, 17. Mai 2024
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«Wir kandidieren nicht zum Plausch»

Nach 2017 will es die JUSO St.Gallen dieses Jahr noch einmal wissen. Mit Robin Eichmann kandidiert sie zum zweiten Mal in ihrer Geschichte für den Stadtrat. Ihr Ziel: das schöne, gerechte und faire Leben für alle. Und das, so Eichmann im Gespräch, geht nur mit einer linken Mehrheit in der Stadtregierung.

1.Mai-Feier vor der Grabenhalle: Die JUSO kandidiert mit Robin Eichmann für den St.Galler Stadtrat. (Bild: Marco Dal Molin)

Im Frühling 2017 trat Nino Cozzio vom christlichsozialen Flügel der CVP (heute: Die Mitte) krankheitshalber als St.Galler Stadtrat zurück. Für den freigewordenen Posten bewarben sich gleich fünf Kandidat:innen. Allerdings erreichte niemand das absolute Mehr. Im zweiten Wahlgang traten dann nur noch zwei an. Boris Tschirky, der als Vertreter des rechten Parteiflügels den letzten verbliebenen CVP-Sitz verteidigen wollte, unterlag schliesslich Sonja Lüthi von der GLP.

In Erinnerung geblieben ist von dieser historischen Wahl aber in erster Linie die Kandidatur der JUSO. Ihrem Überraschungskandidaten Andri Bösch gelang nach einem erfrischenden Wahlkampf und gefeierten Podiumsauftritten, zu denen ihm sogar ein paar erstaunte Freisinnige gratulierten, im ersten Wahlgang ein Achtungserfolg: Er überflügelte die Grünen-Kandidatin Ingrid Jacober um mehrere hundert Stimmen.

Zu den städtischen Gesamterneuerungswahlen diesen Herbst will es die JUSO wieder mal wissen und versucht zum zweiten Mal in ihrer Geschichte, einen Stadtratssitz zu erobern. Dieses Jahr kandidiert Robin Eichmann. Kein leichtes Unterfangen: Denn Rücktritte sind diesmal keine zu erwarten, alle fünf Bisherigen wollen am 22. September wiedergewählt werden.

 

Saiten: Die Mitte will ihren 2017 verlorenen Sitz mit Patrik Angehrn zurückerobern. Sie tritt gegen niemanden explizit an, sondern gegen die «Führungsschwäche», die sie im aktuellen Stadtrat ausgemacht haben will. Deine Kandidatur ist auch eine Reaktion auf die Ankündigung der Mitte. Wessen Sitz greift die JUSO an?

Robin Eichmann: Die Überlegung, dass es im Stadtrat endlich eine linke Mehrheit braucht, hatten wir schon lange. Der zweite Gedanke war, dass es angesichts der Kandidatur der fünf Bisherigen heikel sein könnte anzutreten. Als die Mitte ihre Kandidatur ankündigte, fanden wir, es kann nicht sein, dass der Stadtrat noch bürgerlicher wird. Im Gegenteil: Es ist Zeit für eine linke Mehrheit. Dabei ist uns ziemlich egal, ob dafür Buschor, Gabathuler oder Lüthi rausfliegt.

Die beiden SP-Sitze seht ihr nicht in Gefahr?

Nein, überhaupt nicht. Zum einen machen die beiden einen hervorragenden Job, was sicher auch die Stimmbevölkerung goutiert. Zum anderen konnten SP und JUSO bei den kantonalen Wahlen ihren Anteil in der Stadt nochmals auf ein historisches Hoch ausbauen. Das alles zeigt, in welche Richtung es im Herbst gehen dürfte.

Die Mutterpartei hat Andri Bösch 2017 aus wahltaktischen Gründen nicht unterstützt. Offenbar wollte man die Grünen-Kandidatin, die Bösch schliesslich unterlag, nicht bedrängen. Unterstützt die SP deine Kandidatur?

An der SP-Mitgliederversammlung vom 3. Juni werden wir den Antrag um Unterstützung unserer Kandidatur einreichen. Natürlich erhoffen wir uns die Unterstützung, weil wir finden, die Linke in St.Gallen soll selbstbewusst und mutig auftreten. Ich bin gespannt auf die Diskussion. Einzelne Genoss:innen freuen sich sehr, andere sind vielleicht ein bisschen in ihren Strategieüberlegungen gefangen. Aber am Schluss steht und fällt unsere Kandidatur nicht mit der Unterstützung der SP.

Kritiker:innen werden sagen, eure Kandidatur für die Exekutive sei ein Witz, die JUSO wolle bloss ihren Wahlkampf für einen zweiten Sitz neben Miriam Rizvi im Stadtparlament pushen. Wie ernst ist es dir mit deiner Kandidatur?

