«Wir wollen in erster Linie Geschichten erzählen»

Seit zehn Jahren steuern Frauke Jacobi und Stephan Zbinden das Figurentheater St.Gallen durch teils unruhige, manchmal aber auch allzu stille Gewässer. Zum Auftakt ihrer elften Spielzeit spricht das Paar über das Ankommen in St.Gallen, gekillte Darlings und den Zustand der Figurentheaterszene in der Deutschschweiz.

Stephan Zbinden und Frauke Jacobi. (Bilder: Andri Vöhringer) 

Sai­ten: Wie seid ihr ei­gent­lich zum Pup­pen- und Fi­gu­ren­thea­ter ge­kom­men?

Frau­ke Ja­co­bi: Ich woll­te schon mit zehn Jah­ren Pup­pen­spie­le­rin wer­den und ha­be mei­nen Wunsch zum Be­ruf ge­macht. Vor­her ha­be ich aber noch «was Or­dent­li­ches» ge­lernt, näm­lich Kran­ken­schwes­ter. Da­nach ha­be ich an der Hoch­schu­le Ernst Busch in Ber­lin vier Jah­re lang zeit­ge­nös­si­sches Pup­pen­spiel stu­diert und ma­che es seit­dem mit Herz­blut.

Ste­phan Zbin­den: Ur­sprüng­lich bin ich Wirt­schafts­in­for­ma­ti­ker. Wenn man mit ei­ner frei­en Kul­tur­schaf­fen­den zu­sam­men­lebt, ver­ein­nahmt ei­nen die­ses Le­ben au­to­ma­tisch. Am An­fang war ich Ge­le­gen­heitschauf­feur und über­nahm dann lau­fend mehr Pro­duk­ti­ons-, Tech­nik- und Ma­nage­ment­auf­ga­ben. Auf den Tour­neen ha­ben wir im­mer auch in St.Gal­len Halt ge­macht. 2013 hat uns To­bi­as Ry­ser an­ge­fragt, ob wir uns für sei­ne Nach­fol­ge als Lei­tung des Fi­gu­ren­thea­ters be­wer­ben woll­ten. Das war ei­gent­lich gar nicht auf un­se­rem Ra­dar, aber wir ha­ben schon frü­her mit dem Ge­dan­ken ge­spielt, viel­leicht ir­gend­wann ein­mal ein Thea­ter zu über­neh­men, so­bald die Kin­der aus­ge­flo­gen sind. Die Be­wer­bung für St.Gal­len war für uns zu­nächst eher ein Test­lauf.

Mit wel­cher Idee seid ihr 2013 an­ge­tre­ten? Was woll­tet ihr ver­än­dern?

FJ: Das war ei­ne sach­te Über­nah­me. Wir muss­ten zu­erst mit den Ge­ge­ben­hei­ten ei­nen Um­gang fin­den. To­bi­as Ry­sers Thea­ter war sehr viel­sei­tig, aber durch mein Stu­di­um an der Ernst Busch hat­te ich noch­mals ein brei­te­res Re­per­toire zur Ver­fü­gung: Ani­ma­ti­ons­fil­me, Mas­ken­spiel, Ob­jekt­thea­ter, Schat­ten­spiel und so wei­ter. Ich ha­be nichts neu er­fun­den, aber viel­leicht ei­ne grös­se­re For­men­viel­falt rein­ge­bracht.

SZ: Wir woll­ten das Fi­gu­ren­thea­ter auch pro­fes­sio­na­li­sie­ren. Zu Be­ginn oh­ne zu­sätz­li­ches Bud­get. So kam es auch zu ver­mehr­ten Ko­ope­ra­tio­nen mit der Frei­en Sze­ne und Hoch­schu­len. Oh­ne die­se Part­ner­schaf­ten wä­re es nicht ge­gan­gen.

FJ: Als freie Pup­pen­spie­le­rin war man mit sei­nen Stü­cken auf Tour­nee. An ei­nem fes­ten Ort et­was Ei­ge­nes auf­zu­bau­en, hat­te auch sei­nen Reiz. Vor­her war die Fra­ge im­mer: Wo kann ich pro­ben? Wo kann ich spie­len? Nun konn­ten wir an ei­nem Ort blei­ben und das Pu­bli­kum zu uns ho­len.

