bewaffneten Kampf in den Bergen Kurdistans führt.

Die Kurd:innen, die in vier Teilen von Besatzungsmächten mit einer gemeinsamen Politik unterdrückt werden, schaffen es nicht, eine nationale Einheit auf der Grundlage eines gemeinsamen Ziels zu erreichen. Worin besteht dieses Ziel? Im Schutz der Bevölkerung vor weiteren Kriegen und Genoziden – ein Leben in Frieden, ein Leben mit dem Recht auf die eigene Sprache.

Wenn die Kurd:innen an diesem historischen Scheidepunkt nicht erfolgreich sind, drohen sie weitere 100 Jahre zu verlieren. Können die Kurd:innen, die sich noch nicht einmal auf eine Nationalflagge einigen können, das schaffen?

Ronî Riha, 1982, ist kurdischer Journalist, schreibt vor allem über die kurdische Frage. Er lebt seit 2016 in der Schweiz. 2014 war er in Rojava und erlebte den Angriff des IS auf Kobanê.

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