«Wir sitzen in der Warteschlaufe»

Warum die Kultur ebenso systemrelevant ist wie andere Dinge der gesellschaftlichen Grundversorgung, wie man plant in Zeiten ohne Sicherheit und was die grossen Filmfestivals für die Branche bedeuten: Kinok-Leiterin Sandra Meier im Gespräch.
Von  Corinne Riedener
Bild: Hannes Thalmann

Saiten: Das Kinok hat ein Rekordjahr hinter sich. Mitte März musstet ihr, wie alle anderen Kulturinstitutionen auch, schliessen. Wie viel ist von diesem Polster noch übrig?

Sandra Meier: Zum Glück hatten wir 2019 ein gutes Jahr. Wir haben ein Polster, darüber bin ich angesichts dieser Krise sehr froh. Mittlerweile hat das Kinok 22 Voll- und Teilzeitangestellte. Die Rücklagen sind wichtig, da wir keine Ahnung haben, wie es weitergeht: Können wir künftig wieder jeden zweiten Sitz frei lassen wie vor dem Lockdown, oder werden es in Zukunft zwei Meter sein? Wenn ja, würden wir nicht einmal mehr 30 Leute in den Saal bringen, das wäre verheerend. Im Moment ist alles sehr kompliziert; wir werden erst am 27. Mai mehr Klarheit haben, unter welchen Voraussetzungen das Kino weiterbetrieben werden kann. Und Corona wird uns wahrscheinlich noch lange beschäftigen.

Könnt ihr den Schaden schon ungefähr beziffern?

Es waren über 100’000 Franken in den vergangenen zwei Monaten. Dank unserer Rücklagen und der Hilfeleistung der Kurzarbeit ist der Schaden im Moment noch nicht existenzbedrohend, aber wir wissen wie gesagt noch nicht, wie das alles weitergeht. Im Gegensatz zu vielen anderen sind wir aber in einer komfortablen Situation, da die Lokremise ein wichtiger Kulturort ist für die Stadt und die Region. Sowohl die Stadt als auch der Kanton haben ein Interesse daran, dass dieser Ort bestehen bleibt. Ich bin darum guter Dinge, dass wir das schaffen.

Die Kulturszene trifft es trotzdem am härtesten.

Natürlich. «Kultur» besteht ja gerade darin, dass man zusammenkommt, sich gemeinsam etwas anschaut und gemeinsam an etwas teilnimmt. Das gehört zur Essenz. Wir wollen das kulturelle Leben nicht einfach bis in den Herbst oder noch länger suspendieren, Kultur ist genauso systemrelevant und wichtig wie andere Branchen. Wir wollen Filme zeigen, unseren Saal für das Publikum öffnen und werden alles tun, damit unsere Gäste und Angestellten sicher sind.

Ihr habt während des Lockdowns die Lüftung revidiert. Was habt ihr in den letzten zwei Monaten sonst noch gemacht?

In der ganzen Lokremise wurden die Lüftungen überprüft und die Filter gewechselt. Im Kinok wurden diverse Wartungsarbeiten gemacht, für die wir in normalen Zeiten hätten schliessen müssen, unter anderem haben wir ein Projektionsfenster vergrössert und einiges frisch gestrichen. Ausserdem haben wir uns jede Woche getroffen und diverse Szenarien durchgespielt. Unser Aprilprogramm ist kurz vor Drucklegung zusammengebrochen, da wegen Corona plötzlich Filmstarts verschoben wurden. Danach kam gleich der Lockdown. Die Kinowelt ist international vernetzt. Wenn die Deutschlandpremiere eines deutschen Films verschoben wird, hat das Konsequenzen für den Filmstart in der Schweiz. Alle Premierenfilme müssen wieder neu initiiert und beworben werden; die ganze Branche musste sich neu positionieren. Wir waren und sind mit den Verleihern und anderen Kinos permanent in Kontakt.

Über den cineastischen Röstigraben hinweg?

Wir sind in engem Austausch mit allen Sprachregionen. Und ja, es gibt durchaus Differenzen zwischen der französischsprachen und der deutschsprachigen Schweiz. In unserer Region stehen bereits wieder viele Arthouse-Filme zur Verfügung, in der Romandie noch kaum. Frankreich wurde vom Corona-Virus viel schwerer getroffen als die deutschsprachigen Länder, und die Westschweiz ist stark von Frankreich abhängig.

Kann man so überhaupt programmieren?

Es ist nicht leicht, da wir keine Planungssicherheit haben. Da wir nicht wissen, wie viele Leute wir künftig im Kinosaal empfangen dürfen, können wir nicht mit einem allzu teuren Programm starten. Die Reprisen-Programme sind aufgrund der Filmrechte und der Filmkopien sehr kostspielig. Unsere Programmstruktur ist zudem sehr kompliziert, da wir unseren einen Kinosaal wie ein Mehrsaalkino bespielen. Wenn ein oder zwei Filme wegfallen, bricht auch der Rest unseres Programms zusammen bzw. müssen dann alle Filmeinsätze wieder neu geplant werden.

Im Lockdown habt ihr das Pantoffel-Kinok ins Leben gerufen, wo man online Filme streamen konnte. Wie war da die Erfahrung?