SZ: Das gibt Kon­ti­nui­tät, man hüpft nicht im­mer von Pro­duk­ti­on zu Pro­duk­ti­on, man kann et­was über län­ge­re Zeit ent­wi­ckeln. Der Wech­sel vom Ama­teur- zum pro­fes­sio­nel­len Be­trieb dau­er­te rund sechs Jah­re. Ei­ni­ge Leu­te fan­den am An­fang, es sei scha­de, dass wir nicht gleich al­les auf den Kopf stell­ten. Das hät­ten wir uns aber schon fi­nan­zi­ell nicht leis­ten kön­nen. Dass sich den­noch ei­ni­ge Leu­te von frü­her mit uns auf den Weg ge­macht ha­ben, war sehr wich­tig, ge­ra­de wenn man von aus­wärts nach St.Gal­len kommt. Am An­fang ha­ben wir ganz be­wusst nie­man­den aus Zü­rich mit­ge­nom­men und vor al­lem mit lo­ka­len Künst­ler:in­nen zu­sam­men­ge­ar­bei­tet.

Nebst dem Er­ar­bei­ten neu­er, ei­ge­ner Pro­duk­tio­nen ka­men das Ver­wal­ten der Räum­lich­kei­ten und der Auf­bau ei­nes Netz­wer­kes hin­zu. Wie war das für euch?

FJ: Schon nicht ganz ein­fach. To­bi­as ist ja dann ziem­lich bald ge­stor­ben.

SZ: To­bi­as hat uns in der kur­zen Zeit, in der er noch da war, je­den ro­ten Tep­pich aus­ge­rollt, den er konn­te. Aber es gibt kaum et­was Schrift­li­ches von ihm. Er hat­te ein­fach ei­nen gros­sen Kopf, in dem al­les drin war.

FJ: Die Stück­fas­sun­gen, die un­se­re Vor­gän­ger ge­macht ha­ben, sind na­tür­lich im Ar­chiv. Et­wa ein hal­bes Jahr vor un­se­rer ers­ten Spiel­zeit ha­ben wir an­ge­fan­gen, die La­ger zu räu­men. Der Fun­dus war voll­ge­stopft mit Ma­te­ri­al ver­gan­ge­ner Pro­duk­tio­nen, teils so­gar noch von To­bi­as’ Vor­gän­ger, dem Grün­der des Fi­gu­ren­thea­ters Hans Hil­ler. Ein Teil der Samm­lung ging schon vor­her hin­über ins Kul­tur­mu­se­um (frü­her: His­to­ri­sches und Völ­ker­kun­de­mu­se­um, Anm.d.Red.). Und wir ha­ben auch be­reits ei­nen Teil aus un­se­rer Zeit hin­über­ge­bracht.

SZ: Vor uns hat wohl nie je­mand rich­tig auf­ge­räumt.

FJ: Das muss­te sein für ei­nen Neu­an­fang. Wir ha­ben die Räum­lich­kei­ten, Bü­ro, La­ger etc. neu ge­dacht und re­la­tiv rasch ei­ne neue Werk­statt ein­ge­rich­tet.

SZ: Das Ent­rüm­peln war ei­ne Rie­sen­auf­ga­be. Auch hier­bei hat uns To­bi­as ei­ne gros­se Last von den Schul­tern ge­nom­men, in­dem er ge­sagt hat, wir sol­len un­ser Ding ma­chen und uns von nie­man­dem rein­re­den las­sen.

Wel­che Stü­cke der letz­ten zehn Jah­re ka­men beim Pu­bli­kum be­son­ders gut an? Und was hat euch künst­le­risch am meis­ten ge­freut?

