, 17. Januar 2020
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Wo man weniger auffällt als in einem kleinen Dorf

Wie sieht das Leben von Sans-Papiers aus und welches sind ihre rechtlichen Möglichkeiten? Mardoché Morris Kabengele hat mit Karin Jenni von der Sans-Papiers-Beratungsstelle in Bern gesprochen.  

Bild: Saitengrafik

Verschiedene Schweizer Städte wollen die Situation der Sans-Papiers verbessern, auch die Stadt Bern prüft zurzeit die Einführung einer City Card. «Um diese dann schliesslich umzusetzen, wird es wohl auch eine Portion Mut brauchen», sagt Karin Jenni von der Sans-Papiers-Beratungsstelle Bern. Diese gehört nebst dem Solidaritätsnetz zu den wichtigsten Akteurinnen im Kanton. Doch was ist ihr Auftrag? Wie sieht das Leben von Sans-Papiers aus und welches sind ihre rechtlichen Möglichkeiten?

Saiten: Es wird viel spekuliert über die Anzahl der Menschen, die in Bern unter dem Radar leben. Haben Sie den Überblick?

Karin Jenni: Wichtige, grossangelegte Studien oder Statistiken für Bern gibt es noch nicht. Die neuesten Zahlen vom Staatssekretariat für Migration (SEM) aus dem Jahr 2015 gehen von rund 76’000 Sans-Papiers in der Schweiz und 3000 in der Region Bern aus. Aber das sind Schätzungen. Sans-Papiers sind in der Regel nirgends registriert. Genaue Zahlen zu haben, ist daher unmöglich. Wir können aber natürlich Aussagen über unsere Beratungen machen – jährlich sind es um die 2500. Dabei handelt es sich um rund 1000 Personen, darunter sind auch Angehörige und Bekannte von Sans-Papiers. Ob die Personen in der Stadt Bern leben, erfassen wir nicht unbedingt. Unser Angebot ist nicht nur für die Stadt, sondern für die ganze Region Bern. Allerdings muss man sagen, dass die Sans-Papiers sich eher zu den Städten hingezogen fühlen, wo man weniger auffällt als in einem kleinen Dorf.

Was ist euer Auftrag?

Wir sind ein Verein, der Beratungen für Menschen ohne geregelten Aufenthalt anbietet, für Betroffene oder Angehörige. Es gibt verschiedene Gründe, wie es dazu kommen kann, dass man sich ohne geregelten Aufenthalt in einem Land befindet, sei es ein abgelaufenes Tourismusvisum, ein negativer Asylentscheid oder aufgrund einer Trennung nach einer Heirat. Unser Auftrag ist es, diese Menschen zu beraten und ihre soziale und rechtliche Situation zu verbessern.

Wie sieht so ein Gespräch aus und was beinhaltet das Angebot?

In unseren Beratungen machen wir gemeinsam mit den Ratsuchenden eine Auslegeordnung ihrer Situation und skizzieren mögliche Handlungsspielräume. Die Entscheidung über den nächsten Schritt liegt dann bei den Betroffenen. Wir begleiten sie und respektieren ihre Selbstbestimmung. Ein Gespräch kann 30 Minuten dauern oder auch zwei Stunden. Das ist je nach Situation und Anliegen sehr unterschiedlich.

Zu unserem Angebot: Wir beraten in den Bereichen Aufenthaltsregelung, Bildung, Gesundheit, Familie, Ehe, Arbeitsbedingungen und Wohnsituation. Wir stehen bei zivilrechtlichen und juristischen Prozessen und bei administrativen Fragen bei, zum Beispiel bei Krankenkassenabschlüssen oder bei Vaterschaftsregelungen, bei Gesuchen um Aufenthaltsbewilligung zwecks Eheschliessung oder bei Gesuchen um Regelung des Aufenthaltes.

Karin Jenni arbeitet für die Sans-Papiers-Beratungsstelle Bern und ist für Fundraising, Öffentlichkeitsarbeit und Beratungen zuständig. Sie ist Mitinitiantin der Berner City Card.

sanspapiersbern.ch
wirallesindbern.ch

Ihr arbeitet und interveniert in prekären Notsituationen. Gibt es auch schöne Seiten in eurem Job?

Ja, zum Glück. Zum Beispiel wenn eine Familie, die fast auseinandergerissen worden wäre, dank einem positiv beantworteten Gesuch zusammenbleiben kann, oder wenn jemand nach jahrzehntelangem Leben im Versteckten endlich über eine Aufenthaltsbewilligung verfügt. Oft ist die Regelung des Aufenthaltes leider nicht möglich. Selbst dann gibt es aber kleine Freuden, beispielsweise wenn wir einer Person ein Halbtax-Abo oder Kindern den Schuleintritt ermöglichen können.

Es ist eine sehr lange Zeit, in der Menschen nur eingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können, Angst haben, von den Behörden aufgegriffen zu werden, und sich selber finanzieren müssen. Sind Drogenhandel und Prostitution der einfachere Weg? Gehen viele diesen Weg?

Aus unserer Erfahrung arbeiten die meisten Sans-Papiers in Privathaushalten, auf dem Bau oder in der Landwirtschaft. Sie versuchen, grundsätzlich alles richtig zu machen, auf keinen Fall aufzufallen und ja nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Das einzige, was ihnen jedoch fehlt, ist die Aufenthaltsbewilligung.

