«Wir wollen sie zurück!»

Saiten: Im Vorfeld des Interviews schrieben Sie mir, Sie seien dieser Tage mit Ihren Student:innen im Feld. Was machen Sie da? Altägyptische Objekte ausbuddeln?
Monica Hanna: Im Moment bin ich eigentlich oft in den Archiven. Ich arbeite an meinem nächsten Buch, einer kritischen Geschichte der Ägyptologie, und studiere ausserdem die historische Entwicklung altägyptischer Sammlungen in westlichen Museen. Anfangs Januar war ich mit meinen Studierenden im Feld und besuchte verschiedene historische Stätten. Unsere Philosophie ist, dass sich die Studierenden mit kulturellem Erbe zuerst direkt vor Ort und im Austausch mit der einheimischen Bevölkerung befassen.
Wie war Ihr Besuch in St.Gallen im November im Zuge von Milo Raus Schepenese-Aktion? Hatten Sie angenehme Diskussionen oder war es eher ärgerlich?
Ich war nur zweieinhalb Tage in St.Gallen. Vor allem mit dem Kampagnen-Team hatte ich gute Diskussionen. Irritierend fand ich die Reaktion von Stiftsbibliothekar Cornel Dora. Er hat mich die ganze Zeit ignoriert. Selbst an der Podiumsdiskussion in der Lokremise hat er nur mit dem Publikum gesprochen und mich nie direkt angeredet – als ob ich nicht existierte. Und in E-Mails hat er mich nur mit «Frau Hanna» angeschrieben, nicht mit «Prof. Dr.» wie es meines Wissens auch im deutschen akademischen Austausch Gepflogenheit wäre. Seine Einstellung mir gegenüber ist wohl ähnlich gelagert wie gegenüber der Mumie. Mit seinem Mansplaining und seiner Aussage in aller Öffentlichkeit, dass ich offenbar die ägyptische Geschichte nicht verstünde und er mir erklären müsse, wie ich meinen Job machen solle. Ägyptische Frauen glauben oft, dass nur orientalische Männer so ticken, aber offensichtlich haben wir uns getäuscht. Ich fühlte mich, wenn ich so sagen darf, «schepenesisiert». Mir wurde gesagt, was ich tun solle, und gleichzeitig wurde ich ignoriert. Dora wollte mich zum Schweigen bringen. Abgesehen davon denke ich, ist es mir recht gut gelungen, meine Argumente darzulegen.
Einige Leute in St.Gallen glauben, Sie hätten sich von Milo Rau für sein Aktionstheater zur Rückführung von Schepenese nach Ägypten instrumentalisieren lassen.
Ich setze mich in meiner Arbeit seit 2020 vertieft mit der Thematik Restitution und Repatriierung auseinander. Ich habe einen grossen Zuschuss aus öffentlicher Hand für diese Recherche erhalten. Es gibt zum Beispiel auch die Initiative zur Rückführung des berühmten Rosetta-Steins, und eine ist für Nofretete geplant. Im Gegenteil könnte man sogar sagen, dass wir Milo Rau benutzten, um unsere Stimmen hörbar zu machen.
Ist das Restitutionsprojekt des Rosetta-Steins Ihre Initiative?
Nein, es arbeiten 14 Forscher:innen und Dozent:innen mit am Projekt. Das ist keine Monica-Hanna-Initiative, sondern eine kollektive Angelegenheit. Wie auch der offene Brief an Herrn Dora, in em wir Schepeneses Rückführung fordern. Ich insistiere, dass es hierbei nicht um meine Person geht.
Hat Milo Rau Sie kontaktiert oder umgekehrt?
Er ist auf mich zugekommen. Ich habe nicht gewusst, dass er an diesem Thema arbeitet. Er kam zu mir ganz einfach, weil ich viel zum Thema publiziert habe. Wir hatten unser erstes Zoom-Meeting im Frühsommer 2022 und trafen uns erstmals persönlich im November in St.Gallen. Der Kontakt kam über die ägyptische Akademikerin und Flimemacherin Rabelle Ramez, eine Assistentin von Milo Rau, zustande. Mit ihr hatte ich schon bei früheren Kunstprojekten zu tun.
Kannten Sie Schepenese, bevor Sie von Milo Rau kontaktiert wurden?
Ja, ich habe die Mumie ihres Vaters, Pestjenef, in Berlin gesehen. Dort habe ich auch von der Mumie in St.Gallen erfahren.