FJ: Was uns gros­se Freu­de ge­macht hat und was wir auch mit ei­nem trä­nen­den Au­ge ver­ab­schie­det ha­ben, sind die Ger­trud-Shows, wo sich stadt- und so­gar lan­des­weit be­kann­te Gäs­te auf den «Schleu­der­sitz» setz­ten und sich Ger­truds gal­li­gen Fra­gen stell­ten. Ab 2020 ha­ben wir das Er­wach­se­nen­pro­gramm ein­ge­stellt, weil wir uns auf das Kin­der- und Ju­gend­thea­ter fo­kus­sie­ren woll­ten.

SZ: Ger­trud hat­te schon fast ein biss­chen Kult­cha­rak­ter.

FJ: Ja, das wa­ren zwar in der Vor­be­rei­tung sehr auf­wän­di­ge Aben­de, es hat aber auch sehr viel Spass ge­macht. Ger­trud gibts im­mer noch, und weil sie im­mer mal wie­der aus dem Fun­dus ruft, sitzt sie heu­te beim Sai­ten-In­ter­view mit am Tisch. Es ist echt ei­ne tol­le Pup­pe, Mech­tild Nien­aber hat sie ge­baut. Die Zu­sam­men­ar­beit mit pro­fes­sio­nel­len Pup­pen­bau­er:in­nen ist eben­falls ein Teil der Pro­fes­sio­na­li­sie­rung des Fi­gu­ren­thea­ters.

Um auf dei­ne ers­te Fra­ge zu­rück­zu­kom­men: Die Pu­bli­kums­ma­gne­te der letz­ten Jah­re wa­ren un­ter an­de­rem si­cher Das klei­ne schwar­ze Schaf und die Bre­mer Stadt­mu­si­kan­ten, mit de­nen wir auch viel auf Gast­spiel wa­ren.

SZ: Das klei­ne schwar­ze Schaf ist ei­ne mo­bi­le Pro­duk­ti­on, die wir wäh­rend der Co­ro­na­zeit oh­ne Pro­duk­ti­ons­part­ner ent­wi­ckel­ten. Auf der Büh­ne spiel­ten mit Lu­kas Boll­hal­der und Mu­si­ker Wil­li Hä­ne «ei­ge­ne» Leu­te. Es muss­te tech­nisch mög­lichst ein­fach und im Frei­en spiel­bar sein. Die­se Idee der Ein­fach­heit funk­tio­nier­te. Das Stück wur­de in der gan­zen Schweiz, im Vor­arl­berg und in Liech­ten­stein rauf und run­ter ge­spielt.

Das Fi­gu­ren­thea­ter St.Gal­len geht im­mer noch auf Tour?

FJ: Letz­tes Jahr ha­ben wir über 70 Gast­spie­le ge­ge­ben. So viel wie noch nie.

SZ: Das ist kon­ti­nu­ier­lich ge­wach­sen. Man hat uns bei par­la­men­ta­ri­schen Ver­hand­lun­gen über Sub­ven­ti­ons­er­hö­hun­gen je­weils feh­len­de na­tio­na­le Aus­strah­lung vor­ge­wor­fen. Das müs­sen wir ein Stück weit auch auf uns neh­men und bes­ser kom­mu­ni­zie­ren. Wir ha­ben an­ge­fan­gen, auch die Gast­spie­le auf der Web­site auf­zu­schal­ten, auch wenn sich da­nach ei­ni­ge we­gen feh­len­der Über­sicht­lich­keit be­klagt ha­ben. In St.Gal­len fra­ge ich mich manch­mal, ob Tra­di­ti­on mehr Fluch oder Se­gen ist. Hier gel­ten wir oft noch als kon­ser­va­ti­ve, et­was ab­ge­kap­sel­te Kul­tur­in­sti­tu­ti­on, im Rest der Schweiz hin­ge­gen als in­no­va­ti­ves Kin­der- und Ju­gend­thea­ter. Das ist nicht nur nach­tei­lig: Tra­di­ti­on gibt ei­nem auch ei­ne ge­wis­se Sta­bi­li­tät, man wird nicht im­mer gleich von über­all her be­schos­sen.

Ist die­se Ge­ring­schät­zung et­was spe­zi­fisch St.Gal­li­sches?

