«Wir sind in einer Dauer-Aufregungsschlaufe»
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Sie waren Ende Juni Gast beim «Stadtgespräch» in der St.Galler Grabenhalle – diskutiert wurde auf Mundart. Das ging?
Jan Henric Bogen: Ich wurde gefragt, ob Dialekt in Ordnung sei. Und ja, mittlerweile verstehe ich ihn ziemlich gut und verwende, wie mir Bekannte in Deutschland sagen, auch schon den einen oder anderen Helvetismus. Ich bin da offen, ansonsten frage ich nach.
Die Sprache als ein Mittel, sich zu integrieren?
Auf jeden Fall. Ich habe zuvor in Flandern gearbeitet, da sind die sprachlichen Unterschiede zum Hochdeutschen natürlich grösser als hier. Auch wenn man mit Englisch durchkäme, war es mir ein Anliegen, die Landessprache zu verstehen. Es wird ja nicht von mir erwartet, St.Gallerdeutsch zu reden, aber verstehen finde ich schon wichtig.
Sie waren in Antwerpen und Gent tätig, davor in Hagen und Nürnberg, jetzt St.Gallen: alles europäische Mittelstädte. Was zeichnet im Vergleich St.Gallen aus?
Die Lebensqualität ist toll. Dazu gibt es eine ausgezeichnete kulturelle Infrastruktur. Menschen aus meinem Bekanntenkreis, die erstmals nach St.Gallen kommen, sagen: Was ist das für eine tolle Stadt! Meine generelle Erfahrung ist, dass Städte dieser Grösse gegenüber den Metropolen oft das Gefühl haben, sich behaupten zu müssen – Nürnberg gegen München, Hagen gegen die Ruhrgebiets-Städte, auch gegen Köln oder Düsseldorf, und in Antwerpen gibt es den regionalen Wettbewerb mit Brüssel einerseits und den Niederlanden andrerseits. Man definiert sich durch Abgrenzung, man meint zeigen zu müssen, wie und wer man ist. In den Metropolen herrscht da mehr Gelassenheit. Berlin ist Berlin, Brüssel ist Brüssel. Ich finde das spannend, weil das Bedürfnis nach Anerkennung auch ein Motor sein kann, seine Eigenheiten zu entwickeln.
Am Stadtgespräch kam die hohe Lebensqualität zur Sprache, aber auch die wenig ausgeprägte Auseinandersetzungskultur. Die Kritik lautete: In St.Gallen ist Mittelmass geschätzt, aber wenn der Nagel etwas weit vorsteht, wird er eingeschlagen.
Das ist wohl tatsächlich ein Spannungsfeld: einerseits wahrgenommen zu werden und andrerseits zu denken, das ist «too much» für St.Gallen. Visionen oder kühne Vorstellungen stossen eher auf Ablehnung, vielleicht auch aus Angst vor Veränderung.
Sie reden aus Erfahrung: Nach Ihrer Wahl und Ihren Personalentscheiden gab es lautstarke Kritik. Liegt das daran, dass man in St.Gallen den starken Mann nicht will?
Ich verstehe mich nicht als «den starken Mann». Der Verwaltungsrat hat sich für ein neues Leitungsmodell mit einem Gesamtverantwortlichen Direktor entschieden, und es ging mir immer darum, dieses Modell nach modernen Führungsprinzipien auszufüllen. Die Reaktion war wohl auch darum so heftig, weil ich vor Ort und angreifbar war, anders als das bei einem Kandidaten von aussen der Fall gewesen wäre. Der Neubeginn ist ein Prozess, der sich gemeinschaftlich vollzieht innerhalb des Hauses und nach aussen. Es geht nicht darum, dass eine Person von vorneherein alles vorgibt. Unsererseits haben wir aber sicher kommunikative Fehler gemacht. Es gab jedoch auch ein gewisses Interesse an plakativen Schlagzeilen. Wir leben im Zeitalter des Daumen-Hoch oder Daumen-Runter, man kann schnell auf die Daumen-Runter-Seite geraten. Dinge, die ich in eine Richtung gemeint habe, wurden anders verstanden. Aber ich will mich nicht als Opfer stilisieren. Ich habe viel gelernt darüber, wie Berichterstattung funktioniert, wie Meinungsbildung vor sich geht.
Was genau?