Podiumsdiskussion vom 17. November 2022 in der St.Galler Lokremise (von links): Stiftsbibliothekar Cornel Dora, Moderator Silvan Gisler, Theaterregisseur Milo Rau, Ägyptologin Monica Hanna und Filmemacherin Rabelle Ramez. (Bild: Arthur Gamsa / «St.Galler Tagblatt»)
Im erwähnten offenen Brief schreiben Sie von Dokumenten, die beweisen sollen, dass Schepenese aus ihrem Grab gestohlen wurde. Können Sie vielleicht nochmals kurz Ihre Argumentationslinie zusammenfassen?
Heinrich Menu von Minutoli, ein preussischer Generalleutnant, reiste 1820 nach Ägypten. Das Land war damals, ähnlich wie Griechenland, eine osmanische Kolonie und wurde vom osmanischen Gouverneur Mehmed Ali Pascha regiert, der aus dem griechischen Kavala stammte. Mehmed Ali erteilte ausgewählten ausländischen Personen die Erlaubnis, Antiquitäten nach Europa zu bringen. Im Gegenzug erwartete er von den Europäern politische Vorteile, um seine ägyptische Souveränität gegenüber dem osmanischen Sultan zu stärken. Von Minutoli war im Besitz zweier solcher Bewilligungen. Eine davon erlaubte ihm die Ausgrabung von Monumenten und Antiquitäten in Siwa, die andere bezog sich auf das Gouvernat Girga, zu dem das Gebiet Luxor zählt, wo sich auch Schepeneses Grabstätte befand. Von Minutolis Bewilligungen datieren vom November 1820. Schepenese ist aber bereits im August 1820 in St.Gallen angekommen. Das heisst, er hat die Mumie unmöglich legal ausgraben können.
Renate Siegmann, die das Schepenese-Buch geschrieben hat, aus dem auch Sie zitieren, argumentiert, dass von Minutoli mit Sicherheit die Mumie von Schepeneses Vater ausgegraben hat. Aber bis heute ist nicht klar, ob er auch Schepenese selber aus ihrem Grab genommen hat oder nicht. Im Grunde weiss niemand, wer sie ausgegraben hat.
Dann ist sie definitiv gestohlen!
Nur weil heute kein Dokument mehr auffindbar ist, das belegen könnte, dass Schepenese «legal» ausgegraben wurde, ist das nicht automatisch der Beweis für das Gegenteil. Möglicherweise hat einmal eine Genehmigung vorgelegen.
Wenn es keinen angemessenen schriftlichen Beweis dafür gibt, dass sie legal nach Europa gebracht wurde, muss sie als gestohlen betrachtet werden.
Falls dem so wäre: Aus wessen Besitz wurde Schepenese gestohlen? Wem gehört die Mumie? Und wer kann die legitime Nachfolge von einer antiken Kultur wie dem Alten Ägypten für sich beanspruchen?
Nun gut, das ist zuerst einmal sicher nicht die Schweiz. Es ist die indigene Bevölkerung, die kulturelle Kontinuitäten mit dem Alten Ägypten aufweist. Das Problem mit der Ägyptologie ist, dass sie zu Beginn eine rein westliche Wissenschaft war. Dort weigert man sich noch immer, auch die moderne ägyptische Gesellschaft zu studieren, weil man sich das Alte Ägypten angeeignet hat und nicht mehr hergeben will. Die kulturellen Verbindungen und Kontinuitäten wurden bisher nie angemessen erforscht und sind in der Literatur daher unterrepräsentiert. Darum glauben immer noch so viele Menschen, dass das antike Ägypten tot ist. Was es definitiv nicht ist.
An welche kulturellen Verbindungen und Kontinuitäten denken Sie konkret?
Artikel 27.1: Jeder Mensch hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich der Künste zu erfreuen und am wissenschaft- lichen Fortschritt und dessen Wohltaten teilzuhaben.
Zum Beispiel ist die ägyptische Sprache noch immer die koptische Kirchensprache. 30 Prozent des ägyptischen Arabisch bestehen aus altägyptischen Wörtern. Wir haben verschiedene Maulids und Feste der Heiligen, die Muslim:innen und die Christ:innen gleichermassen, die wir wahrscheinlich geerbt haben. In ländlichen Gebieten spielen uralte Magie und Zauberei noch immer eine wichtige Rolle. In Ägypten feiern wir noch heute den siebten Tag der Geburt eines Kindes, was dem altägyptischen Hathor-Brauch gleichkommt. Ich denke, mit mehr anthropologischer Forschung werden noch weitere enge Verbindungen zur altägyptischen Kultur sichtbar werden. Schepenese gehört kulturell den modernen Ägypter:innen – ausserdem auch legal, wenn man Artikel 27.1 der Menschenrechtserklärung ernst nimmt.
