«Wir haben einen langen Atem»

Marina Widmer ist vieles. Feministin, Soziologin, Historikerin, Publizistin, Kuratorin, Archivarin, Geschäftsleiterin, Netzwerkerin, Aktivistin und vor allem: hartnäckig. Eine, die nicht lockerlässt und auch bereit ist, dafür den Preis zu zahlen. Jahrzehntelang musste sie sich von Projektbeitrag zu Projektbeitrag hangeln, der Grossteil ihrer Arbeit an unzähligen Projekten war unbezahlt, deren Finanzierung stets ein Flickwerk.
Im Sommer-Interview mit Saiten, kurz bevor sie die Leitung des Ostschweizer Archivs für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte an ihre Nachfolgerin Judith Grosse übergab, sagte sie auf die Frage, ob sie manchmal schlaflose Nächte habe: «Das muss Frau aushalten können, sonst ist das nicht machbar.» Seit Juni ist die Finanzierung des Archivs nun gesichert. Kanton und Stadt haben ihre Beiträge erhöht.
Die Tausendsassin
Widmer ist aber nicht nur Mitbegründerin und langjährige Leiterin des Frauenarchivs, sie war auch im Frauenrat für Aussenpolitik, dabei bei der Gründung der Politischen Frauengruppe PFG, der feministischen Arbeitshefte zur Politik «Olympe», der Frauenbibliothek Wyborada, des Antirassismustreffs Cabi, des Solidaritätsnetzes oder der Ostschweizer Beobachtungsstelle für Asyl und Ausländerrecht.
Nach all diesen Jahren unermüdlicher Arbeit ist es nur angemessen, dass Marina Widmer den mit 30’000 Franken dotierten städtischen Kulturpreis verliehen bekommt. «Der Preis ist eine Anerkennung für den Werdegang und das Engagement Marina Widmers wie auch ein Statement für die feministische kulturpolitische Arbeit», schreibt die Stadt in ihrer Medienmitteilung.
Auf der gerahmten Urkunde, gestaltet von der Künstlerin Beatrice Dörig, heisst es:
Marina Widmer nimmt eine zentrale und aktive Rolle in der Aufarbeitung und Bewahrung der feministischen Geschichte der Stadt und der Region ein. Als langjährige und jederzeit engagierte Geschäftsführerin des Archivs für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte leistet sie eine gesamtgesellschaftliche Arbeit, die auch für den Kulturbereich von wesentlicher und aktueller Bedeutung ist. Gemeinsam mit vielen Ehrenamtlichen hat sie eine umfassende Materialsammlung zum Leben und Wirken von Frauen sowie zur Geschichte sozialer Bewegungen in der Region aufgebaut. Mit ihrer Forschungs- und Vermittlungstätigkeit macht Marina Widmer die Sozialgeschichte der Zentrumsstadt St.Gallen für künftige Generationen zugänglich. Dieses lebendige Kulturgedächtnis ist eine wichtige Basis für die zukunftsfähige Gestaltung der städtischen Kulturlandschaft und für das Zusammenleben der Stadt.
Standing Ovations bei der Übergabe am Samstagabend im vollen Pfalzkeller. Viele von Widmers Weggefährt:innen, Kompliz:innen und Arbeitskolleg:innen sind gekommen, aber auch viele aus der italienischen Gemeinschaft, mit denen Widmer mehrere Projekte und Publikationen zur Migrationsgeschichte auf die Beine gestellt hat. Stadtpräsidentin Maria Pappa begrüsst sie eigens, hätte wohl am liebsten gleich ihre ganze Rede auf Italienisch gehalten.
Widmers Nomination für den Kulturpreis habe sie sehr gefreut, sagt Pappa. Nicht nur, weil Widmer erst die vierte Frau von mittlerweile 18 Preisträger:innen sei, sondern vor allem, weil sie «die Unsichtbaren sichtbar macht». Geschichte werde von Männern gemacht. «Viele Frauengeschichten wurden einfach nicht geschrieben, obwohl sie ein Anrecht darauf hätten», so Pappa. Widmer habe sich immer aktiv dafür eingesetzt, die Frauen und ihre Geschichten sichtbar zu machen und so «den Kanon der offiziellen Geschichtsschreibung zu erweitern».
Ein eingeschworenes Team
Die Laudatio hält Historikerin Elisabeth Joris. Widmer werde zwar vor allem für ihre Tätigkeit als Mitbegründerin und Geschäftsleiterin des Frauenarchivs ausgezeichnet, doch ihr Engagement sei eingebettet in viel breitere Interessen- und Tätigkeitsfelder, betont sie, und führt das Publikum quer durch Widmers Schaffen: von der Gründung der PFG in den 80er-Jahren über die Herausgabe der feministischen Zeitschrift «Olympe», ihr Engagement im Cabi, die Frauenbibliothek Wyborada bis zur Neuauflage von Elisabeth Gerters Die Sticker und den Ausstellungen und Publikationen zur italienischen Migration.