SZ: In St.Gal­len – aber wo­mög­lich auch an­ders­wo – ma­chen die Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen häu­fig ein­fach ihr Ding, und ich fän­de es sehr wich­tig, wenn man wie­der mehr auf­ein­an­der zu­ge­hen wür­de. Wie das jetzt bei­spiels­wei­se bei der In­itia­ti­ve «Das Haus» ein Stück weit pas­siert.

FJ: Es war su­per, dass wir beim Ju­bi­lä­um des Pa­lace-Ge­bäu­des und bei der Er­öff­nung vom Haus Olé da­bei sein durf­ten und zum Bei­spiel am Gra­ben­hal­len-Ju­bi­lä­um, im Kul­tur­mu­se­um und auch im­mer wie­der in der Bi­blio­thek St.Ka­tha­ri­nen spie­len kön­nen.

SZ: Sol­che Ko­ope­ra­tio­nen wünsch­te ich mir mehr in St.Gal­len, man nimmt ein­an­der ja nichts weg, im Ge­gen­teil: Es ist im­mer sehr be­rei­chernd.

Wie ha­ben sich die Pu­bli­kums­zah­len in den letz­ten zehn Jah­ren ent­wi­ckelt?

SZ: Am An­fang ha­ben wir Pu­bli­kum ver­lo­ren. Das ist ein Stück weit nor­mal, wenn man et­was er­neu­ert. So ab 2018/19 war die Bu­de dann wie­der rich­tig voll, bis der Co­ro­na-Cut kam. Seit­her ist das Pu­bli­kums­ver­hal­ten an­ders.

FJ: Die Leu­te sind viel spon­ta­ner ge­wor­den.

Denkt ihr wie­der über ein Er­wach­se­nen­pro­gramm nach? Es gibt Stim­men, die die­ses ver­mis­sen.

SZ: Sag nie­mals nie. Der Ent­scheid ge­gen das Er­wach­se­nen­pro­gramm war ein «kill your dar­ling». Wir hat­ten schlicht nicht mehr die Res­sour­cen, um bei­de An­ge­bo­te mit un­se­rem Qua­li­täts­an­spruch stem­men zu kön­nen. Wir mach­ten dann die Ana­ly­se: Fürs klas­si­sche Ü50-Thea­ter­pu­bli­kum gibt es be­reits ein brei­tes An­ge­bot in St.Gal­len, aber nie­mand will das we­ni­ger pres­ti­ge­träch­ti­ge Kin­der- und Ju­gend­thea­ter ma­chen. Das ist un­se­re Kern­stär­ke.

Spielt der Ver­zicht auf das Er­wach­se­nen­pro­gramm mit bei der Wahr­neh­mung in­ner­halb St.Gal­lens?

FJ: Da bin ich mir nicht si­cher. Wir hat­ten schon vor Co­ro­na kein Er­wach­se­nen­pro­gramm mehr, und da liefs ja sehr gut. Stü­cke wie Lö­wen­her­zen oder Ro­meo und Ju­lia, die sich durch­aus auch an ein er­wach­se­nes Pu­bli­kum rich­ten, ha­ben wir auch abends ge­spielt. Es ka­men trotz­dem nicht vie­le Er­wach­se­ne.

SZ: In der Kul­tur wie im Sport oder an­ders­wo gilt: So­bald du et­was im Kin­der- und Ju­gend­be­reich machst, gibts da­für ein­fach we­ni­ger An­er­ken­nung. Als wir den Ent­scheid für den Fo­kus aufs Kin­der- und Ju­gend­an­ge­bot be­kannt ga­ben, kam aus dem Kul­tur­ku­chen die Rück­mel­dung: Hey, war­um macht ihr euch so klein?

«Ich behandle alle Stücke gleich, egal, ob sie für Erwachsene oder Kinder sind. Der künstlerische Anspruch ist für mich derselbe.»