Dass wenig Raum da ist für eine differenzierte Darstellung von immer komplexer werdenden Sachverhalten – immerhin geht es um eine Kulturinstitution mit knapp 300 Mitarbeitenden. Wir sind in einer Dauer-Aufregungsschlaufe, hören etwas und wissen immer gleich, was unsere Meinung dazu ist, ich schliesse mich da selber nicht aus. Aber natürlich ist es in einer öffentlichen Funktion richtig und wichtig, von den Medien hinterfragt und gespiegelt zu werden.
Dass Leute reagieren, zeigt auch, dass sie am Theater Anteil nehmen und sich mit ihm identifizieren. Zudem geht es um viel öffentliches Geld.
Es sind aber nicht diejenigen, denen das Theater am Herzen liegt, die Kommentare im Internet schreiben und die Erregung schüren. Es gab Kommentare, die mich mit Putin verglichen haben – auf dem Niveau gibt es nichts mehr zu diskutieren. Für mich selber habe ich beschlossen, an diesen Dauer-Aufregungen möglichst nicht teilzunehmen, sondern sachlich und offen zu kommunizieren und mir auch mal Zeit zum Nachdenken zu nehmen.
Aus meiner Sicht hat der Verwaltungsrat zu wenig klargemacht, warum die neue Struktur nötig ist. Warum ist das, was das Theater bisher geleistet hat, plötzlich nicht mehr gut genug? Was taugt am Konzertprogramm nicht, was am Schauspiel? Die ganze Strukturdiskussion fand auf der Ebene des Organigramms statt – und nicht der Inhalte.
Von «radikalem Wechsel» oder davon, dass «kein Stein auf dem anderen bleibt», kann nicht die Rede sein. Es geht mir immer darum, Konstanz und Veränderung in ein Gleichgewicht miteinander zu bringen.
Sie haben ein Stück weit recht, was die neue Struktur angeht. Da herrscht auch Konsens im Verwaltungsrat, dass man den Wechsel zum Gesamtverantwortlichen Direktor nicht ausreichend begründet hat. Ich sehe die Sache aber anders in Bezug auf Personalentscheide. Sie sind nicht damit zu begründen, dass das Bisherige «nicht gut genug» gewesen wäre. Vielmehr sind Wechsel in künstlerischen Leitungspositionen grundsätzlich eine Chance und gehören zwangsläufig dazu. Das weiss auch jeder, der eine solche Position anstrebt. Ob nach 13 Jahren wie bei Peter Heilker oder nach sieben bei Jonas Knecht: In jedem Fall ist es gut, künstlerische Arbeit zu hinterfragen. Was das Schauspiel betrifft: Die Wahl von Barbara-David Brüesch zur neuen Spartenleiterin ist ja alles andere als eine Ohrfeige für die bisherige Arbeit. Es kommt jemand aus dem bisherigen Team, das verspricht Kontinuität, aber sie wird zugleich ihre eigenen Akzente setzen. Von «radikalem Wechsel» oder davon, dass «kein Stein auf dem anderen bleibt», kann nicht die Rede sein. Es geht mir immer darum, Konstanz und Veränderung in ein Gleichgewicht miteinander zu bringen.
Der langjährige Konzertdirektor Florian Scheiber muss gehen – was ist der Grund?
Der Verwaltungsrat hat diese Entscheidung getroffen, und sie ist auch eine direkte Folge der Veränderung im Leitungsmodell. Inhaltlich kann ich dazu sagen, dass das St.Galler System im Konzertbereich historisch gewachsen ist und zwei Ausnahmen zur Regel gemacht hat: zum einen die unbefristete Anstellung des Konzertdirektors, zum andern die Tatsache, dass neben dem Chefdirigenten ein künstlerischer Leiter nur für den Konzertbereich zuständig ist. Mir ist kein anderes Haus bekannt mit einer solchen Struktur. Dass der Chefdirigent auch fürs Konzertprogramm die Leitlinie vorgibt, ist sonst die Regel und es bietet die Chance, das künstlerische Profil zu schärfen und regelmässig zu erneuern. So wird es künftig auch bei uns sein. Ähnlich gilt für die Dramaturgie, die wir enger zusammenführen wollen, dass auch hier aus einem gemeinsamen Geist gearbeitet werden soll.
