«Wir müssen unbedingt mehr Junge an die Urne bringen»

Warum der Aufklärungsunterricht in den Schulen neu erfunden werden muss, die SVP nützlich sein kann und es ab Winterthur bessert: Elena Schiavo und Andy Calzavara vom St.Galler Komitee für die Ehe für alle im Interview.
Von  Corinne Riedener
Elena Schiavo und Andrea Calzavara vom St.Galler Ehe für alle-Komitee. (Bilder: co)

Saiten: Ist es nicht ermüdend, 2021 so viele Kräfte in einen Abstimmungskampf für die Ehe für alle investieren zu müssen?

Elena Schiavo: Doch, ist es. Schade, dass es diese Abstimmung braucht, aber es überrascht mich auch nicht. Homophobe Strukturen sind eine Realität in unserer Gesellschaft. Die Chancen, dass wir am 26. September gewinnen, stehen zwar gut, aber ich will mich nicht in falscher Sicherheit wiegen – darum kämpfe ich für die Ehe für alle. Das ist zwar anstrengend, aber es gibt mir auch enorm viel Kraft: Teil dieser grossartigen Community zu sein. Unsere Gegner surfen auf einer total negativen Schiene, machen Wahlkampf mit weinenden Babys. Wir hingegen kämpfen gutgelaunt für die Liebe, für Vielfalt, für die Freude am Leben.

Andrea Calzavara: Apropos 2021: wir besuchen ja viele Oberstufenklassen mit unserem Aufklärungsprojekt «COMOUT». Da diskutieren wir jeweils über die LGBT+-Rechte, auch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern. Viele sind völlig perplex, wenn sie realisieren, dass die Gesetze in der Schweiz eben noch nicht so weit sind. «Was, ihr dürft nicht heiraten und adoptieren?», fragen sie dann regelrecht empört, «das muss doch selbstverständlich sein!»

Wir müssen also weniger die Jungen überzeugen, sondern vor allem die älteren Semester?

AC: Jein. Natürlich ist es wichtig, die Menschen mit konservativem Gedankengut irgendwie zu erreichen. Aber: Wir müssen unbedingt mehr Junge an die Urne bringen! Es beelendet mich, wenn ich junge Leute sehe, die zwar auf unserer Seite sind, aber nicht zur Abstimmung gehen. Und das gilt nicht nur für die Ehe für alle, sondern generell in der Politik.

ES: Dass die Wahlbeteiligung bei den Jungen so tief ist, hat auch mit den Schulen zu tun. Politische Themen werden zu wenig thematisiert. Dasselbe gilt für den Aufklärungsunterricht: Viele kommen heute schon im Primarschulalter zum ersten Mal mit Pornos in Kontakt. Der Sexualkundeunterricht muss komplett neugestaltet und angepasst werden. In diesem Bereich sehe ich bei den Bildungsinstitutionen grossen Nachholbedarf. Auch der weibliche Orgasmus beispielsweise wird nur oberflächlich thematisiert.

«St.Gallen will»: 28. August

13 bis 17 Uhr: Kampagnenaustausch, Kuchen und Reden von Franziska Ryser (Nationalrätin Grüne), Johannes Rüsch (Regionalleiter JSVP SG), Annette Spitzenberg (evang. Pfarrerin) und weiteren, Vadianplatz Marktgasse St.Gallen

18 Uhr bis Open End: «Diversity in Concert» mit Bona Rhodes, Subaqua, Karaoke-Session und Afterparty mit DJ Naurasta Selecta, Grabenhalle St.Gallen

ehefueralle.ch/events
grabenhalle.ch

Am Samstag macht ihr eine Aktion am Marktplatz, unter anderem habt ihr jemanden von der JSVP eingeladen. Hilft es, auch rechte Parteien im Boot zu haben, wenn es darum geht, die Konservativen und ländlichen Regionen zu erreichen?

AC: Ich will betonen, dass die Ehe für alle kein linkes Anliegen ist, denn es betrifft alle Teile der Gesellschaft. Man muss die SVP als Partei nicht gut finden, aber in diesem Abstimmungskampf müssen wir uns zusammentun und das Positive mitnehmen. Bei den rechten Parteien hat man es ohnehin schwer, wenn man für die Ehe für alle ist. Darum finde ich es toll, dass die SVP eine eigene kleine Pro-Kampagne hat. Das darf man auch mal anerkennen. Andererseits gibt es dann wieder SVP-Exponenten, die Homosexuelle mit Islamisten vergleichen – da könnte ich kotzen.

Auch gemässigtere Kreise wollen Homosexuellen und Queers partout keine Rechtsgleichheit zugestehen. Was macht das mit euch?

ES: Fremde machen mich eher selten hässig. Was mich viel mehr verletzt, sind die Menschen in meinem näheren Umfeld, die dieses veraltete Gedankengut teilen. Verwandte oder meine langjährige Nachbarin zum Beispiel, die mich als «so eine» bezeichnet. Ich kann ja verstehen, dass sie in alten Mustern grossgeworden ist, aber es enttäuscht mich, dass sie sich nicht auf mich einlassen kann. Ich bin nicht «so eine», ich bin Elena.