Abgesehen von juristischen Erwägungen, welche moralischen und ethischen Gründe gäbe es für eine Rückführung von Schepenese?
Heute diskutieren wir wieder vermehrt über den richtigen Umgang mit menschlichen sterblichen Überresten. Ist Schepenese für die Stiftsbibliothek eher ein Objekt oder ein Subjekt? Und was ist mit den Interessen Schepeneses? Sie wollte in Ägypten begraben sein, weil das die Art ist, wie man im Alten Ägypten über das Leben nach dem Tod dachte.
Gibt es auch eine feministische Perspektive? Immerhin haben seit ihrer Ausgrabung ausschliesslich weisse Männer über das Schicksal von Schepeneses Körper bestimmt.
Definitiv. Ich habe zu diesem Thema kürzlich einen Artikel geschrieben. Das Buchkapitel heisst Women are from Africa, Men are from Europe und diskutiert insbesondere diesen androzentrischen Zugriff weisser Männer auf Frauen aus alten afrikanischen Kulturen.
Es scheint eindeutig: Auf Schepeneses Sarkophag steht, dass sie in Theben beerdigt sein möchte.
Nicht zwangsläufig genau in Theben, aber Ägypter:innen wollten in Ägypten begraben sein. In ihrem Glauben können sie nur so ins Leben nach dem Tod eintreten.
Ihr Fachkollege Jan Assmann kritisiert die Art und Weise wie Schepenese in St.Gallen ausgestellt wird. Wie sollte sie denn ausgestellt werden, wenn überhaupt?
Natürlich sollte sie nicht so in St.Gallen ausgestellt sein wie jetzt. Sie muss dahin zurück, wo sie die letzten 200 Jahre hätte sein sollen. Schepenese wurde gestohlen.
Soll Schepenese in Ägypten ausgestellt werden?
Es gibt verschiedene Wege, wie man menschliche Überreste human und respektvoll der Öffentlichkeit präsentieren kann. Museen sollten das tun.
Könnte dies auch in St.Gallen möglich sein?
Die Stiftsbibliothek müsste das ohnehin um jeden Preis tun. Aber dieses Thema steht ausserhalb der Restitutionsfrage. Wir wollen sie zurück! Da gibt es kein «Okay, ihr könnt sie behalten, wenn ihr sie angemessen bedeckt». Das wird nicht funktionieren.
Auch in Ägypten sind viele Mumien ausgestellt und bei weitem nicht alle in der humanen und respektvollen Weise, die Sie einfordern. Wie steht es um diese Debatte in Ägypten?
Ja, dafür kämpfen wir auch in Ägypten. Ich schreibe gerade ein Paper über einen ethischen Umgang mit menschlichen Überresten in Ägypten und warum auch wir in Ägypten neue Wege finden müssen, wie wir Mumien angemessen zeigen. Es ist eine grosse Debatte in Ägypten. Schon in den 1970er-Jahren wollte der damalige Präsident Anwas as-Sadat menschliche Überreste aus der Öffentlichkeit verbannen. Damals allerdings aus religiösen, nicht aus ethischen Gründen.
Wie erklären Sie sich, dass Europa so stark an seinen altägyptischen Objekten hängt?
Wegen der kulturellen Macht und des kulturellen Imperialismus über das anthropologisch «Andere». Diese Objekte verleihen Prestige und das Gefühl der Überlegenheit, das kulturell ebenfalls starke «Andere» besiegt zu haben.
In der Schweiz und besonders in St.Gallen hat Schepenese das Interesse vieler Menschen an der altägyptischen Kultur erst entfacht. Was sagen Sie zu dieser Rolle der Schepenese als eine Art Kulturbotschafterin?
Das ist das dümmste und lächerlichste Argument. Die Rolle als Botschafterin bedingt einen diplomatischen Austausch. Es funktioniert nicht, wenn nur eine Partei eine Botschafterin entsendet und die andere nicht. Welches Objekt schweizerischer Kultur, das einen solchen Austausch legitimieren würde, haben wir denn in Ägypten? Ein solches Objekt gibt es nicht.