Obwohl eine Tanzdramaturgie ganz andere Anforderungen stellt als eine Schauspieldramaturgie?
Expert:innen für die einzelnen Sparten gibt es weiterhin. Der Mehrwert eines Theaters, das wie in St.Gallen unterschiedliche Sparten unter einem Dach versammelt, ist, dass wir gemeinsam Themen setzen und uns gemeinsam positionieren. Um dieses Ziel zu erreichen, ist die neue Struktur richtig. Es ist ein grossartiges Privileg, Orchestermusikerinnen, Balletttänzer, Schauspielerinnen in der gleichen Organisation zu haben. Das Verdi-Requiem in der nächsten Spielzeit ist ein Beispiel dafür, wie alle Sparten zusammenspannen können. Wir wollen aber nicht ausschliesslich hybride Formen; der Kern der einzelnen Kunstformen bleibt selbstverständlich erhalten. Aber es kann zum Beispiel auch spannend sein, zu sehen wie die unterschiedlichen Sparten künstlerisch mit demselben Thema umgehen.
Ein Anliegen von Jonas Knecht war stets mehr Kooperation und Kollaboration mit der Freien Szene. Aber es lief wenig. Haben Sie Ideen?
Am Stadtgespräch fiel ja das Stichwort, Konzert und Theater St.Gallen gleich als Ganzes abzuwickeln und alle Mittel für die Freien einzusetzen. Eine Kulturförderung, die ausschliesslich nur projektbezogen fördert, wäre künstlerisch und auch sozial ein grosser Rückschritt. Natürlich sind Koproduktionen mit den Freien wichtig. Barbara-David Brüesch ist da dran, auch der neue Tanzchef, Frank Fannar Pedersen, ist an solchen Zusammenarbeiten interessiert. Es geht dabei immer auch um Raumfragen…
…und ums Geld.
Klar, aber da fallen die Entscheide anderswo. Wir haben einen sehr ambitionierten und spezifischen Leistungsauftrag, den wir nur mit den uns zugewiesenen Mitteln realisieren können. Als Kulturschaffender finde ich es selbstverständlich wichtig, dass freie Kultur richtig finanziert wird, aber das kann man nicht auf dem Niveau «Schwimmbad oder Kindertagesstätte» diskutieren. Ich bin überzeugt, dass wir als Gesellschaft beides brauchen. Für mich sind das Fragen der Daseinsvorsorge, und es geht dabei auch darum, soziale und kulturelle Errungenschaften zu schützen. Ich will gern mit der Freien Szene zusammenarbeiten, aber sie strukturell mitzufinanzieren, ist nicht von unserem Auftrag gedeckt und mit unseren finanziellen Mitteln auch nicht möglich.
Jan Henric Bogen, 1983 in Ludwigshafen geboren, hat Jus und Musikwissenschaft sowie Kulturmanagement studiert. Er arbeitete am Theater Hagen und am Staatstheater Nürnberg sowie fünf Jahre lang als stellvertretender Intendant an der Opera Vlaanderen in Antwerpen. Zwei Jahre lange leitete er das Kurt Weill Fest in Dessau. Seit der Spielzeit 2021/22 ist Bogen Operndirektor am Theater St.Gallen, ab Herbst 2023 wird er Gesamtverantwortlicher Direktor von Konzert und Theater.
Freie Tanz- und Theatergruppen kritisieren seit Jahren, dass die Lokremise fast nur für die drei Hauptmieter – Theater, Kunstmuseum und Kinok – zugänglich ist. Das ist nicht Ihre Schuld, aber Sie werden künftig im Stiftungsrat sitzen.
Ja, diese Kritik habe ich auch schon gehört und auch das ist eine gewachsene Situation. Immerhin: Das neue freie Theaterfestival Paula wird vollständig in der Lokremise stattfinden, dafür habe ich mich sofort eingesetzt. Auch das Jungspund-Festival und andere freie Produktionen finden ja in der Lok statt. Die Lokremise ist aber auch die wichtigste Produktionsstätte für unser Schauspiel und den Tanz. Dafür gibt es im Moment keine Alternative. Die Lokproduktionen müssen in der Lok geprobt werden, es ist entsprechend schwierig, den Raum in diesen Zeiten freizugeben. Wir planen die Lok 2023/24 etwas anders als bisher, aber das Strukturproblem, die fehlende Produktionsstätte, lässt sich damit nicht lösen. Ich bin zudem nicht sicher, wie gross das Bedürfnis, in der Lok zu spielen, wirklich ist. Die Industriebrache von einst ist sie nicht mehr, sie ist ein hochsanierter Bau, einer der urbansten, aber auch der gentrifiziertesten Orte der Stadt. Ein tolles Haus, aber nicht unbedingt ein Off-Ort. Für wen soll die Lok da sein? Für ein Gastspiel von Milo Rau mit dem NT Gent? Oder für ein Kollektiv aus der Hausbesetzerszene?