Judith Grosse, die neue Leiterin des Archivs, Laudatorin Elisabeth Joris und Preisträgerin Marina Widmer
Widmers «polyvalenter Ideenreichtum» sei phänomenal, sagt Joris. Ausserdem lobt sie Widmers Schnelligkeit und Beharrlichkeit, aber auch ihre Fürsorge und ihre stete Verpflichtung dem kollektiven Arbeiten gegenüber. «Sie verbindet Projektleitung, Diskutieren, Arbeiten, Streiten mit gemeinsamen Mahlzeiten, in der Regel ein einfaches Essen, von ihr gekocht und gern mit Zutaten aus dem eigenen Garten.» Dank dieser familiären Atmosphäre sei es Widmer gelungen, ein eingeschworenes Team um sich zu versammeln.
«Diese persönliche Art des Zusammenarbeitens, verstärkt durch ihre offene Aufmerksamkeit und ihre lebendige Ausstrahlung, haben das soziokulturelle Klima von St.Gallen mitgeprägt und sich zugleich in den von ihr initiierten Projekten niedergeschlagen», hält Joris fest. «Der feministische Blickwinkel gepaart mit Solidarität für Migrantinnen und Migranten war dabei wohl der wirksamste Faktor. So erzählen diese Projekte die Geschichte der alten und neuen Frauenbewegung, der Migration, der Arbeiterinnen, verbinden das Lokale mit dem Globalen.»
«Es ist hart»
Marina Widmer ist sichtlich gerührt. Joris’ Ausführungen hätten viele Erinnerungen geweckt, sagt sie in ihrer Dankesrede. Und, ganz Widmer: Als gesellschaftspolitisch engagierte Feministin und Kulturschaffende geehrt zu werden, sei leider bis heute nicht selbstverständlich. «Umso mehr freut es mich. Nicht nur für mich, sondern auch für alle Frauen, die die Gegenwart nicht einfach hinnehmen, sondern mit einem Gestaltungswillen verändern wollen.»
Der Kulturpreis gehe zwar an sie, sagt Widmer, dennoch sei sie immer kollektiv unterwegs gewesen, darum wolle sie sich zuallererst bei ihren Mitstreiterinnen und Weggefährtinnen bedanken. «Ohne das gemeinsame kollektive Arbeiten hätten viele Ideen nicht umgesetzt werden können.»
Ihr sei es immer wichtig gewesen, konkret etwas zur Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse beizutragen, erklärt Widmer. «Mit jedem Projekt und jedem Engagement wuchsen die Erfahrungen, die ich – die wir – für die Umsetzung von weiteren Projekten einsetzen konnten. Aber ich will es nicht verschweigen: Es ist hart. Dem real existierenden Patriarchat nur schon Gelder für feministische Projekte abzutrotzen, geschweige denn, etwas politisch bewegen zu können.»
Kampfansage zum Schluss
Widmer bedankt sich bei der Stadt, dem Duo Pristašová-Zaugg, das den Abend musikalisch umrahmt hat, bei ihrer Familie, dem Vorstand des Frauenarchivs und der italienischen Gemeinschaft. Aber Widmer wäre nicht Widmer, wenn es beim artigen Bedanken bleiben würde. Bevors in den Apero riche geht, liefert sie dem Publikum noch einen «kleinen Exkurs in die real existierenden Patriarchalen Verhältnisse».
«Genderdebatte erreicht jetzt sogar den Richtplan», zitiert sie eine NZZ-Schlagzeile. «Das zeigt uns, wie empört die Ewiggestrigen sind, dass sie sich nun auch in diesem Bereich mit der Genderdebatte auseinandersetzen müssen.» Widmer erinnert das Publikum daran, wie sie sich «nur schon über das Gendersternchen aufgeregt haben» und fragt: «Was passiert erst, wenn sie sich mit einem gendergerechten öffentlichen Haushaltsplan auseinandersetzen müssen? Oder wenn die feministische Makroökonomie die systemischen Fehlleistungen und katastrophalen Auswirkungen aufzeigt und Gelder umverteilt werden sollen?»
Ihre Antwort ist kämpferisch, was sonst: «Es wird nicht bei der Empörung bleiben, sondern auch Strategien auslösen, wie das verhindert werden kann. Aber das kennen wir ja. Wir haben einen langen Atem, habe ich Recht?»