Viele haben ein stereotypes Bild von Sans-Papiers. Wie sieht die demografische Realität aus? Sind die Bilder in den Köpfen falsch?

Wir beraten Menschen aus über 80 Herkunftsländern. Dabei sind alle Altersgruppen vertreten. Bezüglich Geschlecht: Schweizweit geht man davon aus, dass etwas mehr als die Hälfte der Sans-Papiers weiblich sind. Wir haben zurzeit jedoch etwas mehr Männer, die in die Beratung kommen. Zudem haben wir viele Familien mit Kindern sowie Paare, die wir bezüglich Einheit der Familie und Familiennachzug beraten.

Seit den Seenotrettungen im Mittelmer haben viele Menschen Angst, dass humanitäre Hilfe zu einem Strafprozess führen kann. Seid ihr auch davon betroffen? Ihr arbeitet in einem Graubereich.

Unser Verein wurde 2005 gegründet mit dem Ziel der «Humanisierung des Alltags». Wir sind innerhalb des gesetzlichen Rahmens tätig, mit dem Ziel, die soziale und rechtliche Situation von Sans-Papiers zu verbessern. Wir tun dies, indem wir beraten und, wo möglich und sinnvoll, Gesuche einreichen. Dies gilt zum Glück nicht als Verstoss gegen den Artikel 116 des Ausländer- und Integrationsgesetzes, wonach sich strafbar macht, wer den rechtswidrigen Aufenthalt erleichtert. Würden wir Wohnungen, Arbeit oder Partnerschaften vermitteln, sähe dies anders aus. Trotzdem haben wir oft mit dem Thema der Kriminalisierung von Solidarität zu tun. Bei uns melden sich beispielsweise Unterstützerinnen und Unterstützer, die angeklagt wurden, weil sie einem Sans-Papier irgendwie geholfen haben und sich dann plötzlich vor Gericht erklären müssen.

«Wir alle sind Bern» setzt sich für eine City Card ein. Wie ist der Stand betreffend Urban Citizenship und einer möglichen City Card?

2015 hörten wir von der Einführung einer solchen Karte in New York und initiierten das Projekt für die Stadt Bern. In Zürich wurde das Thema noch etwas früher angerissen, wir in Bern starteten 2016 mit einer öffentlichen Veranstaltung. Kurz darauf luden wir Sans-Papiers ein, um ihre Einschätzungen zu einer City Card zu hören. Die Begeisterung für diese Idee war gross. Daraufhin wurde das Netzwerk «Wir alle sind Bern» ins Leben gerufen.

2017 richtete das Kompetenzzentrum Integration ein sogenanntes Soundingboard aus, bei dem das Netzwerk «Wir alle sind Bern» die Idee einer City Card einbringen konnte. Dadurch wurde das Projekt in den städtischen Schwerpunkteplan aufgenommen. Mit dem «Schwerpunkteplan 2018-2021 zur Umsetzung des Leitbildes zur Integrationspolitik» hat sich der Berner Gemeinderat das Ziel gesetzt, sich an der Debatte um das Konzept Urban Citizenship zu beteiligen. Man ist bestrebt, eine City Card einzuführen, um damit die Teilhabe aller Bewohnerinnen und Bewohner unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus zu fördern. Seither arbeitet eine städtische interdirektionale Arbeitsgruppe an einer möglichen Einführung und prüft verschiedene juristische und technische Fragen. Wir sind ein Teil dieser Arbeitsgruppe und können so unsere Anliegen direkt einbringen.

Leistet die Stadt Bern bei der Thematik Pionierarbeit oder gehört sie eher zu den Schlusslichtern?

Schweizweit gehört die Stadt Bern sicher nicht zu den Schlusslichtern. Die Stadt anerkennt, dass es Sans-Papiers gibt und dass Grundrechte und Menschenrechte allen Menschen unabhängig vom Aufenthaltsstatus zustehen. Das hat die Stadt gezeigt, indem sie uns 2013 den Integrationspreis verliehen hat. Die Stadt ermöglicht auch Sans-Papiers in gewissen Bereichen den Zugang zum Recht. So können beispielsweise alle Kinder unabhängig vom Aufenthaltsstatus die Schule besuchen. Mit der Einführung einer City Card würde die Stadt die Teilhabe merklich ausweiten und könnte wichtige Pionierarbeit in diesem Bereich leisten. Dass die Stadt sich für diese Idee offen zeigt und Wege sucht, eine solche Karte einzuführen, stimmt mich positiv.

Wie würde sich eure Arbeit oder das Leben der Sans-Papiers mit der City Card konkret verändern?

Die City Card ist nicht mit einer Regelung des Aufenthaltes gleichzusetzen. Die Arbeit würde uns also leider noch nicht ausgehen. Aber durch die City Card hätten Sans-Papiers Zugang zu zahlreichen städtischen und privaten Dienstleistungen und ihr Alltag könnte sich dadurch massiv vereinfachen. Die ständige Angst vor dem Auffliegen wäre weniger präsent und Sans­Papiers könnten sich freier bewegen.

Dieser Beitrag erschien im Januarheft von Saiten.

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