Frauke Jacobi

FJ: Das The­ma be­glei­tet mich schon mein hal­bes Le­ben. Das Kin­der- und Ju­gend­thea­ter hat­te in mei­ner Ar­beit im­mer Vor­rang. Ich be­hand­le al­le Stü­cke gleich, egal, ob sie für Er­wach­se­ne oder Kin­der sind. Der künst­le­ri­sche An­spruch ist für mich der­sel­be. Kin­der sind als Pu­bli­kum viel pu­rer und ehr­li­cher. Wenn wir ih­nen kein gu­tes An­ge­bot lie­fern, wer­den sie spä­ter ten­den­zi­ell auch nicht ins Thea­ter ge­hen. Den­noch wird man oft be­lä­chelt. Ich ken­ne ei­ni­ge Schau­spie­ler:in­nen, die an ei­nem Kin­der und Ju­gend­thea­ter ge­ar­bei­tet ha­ben und es sehr schwer hat­ten, an Thea­tern für Er­wach­se­ne en­ga­giert zu wer­den. Ich se­he da aus­ser der Wahl der Stof­fe und der Dau­er der Stü­cke kei­nen Un­ter­schied, und es ist be­dau­er­lich, wenn manch ei­ner es als Thea­ter zwei­ter Klas­se be­trach­tet.

Wel­che Stof­fe funk­tio­nie­ren im Kin­der- und Ju­gend­thea­ter gut?

FJ: Das kommt im­mer drauf an. Wenns ei­nen be­kann­ten Ti­tel hat, läufts in der Re­gel bes­ser. Die Weih­nachts­zeit läuft eh gut. Wir müs­sen grund­sätz­lich schau­en, dass das An­ge­bot viel­fäl­tig ist. Wir wol­len nicht nur be­kann­te Stof­fe be­ar­bei­ten. Das Hoch­ar­bei­ten in den Al­ters­stu­fen bleibt aber ei­ne Her­aus­for­de­rung. Die Sa­chen ab vier Jah­ren lau­fen im­mer gut, aber ab zehn wirds so­fort schwie­rig. Da su­chen wir im­mer auch die Zu­sam­men­ar­beit mit Schu­len.

Gleich ge­gen­über liegt die Kan­tons­schu­le. Könn­te nicht ge­ra­de das ein po­ten­zi­ell in­ter­es­sier­tes Ju­gend­pu­bli­kum sein?

FJ: Ganz schwer. Das funk­tio­niert höchs­tens über die Leh­rer:in­nen, aber die ori­en­tie­ren sich in der Re­gel am Thea­ter St.Gal­len. Die ge­hen lie­ber in die Klas­si­ker.

SZ: Das Schul­an­ge­bot ist ge­nau­so wich­tig wie das öf­fent­li­che. Wir bie­ten zu al­len Stü­cken thea­ter­päd­ago­gi­sches Be­gleit­ma­te­ri­al an, die Schu­len wer­den mit ei­nem spe­zi­el­len re­dak­tio­nel­len News­let­ter in­for­miert etc. Mit der Un­ter­stu­fe konn­ten wir uns be­reits ei­nen gu­ten Aus­tausch er­ar­bei­ten. Das müss­te uns jetzt auch in der Ober­stu­fe ge­lin­gen. Doch mit 240 Stel­len­pro­zent auf fünf Per­so­nen ver­teilt wird das per­so­nell schnell knapp. Wir sind jetzt dar­an, in ei­nem Pi­lot­pro­jekt mit der Thea­ter­päd­ago­gin Edith Zwy­gart noch ak­ti­ver in die Schu­len zu ge­hen.

Wel­che Stü­cke eig­nen sich denn für Ju­gend­li­che? Wel­che Bot­schaf­ten wol­len sie hö­ren?

FJ: Beim Al­ter ab zehn ha­ben wir mal mit dem klei­nen Prin­zen an­ge­fan­gen, auch bei den äl­te­ren ist mit Ro­meo und Ju­lia ein Klas­si­ker zum Zug ge­kom­men. Für ei­nen An­fang schie­nen uns be­kann­te Ti­tel an­ge­bracht. Das hat auch gut funk­tio­niert. Lö­wen­her­zen von Ni­no Ha­ra­ti­schwi­li hat ei­nen we­ni­ger be­kann­ten Ti­tel und wird in der neu­en Spiel­zeit wie­der auf­ge­führt. Es geht um Kin­der­pro­ble­me auf der gan­zen Welt. Es ist ei­gent­lich ein po­li­ti­sches Stück, aber trotz­dem aus ei­ner kind­li­chen Per­spek­ti­ve. Am En­de ver­mit­telt es Hoff­nung, es han­delt von mu­ti­gen Kin­dern, die et­was un­ter­neh­men.

