Wird dem Huhn / man nichts tun?

Die neueröffnete St.Galler Bahnhofshalle sei zu leer, wird kritisiert. Bänke müssten her. Christian Morgenstern fände sie auch furchtbar. Aber aus anderen Gründen.
Von  Peter Surber

Morgensterns «Galgenlieder» haben es in sich. Dadaistisch, mit einem absurden Humor, sprachspielerisch und zum Teil versteckt politisch, sind sie so zeitlos lebendig wie bei ihrer ersten Publikation 1905. «Spiel- und Ernst=Zeug» hat der Dichter selber seine Verse genannt.

Jetzt aber ist es vorbei mit dem Spiel, jetzt gilt es in St.Gallen ernst: Eines seiner Gedichte ist Wirklichkeit geworden.

In der Bahnhofshalle, nicht für es gebaut,
geht ein Huhn
hin und her…

Zwar heisst das Tier zeitgemäss «Chicken» und geht nicht hin und her, sondern schmurgelt in den Fritteusen der «Chickeria», die sich unlängst im Bahnhof eingenistet hat. Kein Wunder, hallt der Ruf des Dichters durch die halb leere Halle:

Wo, wo ist der Herr Stationsvorsteh’r?

Einen selbigen findet man in modernen Bahnhöfen allerdings noch seltener als ein Huhn. Der tierliebende Autor fragt drum, und dies schon anno 1905, besorgt weiter:

Wird dem Huhn
man nichts tun?
Hoffen wir es! Sagen wir es laut,
dass ihm unsre Sympathie gehört,
selbst an dieser Stätte wo es – ‹stört›!

Heute wissen wir: Der verhaltene Optimismus des Dichters nützt den Poulets auf den Chickeria-Tellern nichts mehr. Ebenso wenig wie den Leckerbissen des Sushi-Restaurants nebenan Morgensterns berühmtestes Galgenlied: Fisches Nachtgesang. Sie wissen schon: — UU —— usw.

Falls es noch dicker kommen sollte mit der Fast-Food-Aufrüstung des Bahnhofs, kann man nur hoffen, dass die Vermarkter keine «Galgenlieder» lesen. Mit ihnen wäre der kulinarisch-tierischen Fantasie keine Grenzen gesetzt. Mondkalb, Steinochs, Uhu, Wiesel (samt Bachgeriesel) und vieles andere kreucht und fleucht in den Gedichten, zudem  Ochsenspatz, Kamelente, Regenlöwe, Turtelunke, Schosseule, Walfischvogel, Quallenwanze, Gürtelstier, Pfauenochs, Werfuchs, Tagtigall, Sägeschwan, Süsswassermops, Weinpintscher, Sturmspiel, Eulenwurm, Giraffenigel, Rhinozepony und andere «Neue Bildungen, der Natur vorgeschlagen».

Schon bald würde sich die halbleere Bahnhofshalle (hier die Kritik der IG Pro Bahn) ins wunderlichste Bestiarium verwandeln. Und über allem  schwebte der berührendste aller Galgenvögel – auch ihn mochte Christian Morgenstern allerdings lieber lebendig als mit Pommes und Ketchup:

Die Möwen sehen alle aus,
als ob sie Emma hiessen.
Sie tragen einen weissen Flaus
und sind mit Schrot zu schiessen.

Ich schiesse keine Möwe tot,
ich lass sie lieber leben und
füttre sie mit Roggenbrot
und rötlichen Zibeben.

O Mensch, du wirst nie nebenbei
der Möwe Flug erreichen.

Wofern du Emma heissest, sei
zufrieden, ihr zu gleichen.