Die Idee war, das Kino zu den Leuten bringen, wenn sie schon nicht zu uns kommen konnten. Zudem wollten wir auf Schweizer Streamingplattformen aufmerksam machen, die ähnlich wie unser Programm kuratiert sind. Das war eine schöne Kooperation. Auf lange Sicht kann das aber nicht die Lösung sein, denn die Streamingplattformen können das Kino nicht ersetzen, höchstens ergänzen. Auch zahlenmässig: «Im» Pantoffel-Kinok war nur ein Bruchteil des Publikums, das wir sonst im Saal haben.

Was bedeutet diese Zäsur fürs Filmschaffen? Gibt es eine Prä- und eine Post-Corona-Ära?

Schwer zu sagen. Im amerikanischen Mainstream-Kino ist der Katastrophenfilm ja ein beliebtes Genre, da gab es schon viele Viren- und Pandemiefilme und da werden auch weitere folgen. Das Autorenkino wird ebenfalls darauf reagieren, aber subtiler. Film ist ein langsames und aufwändiges Medium, vom Drehbuch zu Finanzierung und Produktion dauert es Jahre. Im Moment spielt Corona insofern eine konkrete Rolle, dass viele Dreharbeiten abgebrochen werden mussten. So beispielsweise auch die Dreharbeiten von Michael Steiners neustem Film Und morgen seid ihr tot, zu dem der St.Galler Autor und Kinok-Vorstandsmitglied Urs Bühler das Drehbuch geschrieben hat. Das zieht viele Probleme nach sich, nur schon die Frage, wie man unter Corona arbeiten kann. Bei einem Filmdreh kann man keinen Zweimeterabstand einhalten.

Auch die grossen Filmfestivals, die jetzt eigentlich Saison hätten, wurden abgesagt. Wie schlimm ist das für die Branche?

Für den Markt ist das ein schwerer Schlag. Grosse Festivals wie zum Beispiel Cannes sind nicht nur Publikumsfestivals, sondern auch wichtige Filmmärkte, wo Filme ge- und verkauft werden. An Festivals trifft sich die Branche, informiert und vernetzt sich. Da Cannes dieses Jahr nicht stattfinden kann, bietet das Zurich Film Festival erstund wahrscheinlich einmalig einen Filmmarkt an. Festivals sind nicht aber nur für die Branche, sondern auch für das Publikum sehr wichtig, denn an Festivals lassen sich die Leute oft auf Filme ein, für die sie sonst nicht ins Kino gingen – weil sie dem Alltag enthoben und offener für Neues sind. Abgesehen davon: Festivals, Kino und Kultur sind immer auch ein Fest! Man geht bewusst für etwas irgendwo hin, lässt den Alltag zurück und lässt sich auf etwas ein. Momentan ist das alles unmöglich.

Was macht die Krise mit den kommerziellen Kinos? Werden nur die grossen Multiplexe ausserhalb der Stadt überleben?

Ich hoffe nicht! Gerade bei den Jungen gehören die kommerziellen Kinos zu den wichtigsten Ausgangsmöglichkeiten. Das Kino ist der Klassiker beim ersten Date. Die Zentralisierung wird sicher weiter zunehmen, Einzelsäle waren auch vor Corona kaum zu finanzieren. Ich hoffe sehr, dass die Stadtkinos – und auch alle anderen Kulturplayer – gut durch diese Krise kommen, denn sie spielen eine enorm wichtige Rolle für die Belebung der Innenstädte. Ein weiteres Kinosterben würde die Innenstädte total veröden. Das gilt auch für die Beizen und anderen Kulturorte.

Wie steht es um euer Openair-Sommerkino, das ihr jedes Jahr veranstaltet?

Auch dieses Problem konnten wir noch nicht lösen, da wir nicht wissen, wie lange und in welchem Mass das Versammlungsverbot bestehen wird. Wenn vorerst nur Veranstaltungen für 50 Leute zugelassen sind, wissen wir noch nicht, ob wir unser Openair veranstalten werden, weil es so aufwendig ist und wir die Kosten kaum einspielen können. Auch da müssen wir den 27. Mai abwarten.

Zum Schluss: Was wünschst du der Kultur für die nächste Zeit?

Die Schweizer Städte haben eine Fülle an grossartigen kulturellen Einrichtungen. Das zeichnet dieses Land aus. Ich hoffe sehr, dass diese Fülle erhalten bleibt und man Möglichkeiten findet, dieses reichhaltige kulturelle Angebot zu bewahren, ohne dass sich der Kampf um die Gelder verschärft. Die Schweizer Politik hat mit ihren schnellen finanziellen Hilfeleistungen vorbildlich reagiert. Es braucht aber auch die Bevölkerung, die sich bewusst ist, was sie an der Kultur hat und sich ebenfalls für deren Erhalt einsetzt. Mein Wunsch ist, dass die Kultur als genauso relevant eingestuft wird wie andere Dinge der gesellschaftlichen Grundversorgung. Sie ist der Kitt unserer Gesellschaft: Kultur stellt Öffentlichkeit her, schafft Orte der Reflexion, des Austauschs und der Sinnstiftung. Das dürfen wir nicht verlieren, da darf es keinen Kahlschlag geben.

Dieser Beitrag erscheint im Juniheft von Saiten.