Das sind Fragen, auf die Sie bei den Freien sicher Antworten bekommen würden. Zwischen Milo Rau und Hausbesetzer:innenszene gibt es ja auch ein breites Zwischenfeld. Eine Öffnung wäre eine Chance.
Wenn ein Haus der freien Szene in St.Gallen kommen soll, dann befürworte ich das ausdrücklich – das würde auch im Hinblick auf die Lok für Entspannung sorgen.
Es bräuchte dann aber auch eine Antwort auf die Frage, wie und wo das Theater St.Gallen produzieren soll. Es wird offensichtlich ein Narrativ gepflegt, dass sich das Theater dort breit gemacht habe – ich bin natürlich bereit, mich damit auseinanderzusetzen, aber wir haben den Auftrag, die Lokremise zu bespielen und dort zu produzieren. Wir bemühen uns dennoch, Platz zu machen, wo wir können. Wenn ein Haus der freien Szene in St.Gallen kommen soll, dann befürworte ich das ausdrücklich – das würde auch im Hinblick auf die Lok für Entspannung sorgen.
Sie schreiben dem Theater Diversität auf die Fahne. Die Zusammensetzung des Verwaltungsrats ist jedoch alles andere als divers, da fehlen fast alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen.
An der Zusammensetzung des Verwaltungsrates kann ich natürlich aus meiner Situation heraus nichts ändern, und ich bin auch allen heutigen Mitgliedern für ihren engagierten Einsatz sehr dankbar. Grundsätzlich verstehe ich aber Ihre Analyse, und auch ich fände ein breiteres gesellschaftliches Spektrum in unserem Aufsichtsgremium gut. Rund die Hälfte der Mitglieder ist allerdings mandatiert, insofern spiegelt sich in der fehlenden Diversität auch, wie Stadt- und Kantonsparlament zusammengesetzt sind. Wir klagen jedoch auf einem höheren Niveau als viele öffentliche Theater in Deutschland, weil die Form der Genossenschaft in St.Gallen allen Personen die Möglichkeit bietet, sich einzubringen. Das birgt das Potential für Veränderungen.
Sie haben im Stadtgespräch ja dazu aufgerufen, Mitglied der Genossenschaft zu werden.
Ja. Mit dem Einmalbeitrag von 100 Franken ist die Schwelle tief, um an Richtungsentscheiden dieser Organisation teilnehmen.
Innerhalb des Theaters haben Sie Arbeitsgruppen eingerichtet zu den drei Schwerpunkten Diversität, Partizipation und Nachhaltigkeit. Machen die Leute mit?
Am Anfang war ich eher ernüchtert über die Teilnahme, aber jetzt läuft es gut, mit 15 bis 20 Leuten pro Gruppe. Das Ziel ist, dass wir im Frühjahr 2023 zu den drei Themen nicht eine Charta oder etwas Starres haben, aber einen Plan, den wir uns für die nächsten zwei Jahre geben und dann überprüfen, was wir erreicht haben. Es gab Kritik, die drei Schwerpunkte seien nur «Worthülsen». Aber es ist der Preis von Partizipation, dass nicht einer einfach sagt: So gehts…
Die Opernspielzeit 2022/23 startet am 17. September mit Der anonyme Liebhaber: Der Titel tönt harmlos, aber der Komponist hat es in sich. Joseph Bologne, Zeitgenosse Mozarts galt als bester Fechter Europas, war Offizier, Geigenvirtuose, Komponist – und dunkelhäutig. Dem Sohn eines französischen Plantagenbesitzers auf Guadeloupe und einer senegalesischen Sklavin gelang es, die Rassenschranken zu durchbrechen, zumindest für kurze Zeit. Das Theater St.Gallen verknüpft Bolognes 1780 uraufgeführte und erstmals in der Schweiz zu hörende Oper mit der Biographie des Komponisten.