Wir kandidieren nicht einfach zum Plausch auf das Risiko hin, dass wir dann unverhofft in den Stadtrat gewählt werden. Die nächsten drei Monate wollen wir zuest einmal mit der Bevölkerung über das Ziel einer linken Stadtregierung diskutieren. Wir wissen aber auch, dass wir aufgrund politikwissenschaftlicher Statistiken keine allzu grossen Wahlchancen haben. Aber die Politik ist auch immer für Überraschungen gut. Und viele unterschätzen die Kraft der St.Galler Linken noch immer.

Welches wäre denn dein Wunschdepartement? Wo siehst du die grössten Baustellen?

Das ist eine grosse Frage. Ich persönlich finde die Baudirektion interessant wegen den Möglichkeiten der Stadtentwicklung. Aber eigentlich tut allen Departementen eine konsequent linke Stimme gut. Entscheidend ist, wie gesagt, eine linke Mehrheit des Gesamtstadtrats. Damit Entscheide für die Menschen getroffen werden.

Stadtrat und -parlament sind so links wie noch nie. Was heisst für dich eine «linke Stadt»?

Eine linke Stadt braucht eine Vision. Im Endeffekt heisst die Utopie: das schöne, gerechte und faire Leben für alle. Wir wollen ein feministisches, antirassistisches und ökosozialistisches St.Gallen. Dafür brauchen wir klare Ziele und radikale Änderungen. Die Pflästerlipolitik mit ein paar neuen Velowegli reicht dazu noch nicht. Das ist der Grund, weshalb wir für die Stadtregierung kandidieren und nicht nur fürs Parlament.

Welche Themen wollt ihr im Wahlkampf konkret setzen? Wo liegt 2024 euer Fokus?

Wir fordern Gratis-ÖV statt Autobahnanschluss beim Güterbahnhof. Das Stadtparlament hat klar gemacht, dass es diesen Anschluss nicht will. Der Verkehr soll ein Miteinander sein, Mobilität zum Grundrecht für alle Menschen, die hier leben, werden und der ÖV darum gratis. Dann wollen wir endlich die City Card, die Idee, die schon seit längerem auf dem Schreibtisch von Sonja Lüthi verstaubt. Für die Bürger:innenschaft soll nicht die Herkunft massgebend sein, sondern der Lebensmittelpunkt. Dies auch als Kontrapunkt zur kantonalen und nationalen Ausschaffungspolitik. Auch Sans-Papiers und andere Menschen mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus sollen durch Urban Citizenship endlich Zugang haben zu Bildung, Gesundheit, Arbeit und rechtlicher Sicherheit. Damit einher geht dann hoffentlich auch bald einmal ein offizielles Stimmrecht für alle. Nach dem Grundsatz «don’t ask, don’t tell, don’t deport»: Aufgrund der City Card würde die Frage nach dem Aufenthaltsstatus obsolet, beispielsweise wenn eine Person zum Arzt geht. Wir wollen keine weiteren Ausschaffungen aus der Stadt. Auf der City Card könnte man ausserdem den Geschlechtseintrag abschaffen.

Auch Andri Bösch hat 2017 eine autofreie Stadt und die politische Teilhabe aller mit Wohnsitz in St.Gallen gefordert. Wo setzt die JUSO neue Schwerpunkte?

Neu ist das Ziel einer feministischen Stadt. Wir müssen uns gegen die verschiedenen Formen patriarchaler Gewalt wehren. Ein zentrales Element ist hierbei aber das Thema Care Arbeit. In diesem Bereich wird – vor allem von FINTA-Personen – unglaublich viel unbezahlte Arbeit geleistet. Care Arbeit funktioniert einfach nicht nach marktwirtschaftlicher Logik. Darum wollen wir sie öffentlich und gemeinschaftlich organisieren. Wir wollen gratis Kantinen, gratis Wäschereien, mehr genossenschaftliche, generationenübergreifende Wohnprojekte, damit die Menschen in der Stadt die Care Arbeit auf mehr Schultern verteilen können. In Diskussionen werde ich gefragt, wer denn diese gemeinschaftliche Care Arbeit bezahlen soll. Die Frage ist aber, wer bezahlt sie heute? Das sind eben in erster Linie FINTA-Personen, es sind Mütter und Grossmütter, und es sind Kinder, die damit «bezahlen», dass sie eine überlastete Mutter haben.

Nebst solchen klassisch-feministischen Themen habt ihr auch explizit queerfeministische Forderungen. Bei aller Berechtigung dieser Anliegen: Das beackern queerfeministischer Themen im Wahlkampf könnte sich zum Bumerang entwickeln. Identitätspolitische Fragen sind oft Wasser auf die Mühlen der Rechten und Konservativen und schrecken auch nicht wenige Alt-Linke ab. Wie begegnest du diesem Dilemma?