SZ: Es gibt auch noch die Klas­sen­zim­mer­stü­cke Pet­ty Ein­weg oder Ge­teil­tes Leid, die aus­schliess­lich an den Schu­len ge­spielt wer­den.

FJ: Ge­teil­tes Leid be­han­delt das The­ma Krieg im Kon­text des Nah­ost­kon­flikts. Bei Pet­ty Ein­weg, ei­ner Ei­gen­pro­duk­ti­on von uns, gehts um das The­ma Um­welt.

Ist das – bei al­ler Qua­li­tät, die die Stü­cke ha­ben – nicht auch et­was gar päd­ago­gisch, et­was viel Mo­ral und we­nig Leich­tig­keit?

FJ: Wir wol­len vor al­lem Ge­schich­ten er­zäh­len, oh­ne mo­ra­li­schen Zei­ge­fin­ger. Aber ei­ne Aus­sa­ge gibts na­tür­lich im­mer.

Fest zum Saisonbeginn

Zum Auf­takt in die elf­te Spiel­zeit von Frau­ke Ja­co­bi und Ste­phan Zbin­den ver­an­stal­tet das Fi­gu­ren­thea­ter St.Gal­len ein Fest für die gan­ze Fa­mi­lie. Mit Glücks­rad, Sei­fen­bla­sen, Schmink­tisch, Bas­tel­ecke, Zu­cker­wat­te und an­de­ren süs­sen und sal­zi­gen Le­cke­rei­en. Hö­he­punkt ist ei­ne aus­ser­ge­wöhn­li­che Pre­mie­re: Die neue Ei­gen­pro­duk­ti­on Rot­käpp­chen kommt ganz oh­ne Wor­te aus.

Sai­son­auf­takt-Fest: 14. Sep­tem­ber, 14:30 Uhr (Pre­mie­re Rot­käpp­chen), Fi­gu­ren­thea­ter St.Gal­len

fi­gu­ren­thea­ter-sg.ch

Wo­hin ent­wi­ckelt sich denn eu­rer Mei­nung nach das mo­der­ne Fi­gu­ren­thea­ter? Ist das spar­ten­über­grei­fen­de Ex­pe­ri­ment wich­tig oder sind so­gar Rück­be­sin­nun­gen zum klas­sisch ver­deck­ten Pup­pen­spiel wie­der denk­bar?

FJ: Im Grun­de ist al­les denk­bar. Am 14. Sep­tem­ber zum Sai­son­start-Fest zu un­se­rer 11. Spiel­zeit spie­len wir die Pre­mie­re von Rot­käpp­chen, ein Stück oh­ne Wor­te mit zwei Mu­si­ke­rin­nen. Es ist ei­ne Art mu­si­ka­li­sches Roll­ki­no auf Pa­pier, bei dem die Kin­der oh­ne Sprach­bar­rie­re die Ge­schich­te se­hen kön­nen. Al­so mal was ganz an­de­res. Bei Oh wie schön ist Pa­na­ma von Ja­nosch, das wir in die­ser Spiel­zeit mit neu­er Be­set­zung wie­der auf­neh­men, ist ein Teil ja auch ver­deckt und al­so fast ein biss­chen klas­sisch. Bei Ei­gen­pro­duk­tio­nen wird im­mer der Be­zug zum Ma­te­ri­al und zu den Fi­gu­ren da sein.

Ist das Fi­gu­ren­thea­ter­pu­bli­kum heu­te ein an­de­res als vor zehn Jah­ren – ab­ge­se­hen von der Post-Co­ro­na-Spon­ta­nei­tät?