Wäre es also eine Lösung, im Gegenzug ein wertvolles Kulturgut nach Ägypten zu senden, wie das Milo Rau auch vorgeschlagen hat?
Nein, Schepenese muss zurückgebracht werden, weil sie gestohlen wurde. St.Gallen hat sie über 200 Jahre bei sich behalten und mit ihr viel Geld verdient. Jetzt sollte sie zurückkehren. Und vielleicht sollten wir sogar eine finanzielle Reparation fordern. Zum oft zitierten, hypothetischen kulturellen Austausch kann es in Zukunft durchaus kommen. Wenn St.Gallen etwas behalten will, muss es im Austausch dafür etwas hergeben. Aber zum jetzigen Zeitpunkt fordern wir die Korrektur des 200-jährigen historischen Fehlers. Und dabei geht es nicht nur um die Mumie, sondern auch um das Geld, das mit ihr verdient wurde.
Sollten alle altägyptischen Objekte zurück nach Ägypten oder nur die gestohlenen?
Nur die gestohlenen und die umstrittenen, die von den Ägypter:innen zurückgefordert werden.
Peter Fux, Direktor des Kulturmuseums St.Gallen, erwähnte im Saiten-Interview die UNESCO-Konvention von 1970, die besagt, dass alle Objekte, die nach diesem Stichjahr ins Ausland verbracht wurden, zurückgegeben werden sollen. Die Objekte, die davor weggeschafft wurden, können im Ausland bleiben. Diese Objekte wurden im Nachgang gewissermassen «legalisiert».
Es ist doch ein Unterschied, ob diese Objekte vor 1970 legal oder illegal weggebracht wurden. Schepenese ist definitiv illegal nach Europa gebracht worden. Kommt hinzu, dass die erwähnte Konvention vorwiegend von westlichen Gelehrten geschrieben wurde. Aber es ist kein heiliger Text. Wir haben das Recht, diese Konvention heute anzuzweifeln und zu kritisieren.
Es gibt ausserdem die Vereinbarung zwischen der Schweiz und Ägypten von 2011. Sie regelt den Umgang mit problematischen oder gestohlenen Gütern sowie deren Restitution. Es gäbe also auch den offiziellen Weg.
Daran arbeiten wir. Noch in der ersten Jahreshälfte 2023 wird die Schweiz eine offizielle Anfrage zur Restitution der St.Galler Mumie vom ägyptischen Aussenministerium erhalten.
Im «Tagblatt» sagten Sie, Sie stünden mit dem ägyptischen Aussenministerium in Kontakt und seien gebeten worden, den Text dieser offiziellen Anfrage vorzuformulieren. Können Sie uns dazu schon Genaueres berichten?
Das ist immer noch ein Work in progess.
Falls Schepenese eines Tages heimkehren sollte: Wohin würde sie gebracht? Wer soll nun über ihren Körper bestimmen?
Die Entscheidung liegt beim Ägyptischen Ministerium für Altertümer. Persönlich bin ich der Meinung, dass Schepenese ins Luxor Museum gebracht werden sollte, also in die Nähe zum Ort, wo sie begraben war. Es wäre auch interessant, sie in einer kreativeren Art auszustellen, als es jetzt der Fall ist, vielleicht ohne sie direkt zu zeigen, mit geschlossenem Sarkophag. So könnte sie in Frieden ruhen. Und vielleicht gelingt es uns eines Tages sogar, ihren Vater aus Berlin zurückzuholen und die Familie wiederzuvereinigen.
Monica Hanna, 1983, ist Professorin und Dekanin am College für Archäologie und Kulturelles Erbe an der Arab Academy for Science, Technology and Maritime Transport in Assuan. Sie studierte Ägyptologie und Archäologische Chemie an der American University in Kairo und schloss ihr Doktorat in Pisa ab. Ihre Post-Doc-Studien absolvierte sie an der Humboldt-Universität in Berlin. 2014 wurde sie von der UNESCO zur «Monuments Woman of the Year» ernannt. 2020 wurde sie zu einer der 50 einflussreichsten Frauen Ägyptens gewählt. Ihre aktuelle Forschungsarbeit konzentriert sich auf die Dekolonisierung der Archäologie, Repatriierung und Restitution sowie die Förderung des öffentlichen Zugangs zu Archäologie und kulturellem Erbe, mit einem besonderen Fokus auf Digitale Geisteswissenschaften (Digital Humanities).