Was man nicht erwähnt, wird nicht sichtbar. Nicht queeren Menschen ist einfach nicht bewusst, wie gewaltvoll ein queeres Leben in St.Gallen ist. Sei es durch diskriminierende Sprüche, sei es durch Übergriffe, im Ausgang oder sonst wo. Leider können wir nicht in Zahlen fassen, wie viel diskriminierende Gewalterfahrungen es gibt. Wir fordern deshalb schon lange statistische Erfassung von sogenannten Hassverbrechen. Trans Menschen haben auch oft Mühe, einen Job zu bekommen. Hier zeigt sich auch die kapitalistische Verknüpfung. Einerseits wird zum Beispiel mit Regenbogenflaggen und anderem Marketing Geld verdient, andererseits landen viele trans Menschen im Niedriglohnsektor. Das zeigt, dass unsere Gesellschaft auf Profit und nicht auf Menschen ausgerichtet ist.

Aber auch aus wirtschaftsliberaler Perspektive könnte es dem Kapitalismus doch egal sein, wer den Profit generiert.

Das stimmt, wenn man die Kapitalismuskritik separiert denkt. Wenn man sie aber intersektional denkt, sieht man, dass die Menschen, die im Niedriglohnsegment arbeiten müssen, oft unter patriarchaler Diskriminierung oder rassistischen Strukturen leiden. Patriarchat, Rassismus und Kapitalismus sind untrennbar verknüpft und bedingen sich gegenseitig. Ich will mich hier jetzt aber nicht in theoretische Diskussionen verstricken. Wichtig ist, dass queerfeministische Positionen und Forderungen – zum Beispiel nach Schutz oder Beratungsstellen – sichtbar werden. Wir täten nicht gut daran, diesen Diskurs den Rechten zu überlassen, sondern wollen dieser Hetzkampagne, die seit einiger Zeit gefahren wird, die Forderung nach einem schönen und freien Leben für alle entgegensetzen. Das ist eine Stärke der JUSO, dass wir in diesem Punkt nicht zurückschrecken aus Angst vor einem möglichen Wähler:innenverlust. Wir wollen nicht bloss möglichst viele Menschen von der Notwendigkeit des Systemwechsels überzeugen, sondern klarstellen, dass die Revolution queerfeministisch werden wird oder gar nicht.

Schön und gut, aber jetzt die Klassikerfrage: Wer soll den ganzen von euch geforderten, nicht unbescheidenen Ausbau des Service public bezahlen?

Um an der Aktualität anzuknüpfen: Aufgrund der Zentrumslasten müssen wir unbedingt mehr Geld reinholen. Da ist der Stadtrat und insbesondere Maria Pappa derzeit stark dran. Auch die jüngsten Steuersenkungen haben wir immer stark kritisiert. Davon profitieren immer nur die Reichsten. Wenn es um die Finanzierung geht, ist es immer eine Priorisierungsfrage. Wo ein Wille ist, ist immer auch ein Weg. Auf allen Staatsebenen – national, kantonal, kommunal – müssen wir uns mit dem weiteren Aufklaffen der Vermögens- und Einkommensschere auseinandersetzen. Wir müssen mit höheren Grundsteuern, Erbschaftssteuern, Vermögenssteuern und einer Erhöhung der Steuerprogression dagegenwirken und uns das Geld zurückholen. Weil am Ende krüppeln 99 Prozent zum Wohl des wohlhabendsten einen Prozent.

Du bist seit 2020 in der JUSO. Was hat dich persönlich politisiert?

Ich bin in eine SP-Familie geboren worden. Mein Onkel ist Gemeinderat in Goldach, meine Tante war Gemeinderätin. Ausschlaggebender war für mich aber wohl die Kantizeit, wo ich mich mehr begann für Politik zu interessieren. Ich beteiligte mich an den Klimastreiks. Und schliesslich wurde in Goldach der neue Autobahnanschluss angenommen. Daraufhin habe ich mich dem Klimastreikkollektiv angeschlossen und bin so schliesslich zur JUSO gestossen. Ich wurde also dank der Klimabewegung politisiert, aber dank der Strukturen im Streikkollektiv und vor allem bei der JUSO breit gebildet, sprich: weit über die ökologischen Forderungen hinaus. Ich bin überzeugt, die JUSO ist punkto Bildung und Analyse die am besten aufgestellte Partei im Land. Mein Weltbild hat sich in den letzten vier Jahren wesentlich verändert – oder eher: geschärft. Die Krisen spitzen sich zu, wir stehen wirklich kurz vor dem Abgrund. Dagegen müssen wir ankämpfen – in St.Gallen und überall!

Robin Eichmann, 2001, ist nonbinär und in Goldach aufgewachsen. Nach der Matura zog Eichmann nach St.Gallen und hat nach zwei Jahren im Theaterbüro des Komiktheaters das Geschichts- und Germanistikstudium in Zürich aufgenommen. Seit 2020 ist Eichmann Mitglied der JUSO Stadt St.Gallen, dort direkt auch in den Vorstand eingezogen und arbeitet seit einem Jahr für die Wahlkampagnen bei der SP. Seit August 2023 ist Robin Eichmann zudem im Vorstand der JUSO Kanton St.Gallen.

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