FJ: Ich ha­be den Ein­druck, das Pu­bli­kum ist trotz al­ler Ent­wick­lun­gen of­fe­ner ge­wor­den. Das ma­che ich zum Bei­spiel an den Rück­mel­dun­gen fest, die frü­her si­cher öf­ter kri­tisch wa­ren. Ich weiss jetzt aber gar nicht, ob das ein gu­tes oder ein schlech­tes Zei­chen ist. Sind wir am En­de doch wie­der zu seicht und zu lieb ge­wor­den?

Wo gabs denn be­son­ders viel Kri­tik?

FJ: Es gab be­stimm­te Stü­cke wie zum Bei­spiel Eins, zwei, drei, vor­bei, das das gan­ze Le­ben von der Ge­burt bis zum Tod um­fass­te. Dass wir ge­zeigt ha­ben, wie Knet­fi­gu­ren ge­stor­ben sind, ging wohl vie­len zu weit – vor al­lem den El­tern.

SZ: Die Kin­der hat­ten kein Pro­blem da­mit. Der Pu­bli­kums­rück­gang seit Co­ro­na ist kein Fi­gu­ren­thea­ter­pro­blem, das spü­ren al­le. Ich mer­ke, dass die Leu­te et­was se­hen möch­ten, das sie da­nach mit ei­nem po­si­ti­ven Ge­fühl ent­lässt. Ein Be­dürf­nis, das ich an­ge­sichts der ak­tu­el­len Welt­la­ge sehr gut nach­voll­zie­hen kann.

FJ: Ge­schich­ten, die gut aus­ge­hen, wie in Mär­chen oder in der Fan­ta­sy-Li­te­ra­tur, kom­men gut an, und sie las­sen sich trotz­dem mit un­se­rer Welt ver­bin­den.

Um mit dem jun­gen Pu­bli­kum in Aus­tausch zu blei­ben, habt ihr den Jun­gen Thea­ter­rat eta­bliert. Wie funk­tio­niert der?

FJ: Das sind um die acht oder neun Kin­der von sie­ben bis 15 oder 16 Jah­ren, mit de­nen ich mich im­mer mal wie­der tref­fe, sei es, um The­men zu be­spre­chen oder um ge­mein­sam ein Stück an­zu­schau­en und die­ses zu dis­ku­tie­ren. Auch mit Schul­klas­sen or­ga­ni­sie­ren wir Haupt­pro­ben­be­su­che. Da kom­men im­mer wert­vol­le Rück­mel­dun­gen, die in die In­sze­nie­run­gen ein­flies­sen. Auch las­sen wir uns gern bei der The­men­aus­wahl für künf­ti­ge Pro­duk­tio­nen in­spi­rie­ren.

Wie steht es heu­te um die Ver­net­zung der Fi­gu­ren­thea­ter­sze­ne in der Schweiz?

FJ: Es gibt zum Bei­spiel das Jung­spund-Fes­ti­val. Dar­in sind aber al­les Spar­ten für ein jun­ges Pu­bli­kum ver­tre­ten. Fi­gu­ren­thea­ter­fes­ti­vals gibt es al­le zwei Jah­re in Ba­sel und Ba­den.

SZ: Die gan­ze Fi­gu­ren­thea­ter­sze­ne hat sich auch ganz un­ter­schied­lich wei­ter­ent­wi­ckelt. Das Thea­ter Sta­del­ho­fen in Zü­rich ist mit sei­nem «Thea­ter der Din­ge» mitt­ler­wei­le et­was wei­ter weg vom Fi­gu­ren­thea­ter. Win­ter­thur und Wet­tin­gen sind an­spruchs­vol­le Gast­spiel­be­trie­be. Die Ama­teur­be­trie­be Bern und Ba­sel funk­tio­nie­ren noch wie vor 50 Jah­ren.

Wie steht es um die freie Sze­ne?