AC: Bei mir ist es umgekehrt. Ich fühle mich persönlich brutal angegriffen, wenn irgendwelche Politiker im Fernsehen oder in den Sozialen Medien Dinge sagen, wie «Homosexuelle sind schlechte Eltern» oder «die Ehe ist Frau und Mann vorbehalten».

ES: Abgesehen von meiner Nachbarin hatte ich zum Glück noch wenig mit Mobbing und Diskriminierung zu kämpfen – im Gegensatz zu anderen in meinem Umfeld. Für sie alle kämpfe ich; für all die Leute, die verhauen, belästigt oder wie Tiere im Zoo gefilmt werden, weil sie so sind, wie sie sind.

Wie erlebt ihr die Ostschweiz im Vergleich zu urbaneren Gebieten?

AC: In Zürich habe ich null Probleme zum Händchenhalten mit meiner Freundin. In St.Gallen ist es mir unangenehm. Politisch und gesellschaftlich empfinde ich die Ostschweiz als ziemlich konservativ. Ich fühle mich hier nicht 100-prozentig sicher und auch nicht ganz angenommen in meiner Sexualität. Ab Winterthur besserts. Ich würde mich freuen, wenn es in der Ostschweiz mehr queere Räume gäbe.

ES: Absolut. Ich bin selten offen lesbisch in St.Gallen unterwegs. Auch weil die LGBT+-Community hier eher klein ist. Zumindest habe ich diesen Eindruck. Ich und mein Freundinnenkreis waren immer eher Zürich-orientiert. Und ja, ab Winterthur besserts. Dort hängen momentan überall Regenbogenflaggen, in St.Gallen habe ich bis jetzt noch kaum eine gesehen. Schade!

Podiumsdiskussion Ehe für alle:

31. August, 20 Uhr, Restaurant Lagerhaus (1.Stock), St.Gallen.

Mit Barbara Gysi (Nationalrätin SP), Philipp Schönbächler (Stadtparlamentarier GLP), Manuela Ronzani (Stadtparlamentarierin SVP), Adrian Knecht (Projektleiter, Fachstelle für Aids- und Sexualfragen) und weiteren.

Thema Samenspende: Immer wieder kommt das «Argument», dass Kinder einen «männlichen» und einen «weiblichen» Elternteil brauchen bzw. dass Homosexuelle schlechte Eltern seien. Was entgegnet ihr?

AC: Also erstens: Heteroeltern können auch schlechte Eltern sein. Oder alleinerziehend. Und zweitens: Regenbogenfamilien sind schon lange Realität. Bis jetzt ist es leider so, dass viele lesbische Paare ins Ausland gehen für eine anonyme Samenspende. Deren Kinder haben keine Möglichkeit, jemals ihren leiblichen Vater kennenzulernen. Nur schon darum sollte die Samenspende legal sein. Und zum Thema Adoption: Ich als Einzelperson kann unter bestimmten Umständen ein Kind adoptieren, aber wenn ich eine Partnerin habe, soll das nicht gehen? Das ist doch unlogisch!

ES: Bei den Bisexuellen wird es noch viel absurder: Wenn eine Frau mit einer Frau in einer Beziehung ist, wird ihr die Mutterschaft abgesprochen. Wenn sie mit einem Mann zusammenlebt, ist alles super. Was ist passiert? Die Gesellschaft ist passiert.

Die Ehe für alle hat auch eine Signalwirkung. In anderen Ländern ist die Suizidrate, insbesondere bei Jugendlichen, erheblich gesunken, nachdem die Ehe für alle eingeführt wurde. Was, abgesehen von der Rechtsgleichheit, würde sonst noch helfen?

ES: Alles beginnt in der Schule. Und das bedeutet auch, die Eltern ins Boot zu holen. Einiges ist schon im Wandel, aber man könnte noch mehr für die Aufklärung und für die Akzeptanz tun in den Bildungsinstitutionen. Wenn queere Kinder oder Jugendliche gemobbt werden in der Schule, sind nicht die Klassenkameradinnen schuld, sondern die Schulen und die Gesellschaft, die sich zu wenig um Aufklärung kümmern. Und den Kindern und Lehrpersonen zu wenig Anleitung geben, wie man mit Mobbing bzw. psychischer Gewalt umgeht und diese erkennt.

AC: Und es braucht mehr Vorbilder.

ES: Genau. Ich arbeite auch mit Jugendlichen und sage offen, dass ich lesbisch bin, wenn sie mich fragen. Sofern es nicht zu persönlich wird, kann ich ihnen alle Fragen beantworten. Das hilft schon viel und baut Vorurteile ab.

 

Andrea Laura Calzavara, 1991, studiert Soziale Arbeit an der FH Ost und arbeitet für die Fachstelle für Aids und Sexualfragen, wo sie mit dem Schulprojekt «COMOUT» Oberstufenklassen besucht. Sie lebt in St.Gallen

Elena Schiavo, 1995, studiert Sozialpädagogik und arbeitet seit sechs Jahren an einer Oberstufe in Winterthur. Sie wohnt in Lichtensteig.