Erste Premiere im Sprechtheater am 14. September sind zwei Komödien von Theresia Walser, Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm / Nach der Ruhe vor dem Sturm. Es geht ums Theater selber, bissig und scharfzüngig und mit grossen Rollen für ein Männertrio (Julius Schröder, Marcus Schäfer, Bruno Riedl) beziehungsweise für zwei Diven (Birgit Bücker, Diana Dengler).
Ist in der Spielzeit 2022/23 etwas davon zu spüren?
Erstmal zurückgeblickt: «Herstory», das letztjährige Motto im Musiktheater, war sehr spürbar. In den Produktionen und auch in den Teams ging es stark darum, Frauenrollen zu reflektieren. Wir hatten erstmals das Werk einer Komponistin, Breaking The Waves von Missy Mazzoli, im Hauptprogramm, wir haben fast ausschliesslich mit Regisseurinnen gearbeitet: Das hat innerhalb des Hauses viel verändert. Das jetzige Spielzeit-Motto «Gemeinsam anders sein» knüpft daran an. Zwei Stücke setzen sich explizit mit Rassismusfragen auseinander, Der anonyme Liebhaber und The Time of Our Singing. Das ist keine Selbstverständlichkeit; meistens ist in der Oper Rassismus inhärent und nicht thematisiert. Femi Elufowoju Jr., der den «Liebhaber» inszeniert, ist einer der wenigen Opernregisseure of Color in Europa. Wir verknüpfen die Biografie des Komponisten, des dunkelhäutigen Mozart-Zeitgenossen Joseph Bologne mit seinem Stück. Da ist es wichtig, diese Arbeit mit einem Schwarzen Regisseur und Dialogautor zu machen. Wenn im Ensemble jemand Schwarz ist, hat man schnell diesen Tokenismus-Effekt. Aber Aushängeschilder reichen nicht, man muss viel am Bewusstsein arbeiten. Und natürlich bleibt die künstlerische Qualität zentral.
Wie meinen Sie das?
Ich engagiere Leute, von denen ich künstlerisch überzeugt bin. Aber zugleich gibt es auch weitere Kriterien. Zum Beispiel ist eine erdrückende Mehrheit der Dirigenten in den Konzertsälen weiterhin männlich – inzwischen holen die Frauen auf, aber wir müssen ihnen auch Platz machen. St.Gallen ist ein Haus, von der Grösse und der Positionierung her, das solche Chancen bieten muss. Mich interessiert es sehr, neue Leute zu entdecken, neue Sichtweisen und Perspektiven eröffnet zu bekommen. Und je nachdem, welchen biografischen Rucksack man mit sich trägt, erzählt man Geschichten anders.
In einem Jahr wird das renovierte Theater wiedereröffnet. Womit?
Mit einer Uraufführung zur Transthematik. Mir ging es darum, das Haus mit einem neuen Stück zu einer Thematik einzuweihen, die die Gesellschaft umtreibt und die vorderhand noch alles andere als Standard ist in der Oper.
Aktuell treibt der Krieg gegen die Ukraine die Gesellschaft um. Das Theater St.Gallen hat darauf kaum reagiert, ausser mit einem Benefizkonzert und dann, allerdings sehr explizit, in der Inszenierung der Festspieloper «Giovanna d’Arco».
Ich finde schon, dass wir reagiert haben. Das Benefizkonzert war eine grosse gemeinsame Reaktion auf den Krieg, und dies am frühstmöglichen Termin, wo wir alle Mitwirkenden zusammenkriegen konnten. Wir haben darüber hinaus Sammlungen gestartet, Ansagen gemacht, Farbe gezeigt. Und es gab den Entscheid, die geplante Tschaikowski-Oper abzusetzen – eine Diskussion, die natürlich viele Ebenen hat. Es gibt aber durchaus eine Verantwortung als Veranstalter für das Zusammenspiel aus Spielort, Werkgeschichte und tagespolitischen Geschehnissen.
In welchem Sinn?
