Wiedergänger auf der Bühne
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Dienstagabend, die dritte Vorstellung der «Gespenster» nach der Premiere am vorangegangenen Freitag, die Publikumreihen sind dünn besetzt, und auch der Bär hat schon bessere Zeiten gesehen. Der Bär: Jetzt steht er zuhinterst rechts in der Ecke im Halbdunkel und kommt nicht ein einziges Mal ins Spiel. Dabei gehörte ihm einst die Hauptrolle, damals im November 2008, als auf der grossen Bühne des St.Galler Theaters Bärenjagd uraufgeführt wurde, das Stück des Exil-St.Galler Autors Bruno Pellandini.
Erinnert man sich daran noch? Es ging um Künstlerbeschimpfung und Provinzbashing, St.Gallen hiess «Strunzenburg», und der Bär brummte vielleicht für mehr Auflehnung gegen dessen Provinzialität. Seither stand, soweit erinnerlich, kein Stück eines hiesigen Autors mehr auf dem Schauspiel-Spielplan, abgesehen von st.gallisch gefärbten Projekten wie Paul Grüninger oder City of Change.
Dass der Bär jetzt bloss noch Requisit ist, ist symbolträchtig: Zu den familiären und religiösen Gespenstern, die in Henrik Ibsens Stück herumspuken, kommt bei dieser Inszenierung die hiesige Theatergeschichte hinzu. Bühnenbildnerin Mauve Vuilleumier hat einen tiefen Griff in den Fundus getan, das Resultat ist eine verwinkelte Wohnstube mit diversem nutzlos gewordenem Mobiliar und mit uneinsehbaren Ecken, die so «lichtscheu» sind, wie ihre Bewohnerin Helene Alving sich selber einmal bezeichnet.
In den Klauen des Pastors
Zum Sammelsurium in diesem Raum, der die Hauptrolle spielt, gehören auch die anspielungsreichen Kostüme. Oder eine alte Blechbadewanne, in der möglicherweise einst Revolutionär Marat in Peter Weiss‘ Marat/Sade gemeuchelt worden ist, 25 Jahre muss das mindestens her sein. Auch Peter Weiss ist vom Spielplan verschwunden, nicht nur in St.Gallen allerdings. Gengangere, wie der norwegische Originaltitel der Gespenster heisst: Wiedergänger, Untote, wo man hinschaut.
Regisseur Stefan Kraft hat seinerseits eine, wenn auch weniger weit zurückliegende Geschichte mit St.Gallen. Hier war er bis 2013 Regieassistent, jetzt kommt er nach dem Regie-Masterstudium an der HdKZ mit Ibsen zurück in die Lok. In den Hauptrollen kann er sich auf zwei stützen, die bei der Bärenjagd schon dabei waren; Diana Dengler und Bruno Riedl. Dengler gelingt hier die abgründigste Figur, Helene Alving: glaubhaft in ihrer Wahrheitssuche, für die die Zeit und sie selber aber noch nicht parat sind. Riedl steckte damals im Bärenkostüm – jetzt bei Ibsen spielt er in einem überdimensionierten Mantel seine Paraderolle, den bigotten Pfarrer.
Dieser Pastor Manders glaubt alle Gespenster der Vergangenheit mit «Pflicht und Ordnung» und Unterwerfung unter Gottes beziehungsweise seinen eigenen pfarrherrlichen Willen bannen zu können. Natürlich tritt das Gegenteil ein, die verdrängten Gespenster rauben allen die Lebenskraft, zuvorderst den Jungen: Felix Utting als Osvald und Johanna Dähler als Regine, beide noch im Schlussspurt ihrer Schauspielausbildung in Zürich respektive Bern. Im Hintergrund steht und hobelt Tischler Engstrand (Matthias Albold), dass die Späne fliegen, die in der Familiengeschichte allzu lange nicht geflogen sind.
Vaterkonflikte, Mutterversäumnisse
Stefan Kraft strafft das Fünfpersonenstück textlich, kondensiert es auf die Kernkonflikte, die zeittypisch Vaterkonflikte sind – Osvald kommt als «verlorener Sohn» und gescheiterter Künstler krank zurück nach Hause, von wo ihn seine Mutter mit fünf Jahren weggegeben hat, um ihn nicht dem Vor-Bild eines verluderten Vaters auszusetzen. Regine ist beim ungeliebten Engstrand aufgewachsen, der, wie sie erst jetzt erfährt, gar nicht ihr leiblicher Vater ist – in Wahrheit ist sie Osvalds Halbschwester. Aus der erhofften Liebe wird also nichts, und Regine macht sich aus dem Staub, hochnäsig, dafür als einzige mit einer Lebensperspektive.
Den sich kumulierenden Familienkatastrophen merkt man teils ihr Alter an (das Stück machte vor 120 Jahren Skandal) – doch im Kern, im Grundkonflikt hat es nichts von seiner Brisanz verloren: Anpassung gegen Auflehnung, individuelle Selbstbehauptung gegen gesellschaftliche Zwänge. Das arbeitet der Regisseur unaufgeregt heraus, er lässt den Text in der schlanken Übersetzung von Angelika Gundlach sehr selbstverständlich sprechen, manchmal fast zu beiläufig, ausser wenn Osvald wieder einmal seinen Schreianfall hat.
Und das Berückende: In entscheidenden Momenten macht das Ensemble Musik, dass man sich fast ein bisschen an Christoph Marthaler (noch so ein Wiedergänger) erinnert fühlt. Osvald geigt seine Verlorenheitsmelodien, Regine schlägt aufs Klavier ein, Helene sucht sich am verstimmten Flügel die Töne wie Versäumnisse zusammen, Engstrand sägt im Takt dazu – und einmal singen alle mit dem Pastor einen komplizierten, quintenreichen Bittgesang, dessen souveräne Bewältigung ihnen allein schon die Absolution zumindest des Kritikers sichert.
Diesem hat der Bär hinten in der Ecke am Ende dann doch noch etwas ins Ohr gebrummt: «Schreib ruhig, dass etwas mehr Publikum kommen soll als heute abend.» Versprochen – es lohnt sich nämlich, die alten und neuen Gespenster in der Lok anzusehen und anzuhören.
Weitere Vorstellungen: 17., 18., 21., 25., 29. April, 3. und 5. Mai, je 20 Uhr.
Weitere Infos: theatersg.ch
Bilder: Tine Edel