FJ: In der Ost­schweiz gibt es zum Bei­spiel Se­bas­ti­an Ry­ser, Ra­hel Wohl­ge­n­sin­ger und Kath­rin Boss­hard die an der Ernst Busch stu­diert ha­ben. Auch schweiz­weit gibt es wie­der jün­ge­re Pup­pen­spie­ler:in­nen, die die Sze­ne be­le­ben. Seit die­sem Som­mer trifft sich die freie Deutsch­schwei­zer Fi­gu­ren­thea­ter­sze­ne et­wa fünf Mal pro Jahr zum Aus­tausch. Das ers­te Tref­fen war an der Fi­gu­ra in Ba­den, das nächs­te fin­det in Biel statt. Nach ei­nem Ge­ne­ra­tio­nen­wech­sel in den Ver­bän­den ist in jüngs­ter Zeit wie­der ei­ne Art Auf­bruch­stim­mung zu spü­ren. Da geht et­was!

Und wel­che mit­tel- bis län­ger­fris­ti­gen Plä­ne hegt das Fi­gu­ren­thea­ter St.Gal­len?

SZ: Per­sön­lich spü­re ich manch­mal, dass ich – oh­ne es zu wol­len – nach zehn Jah­ren viel­leicht et­was in ei­ne Art Be­triebs­blind­heit ver­fal­len bin. Aber da­ge­gen lässt sich na­tür­lich et­was un­ter­neh­men. Wir wol­len si­cher un­se­re Ko­ope­ra­tio­nen mit an­de­ren Leu­ten und In­sti­tu­tio­nen in­ten­si­vie­ren. Das Fi­gu­ren­thea­ter soll auch die nächs­ten zehn Jah­re nicht ein­fach ein Ja­co­bi-Zbin­den-Ding sein.

FJ: In der letz­ten Spiel­zeit ha­ben wir un­se­ren neu­en gra­fi­schen Auf­tritt prä­sen­tiert. Das war ei­ne ziem­li­che Kis­te. Für die Zu­kunft ha­ben wir noch ei­ni­ge Plä­ne, die nicht nur das Pro­gramm be­tref­fen. Ab­ge­se­hen vom thea­ter­päd­ago­gi­schen Pi­lot­pro­jekt an den re­gio­na­len Ober­stu­fen ist das meis­te aber noch nicht spruch­reif. Aus­ser­dem ste­cken wir be­reits in den Vor­be­rei­tun­gen für das 70-Jahr-Ju­bi­lä­um 2026. Da wol­len wir aber noch nicht zu viel ver­ra­ten.

Frau­ke Ja­co­bi, 1971, ist in Wei­mar ge­bo­ren und auf­ge­wach­sen und hat nach ei­ner Aus­bil­dung zur Kran­ken­pfle­ge­rin an der Hoch­schu­le für Schau­spiel Ernst Busch in Ber­lin zeit­ge­nös­si­sches Pup­pen­spiel stu­diert. Da­nach spiel­te sie als freie Spie­le­rin und an di­ver­sen Thea­tern im deutsch­spra­chi­gen Raum fest an­ge­stellt. Seit 2013 lei­tet sie – zu­sam­men mit ih­rem Part­ner Ste­phan Zbin­den – als künst­le­ri­sche Lei­te­rin das Fi­gu­ren­thea­ter St.Gal­len.

Ste­phan Zbin­den, 1968, ist in Biel auf­ge­wach­sen und hat bis 45 auf sei­nem Erst­be­ruf Wirt­schafts­in­for­ma­ti­ker ge­ar­bei­tet. Ne­ben­bei spiel­te er in­ten­siv Uni­ho­ckey, trai­nier­te Ju­gend­li­che und wand­te sich erst spä­ter der Kul­tur zu, als er die Pup­pen­spie­le­rin Frau­ke Ja­co­bi ken­nen­lern­te und mit ihr in Zü­rich zu­sam­men­zog. Was als Ge­le­gen­heitschauf­feur und -tech­ni­ker be­gann, mün­de­te in ei­ner Kul­tur­ma­nage­ment­aus­bil­dung im Stap­fer­haus in Lenz­burg. Seit 2013 lei­tet er – zu­sam­men mit sei­ner Part­ne­rin – als kauf­män­ni­scher und tech­ni­scher Lei­ter das Fi­gu­ren­thea­ter St.Gal­len.

fi­gu­ren­thea­ter-sg.ch