«Wir brauchen Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung»

Samantha Wanjiru hat die erste Black Lives Matter-Demo in St.Gallen organisiert und will eine Plattform für Black History & Culture auf die Beine stellen. Ein Gespräch über Sichtbarkeit, genderspezifischen Rassismus und schwierige Frisuren.
Von  Corinne Riedener
Bilder: Tine Edel

Saiten: An die erste Black Lives Matter-Demo in St.Gallen sind über 1100 Leute gekommen. Überrascht?

Samantha Wanjiru: Ja! Wie viele wir wirklich waren, habe ich erst am Schluss im Kantipark richtig realisiert. Besonders gefreut hat mich, dass sich auch Leute angeschlossen haben, die eigentlich nur am Shoppen waren und sich dann solidarisierten.

Ist die Schweiz ein rassistisches Land?

Gibt es rassistische Vorfälle in der Schweiz? Auf jeden Fall. Gibt es in der Schweiz eine Bildungslücke in Sachen Rassismus? Definitiv. Wurden die hiesigen Kolonialverstrickungen immer noch nicht aufgearbeitet? Leider, ja. Trotzdem will ich pauschal nichts über ein Land sagen, in dem ich nicht aufgewachsen bin. Rassismus existiert überall auf der Welt, das ist ein internationales Problem, auch wenn Amerika die Brutstätte ist. Was viele dabei vergessen: Rassismus hat seine Ursprünge in Europa, die rassistische Geschichte hat hier angefangen. Louis Agassiz, der bekannte Rassentheoretiker, war ein Schweizer. Columbus, der den transatlantischen Sklavenhandel mit aufgebaut hat, war Portugiese.

Rassismus ist kein Pro- und Contra-Thema. Was macht es mit dir, wenn zum Beispiel im Schweizer Fernsehen immer noch darüber diskutiert wird, ob Rassismus in der Schweiz überhaupt existiert?

Es zeigt mir vor allem, wie gross die Diskrepanz im Bildungssystem ist. Diese Bildungslücke muss unbedingt gefüllt werden. Wir brauchen Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung. Es gibt zum Beispiel immer noch Leute, die das Wort «Mulatte» benutzen, weil sie nicht wissen, dass das eigentlich ein Schimpfwort ist. Damit sind Kreuzungen zwischen Esel und Pferd gemeint. Auf einen Menschen bezogen, war und ist diese Bezeichnung als erniedrigend zu verstehen. Dasselbe gilt für den «Mischling». Auch dieser Begriff kommt aus der Tierwelt, er erinnert an Strassenhunde. Ich verwende darum lieber das Wort «mixed». Neben der Sprache ist auch die Repräsentation ein wichtiges Thema. Es ist ein grosses Problem, dass Rassismus-Betroffene an den grossen Tischen, wo diese Diskurse geführt und Entscheidungen getroffen werden, immer noch keinen Platz haben. Man spricht über die Leute, statt mit den Leuten. Das muss sich ändern.

Oft fragen Weisse People of Colour nach ihren persönlichen Rassismuserfahrungen, um die Bestätigung zu haben, dass er tatsächlich existiert. Wie gehst du mit dieser «Beweislast» um?

Es braucht eine Sensibilisierung. Schön wäre, wenn man zuerst einmal fragen würde, ob es okay ist, nach persönlichen Erfahrungen zu fragen. Weil ja oft auch Traumata damit verbunden sind. Es ist auslaugend, ständig seine Lebensgeschichte wiederholen zu müssen, darum ist es wichtig, sich zu organisieren, um diese Last vom einzelnen Individuum zu nehmen. Es ist nicht die Aufgabe von Einzelpersonen, dauernd gegen Vorurteile und gegen Stereotypen zu kämpfen.

Samantha Wanjiru, 1993, ist 2019 von Freiburg im Breisgau nach St.Gallen gekommen. Sie studiert Psychologie und arbeitet nebenher als Bademeisterin. Ab September schreibt sie die Stimmrecht-Kolumne bei Saiten.

Ihr habt euch mit dem Frauenstreik solidarisiert – reden wir über genderspezifischen Rassismus.

Martin Luther King hat es treffend zusammengefasst, als er sagte, dass Schwarze Frauen die grösste Bürde zu tragen haben. Sie werden von allen am respektlosesten behandelt. Nehmen wir die Popkultur: Frauen wie Kim Kardashian, die iranische Wurzeln hat, wollen «schwarz» aussehen. Weisse Künstlerinnen tragen Braids oder Rastas, fühlen sich trendig und exotisch, vergessen aber, dass diese Frisuren eine Unterdrückungsgeschichte haben. In Südafrika zum Beispiel haben Schwarze Frauen und Mädchen bis heute Nachteile, wenn sie ihre Haare offen tragen. Kurz: Black Culture auf weissen Frauengesichtern wird heute mehr akzeptiert als die Schwarzen Frauen selbst. Kommt hinzu, dass mixed Frauen oft exotisiert und fetischisiert werden, auch Thailänderinnen oder Brasilianerinnen. Sie gelten als «die schönere Version einer Frau of Colour», weil sie eher europäische Züge haben. Auf der anderen Seite wird auch das Bild des hypersexualisierten Schwarzen Mannes tagtäglich reproduziert. In den Medien existiert er nur als Gangster, Rapper, Drogendealer. So wird eine ganze Gesellschaft konditioniert.

Was wünschst du dir von weissen Verbündeten?

Authentizität. Sie sollten ihre Motive hinterfragen und nicht nur auf den Hype aufspringen – also beweisen, dass sie mit dem Druck leben können, nicht nur reden oder etwas posten, sondern sich auch langfristig engagieren. Dafür ist es wichtig, uns Schwarzen Menschen mehr zuzuhören und sich etwas zurückzunehmen. Weisse können zum Beispiel Räume schaffen für jene, die etwas zu sagen haben. Mein Ziel ist es, dass mehr Schwarze Gesichter zu Schwarzen Geschichten gesehen werden.

Dazu willst du beitragen, indem du eine Plattform für Black History & Culture in St.Gallen aufbaust.

Genau. Das müssen wir systematisch angehen, wenn es nachhaltig und wirkungsvoll sein soll. Schwarze Kultur und Geschichte sind quasi unsichtbar in St.Gallen, diese Lücke wollen wir füllen. Eines unserer ersten Projekte wird ein Bildungsprojekt sein. Ich würde gerne die Kantonsschule und die Uni an Bord haben, aber auch andere öffentliche Institutionen. Wie wichtig das ist, sieht man zum Beispiel in Deutschland: Die Bevölkerung wäre nicht so aufgeklärt, wenn der Holocaust nicht von der Grundschule bis zum Studium immer wieder Thema gewesen wäre. Die Deutschen sind sich so ihrer Verantwortung bewusst geworden. Dasselbe gilt auch für den Rassismus.

Was ist sonst noch geplant oder angedacht?

Das wichtigste wird die Aufklärungsarbeit sein. Wir möchten auch bereits bestehenden Vereinen und Organisationen eine Plattform bieten. Natürlich gehört da auch die Kultur dazu: Wir wollen Quartieranlässe, Festivals, Picknicks im Park oder Food-Events auf die Beine stellen, um alle, die hier sind, zu vereinen. Auf politischer Ebene wollen wir die Integration auf beiden Seiten fördern, da diesbezüglich ein Ungleichgewicht herrscht. Auf Schweizer Seite muss noch einiges gemacht werden, damit das Zusammenleben funktioniert. Wir müssen die Einwanderung als Bereicherung und nicht als Bedrohung sehen.

Dieser Beitrag erscheint im Sommerheft von Saiten.