, 25. Februar 2014
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Wieviel «rechts» verträgt Europa?

Die radikale Rechte ist europaweit auf dem Vormarsch und ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Diese Diagnose stellte Buchautor Andreas Speit am Montag beim Cabi-Antirassismus-Treff in St.Gallen. Erschreckend, findet Matthias Fässler.

Das Cabi hatte zur Lesung geladen, der Anlass hätte kaum tagesaktueller sein können, und die Befunde stimmten bedenklich: Der Autor und Journalist Andreas Speit (TaZ) aus Hamburg stellte sein Buch «Europas radikale Rechte – Bewegungen und Parteien auf Strassen und in Parlamenten» vor, das er vergangenes Jahr zusammen mit dem Soziologen Martin Langebach publiziert hat.

Ein Jahr lang sind Speit und Langebach auf den Spuren der radikalen Rechten quer durch Europa gereist. Dabei begegneten sie paramilitärischen Schlägertrupps in Athen, faschistischen Hausbesetzern in Rom genauso wie «demokratischen» Parteien mit Ambitionen auf Sitze im Europaparlament. Ihr Fazit ist für sämtliche untersuchten Regionen und politischen Strömungen primär das gleiche: Die Rechte hat sich ihr martialisches, aggressives und offen rassistisches Erscheinungsbild abgelegt. Sie kommt moderat und liberal daher, engagiert sich in Dorfvereinen, hilft Bedürftigen bei alltäglichen Fragen. Kurz: Sie gibt sich volksnah.

Geeint wird sie durch ein gemeinsames Feindbild: Europa und seine multikulturelle Gesellschaft. Für die Verteidigung der «abendländischen Werte und Identität» werden auch alte Feindschaften über den Haufen geworfen und neue Bündnisse geschlossen: So macht Marine Le Pens rechtsextremer Front National (im Bild eine Demonstration des FN in Paris 2013) neuerdings gemeinsame Sache mit dem niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders.

Schlechte Aussichten für EU-Wahl

Das Buch ist aber auch ein Beitrag zur aktuellen Europa-Debatte. Diese werde viel zu oft den Polemiken rechtsbürgerlichen Kräfte überlassen, die aus dem Defizit der EU politisches Kapital zu schlagen versuchen, dass diese zwar ein gemeinsamer Wirtschafts- und Währungsraum, aber keine soziale Union als integratives europäisches Projekt ist. Sie sind damit äusserst erfolgreich: Ende Mai wird in den Mitgliedsstaaten der EU das Europaparlament gewählt. Gemäss Umfrageergebnissen und Experten können sich radikale rechte Kräfte beste Chancen ausrechnen. Der Front National um Marine Le Pen, der sich klar gegen die EU ausspricht, könnte gar zur stärksten französischen Kraft im EU-Parlament werden.

Das Buch zeigt auch auf, dass Wirtschaftskrisen und soziale Spannungen als Ausdruck «nervöser Gesellschaften» ein ganz bedeutender Nährboden für das Aufkommen rechter Bewegungen und Parteien sein können. Zahlreiche Beispiele, u.a. die Schweiz oder Holland, illustrieren aber auch die gegenläufige Tendenz: Auch in Ländern, denen es wirtschaftlich gut geht, gewinnen rechte Kreise aus der Angst vor dem Verlust von Wohlstand an Einfluss.

Schweizer Symptome

Wer also das Gefühl hat, das gehe die Schweiz so gar nichts an, wurde an dem Abend rasch eines Besseren belehrt. Die Autoren berichten in einem ihrer Kapitel ausführlich u.a. über die Lega dei Ticinesi, die Rütli-Feier, die Partei National Orientierter Schweizer (Pnos), die Hammerskins und die SVP. Letztere hatte nach ihrer gewonnenen Abstimmung am 9. Februar Beifall von zahlreichen europäischen rechtsradikalen und -populistischen Lagern geerntet. Und auch hier gibt man sich volksnah und ist damit in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Die Autoren werfen mit ihren Reportagen und Analysen die zentrale Frage auf: Wie viel «rechts» verträgt Europa noch?

Am Samstag 1. März 2014 findet um 14.30 Uhr auf dem Bundesplatz in Bern eine Demo statt: für eine offene und solidarische Schweiz. Das ist zumindest ein Anfang und eine mögliche Antwort auf diese Frage.

Langebach/Speit: Europas radikale Rechte, Orell Füssli Verlag Zürich 2013, Fr. 29.90

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