Ich habe früher in Nürnberg gearbeitet, dort gibt es am Luitpoldhain alljährlich ein Klassik-Openair. Der Luitpoldhain war aber auch ein zentraler Ort für die Fackelaufmärsche beim Reichsparteitag der NSDAP. Dass man an einem solchen Ort nicht die Préludes von Liszt spielen könnte, dürfte völlig klar sein. Auch wenn Orleanskaja Deva auf dem Klosterplatz in St.Gallen nicht die gleiche Signalwirkung hätte und solche Vergleich immer schwierig sind, stehe ich weiter zur Absage und den Gründen: der Werkgeschichte dieser Oper von Tschaikowski, der Unsicherheit, was dieser Krieg morgen bringen wird, und schliesslich dem exponierten Spielort. Für Verdis Giovanna d’Arco war klar, dass die junge Regisseurin Barbora Horáková Joly eine Oper, die vom Krieg handelt, nicht inszenieren würde, ohne den Krieg und das Leid der Frauen auf die Bühne zu bringen. Das ist das Potential von Theater: Anknüpfungspunkte zum Heute zu finden, in diesem Fall die historische Figur Jeanne d’Arc mit Fragen zu heutigem blindem Idealismus zu befragen. Das Publikum hat uns das mit ganz überwiegend bewegten, positiven Reaktionen gedankt.
Die St.Galler Regierung hat entschieden, dass es künftig nur noch alle zwei Jahre Festspiele gibt. Ein Dämpfer für den neuen Direktor?
Das stimmt so nicht. Wir können in den geraden Jahren zwar nicht mehr auf dem Klosterhof spielen, aber die Festspiele finden weiterhin jedes Jahr statt. Wir sind daran, für 2024 ein neues Festspielkonzept zu erarbeiten und auch den Süden des Kantons mehr einzubeziehen. Auch wenn ich die Entscheidung den Klosterhof betreffend noch immer bedaure, bin ich optimistisch, dass etwas Neues Gutes entstehen wird.
Während dem Umbau hätten Konzert und Theater mehr «aufs Land» hinausgehen können. Diese Chance wurde kaum genutzt.
Wir wollen neue Spielstätten finden und uns zu den Leuten hinbewegen. Das Orchester ist allerdings ein grosser Apparat, dafür gibt es nur wenige Spielorte. Wenn wir grundsätzlich reflektieren wollen, wer wessen Geschichten erzählt, dann schwingt darin auch die Frage mit: Wen erreicht das Theater St.Gallen, wen nicht, und warum? Dass sich jede und jeder für Oper interessieren würde, ist zwar eine Illusion. Aber wir können mit dieser Kunstform noch mehr Leute abholen. Und dabei auch das 20. Jahrhundert miteinbeziehen. Viele zeitgenössische Kompositionen sind allerdings in einer Tonsprache geschrieben, die beim Publikum kaum noch ankommt. Anders in den USA: Dort ist die Zahl neuer Werke viel höher, aber viele gelten hier in Europa als stilistisch «nicht auf der Höhe der Zeit». Dabei ist es gute Theatermusik.
Im «Tagblatt» gab es eine Umfrage mit dem «Ergebnis», Oper interessiere die Jungen überhaupt nicht. Sie haben sich am Stadtgespräch darüber öffentlich geärgert.
Ich finde, wir sollten auch daran denken, dass es eine gemeinsame Aufgabe von Kulturschaffenden, Bildungsinstitutionen und Medien ist, junge Leute and Kultur heranzuführen. Da finde ich eine solche Umfrage wenig hilfreich, auch weil sie so wenig fundiert und oberflächlich war. Wir hatten für die Festspieloper eine Aktion «U30» lanciert, mit Erfolg: Über 150 Leute haben sich ein Ticket geholt. Ich halte nichts von der Pauschalisierung, es gebe bei den Jungen per se kein Interesse an Opern. Allerdings besorgt sich der Mensch wohl eher in einer gesetzteren Phase ein Theaterabo. Und natürlich müssen auch wir uns auf dem Markt der Freizeitaktivitäten behaupten. Entscheidend ist es dabei, Erstkontakte mit der Kunstform Oper für Kinder und Jugendliche zu schaffen. Und auch Erwachsene niederschwellig zu erreichen: Bei den Proben auf dem Klosterhof etwa gibt es immer Zaungäste, die sich für die Musik begeistern und bei jeder Arie applaudieren. Es ist also keineswegs so, dass Oper abschreckt.
Dieser Beitrag erschien im Septemberheft von Saiten.