Wie wird die Geschichte dieses Mal geschrieben?

Öcalans Friedensaufruf: Was die Auflösung der PKK für die Kurd:innen und die Türkei bedeutet. 

Kameramast in Dyarbakır: Die staatliche Überwachung ist allgegenwärtig, insbesondere an Strassenkreuzungen, in Parks, vor Schulen, Verwaltungsgebäuden und anderen öffentlichen Einrichtungen. (Bild: Luca Isepponi)

Die PKK, die 1978 un­ter der Füh­rung von Ab­dul­lah Öcalan in der Kur­di­stan-Re­gi­on der Tür­kei ge­grün­det wur­de, gilt als das letz­te Glied in der Ket­te kur­di­scher Auf­stän­de. Nach der Fest­nah­me Öcal­ans 1999 trat die Or­ga­ni­sa­ti­on in ei­ne neue Pha­se ein. Öcalan ent­wi­ckel­te im Ge­fäng­nis ein neu­es Pa­ra­dig­ma und ver­ab­schie­de­te sich vom Ziel ei­nes un­ab­hän­gi­gen und ver­ein­ten Kur­di­stans. Statt­des­sen mach­te er die Idee des «De­mo­kra­ti­schen Kon­fö­de­ra­lis­mus» – ein staats­lo­ses Ge­sell­schafts­mo­dell – ab 2005 zur neu­en Leit­li­nie der PKK. 2013 be­gan­nen ge­hei­me Ge­sprä­che zwi­schen Öcalan und Ver­tre­tern des tür­ki­schen Staa­tes, die bald dar­auf zur of­fi­zi­el­len Er­öff­nung der so­ge­nann­ten Frie­dens­pro­zess-Ver­hand­lun­gen führ­ten.

Die­ser Pro­zess fiel zu­sam­men mit dem Aus­bruch des Bür­ger­kriegs in Sy­ri­en. Als sich die sy­ri­sche Ar­mee aus der Ro­ja­va-Re­gi­on zu­rück­zog, um grös­se­re Städ­te zu ver­tei­di­gen, be­waff­ne­ten sich die Kurd:in­nen, um ihr ei­ge­nes Land zu schüt­zen. Die An­grif­fe ra­di­ka­ler Grup­pen wie des IS auf die kur­di­schen Ge­bie­te und der kur­di­sche Wi­der­stand da­ge­gen führ­ten da­zu, dass in­ter­na­tio­na­le Mäch­te sich auf die Sei­te der Kurd:in­nenen stell­ten und die­se in Sy­ri­en an Ein­fluss ge­wan­nen. Die­se Ent­wick­lun­gen ge­hör­ten zu den Haupt­grün­den für das Schei­tern des Frie­dens­pro­zes­ses, der 2015 er­folg­los en­de­te.

Der Be­ginn ei­nes neu­en Pro­zes­ses

Am 27. Okot­ber 2024, al­so knapp zehn Jah­re spä­ter, kün­dig­te ei­ne un­er­war­te­te Er­klä­rung des rechts­extre­men Po­li­ti­kers Dev­let Bah­çe­li im Par­la­ment ei­ne neue Pha­se in der un­ge­lös­ten kur­di­schen Fra­ge der Tür­kei an. Bah­çe­li sag­te: «PKK-Füh­rer Ab­dul­lah Öcalan soll ins Par­la­ment kom­men, die Auf­lö­sung der PKK ver­kün­den und, falls nö­tig, frei­ge­las­sen wer­den.» 

Kurz dar­auf wur­den die Tü­ren des Ge­fäng­nis­ses auf der In­sel İmr­alı ge­öff­net, in dem Öcalan jah­re­lang oh­ne Kon­takt zu sei­ner Fa­mi­lie oder sei­nen An­wält:in­nen fest­ge­hal­ten wor­den war. Mit Ge­neh­mi­gung des tür­ki­schen Staa­tes reis­te ei­ne De­le­ga­ti­on der lin­ken DEM-Par­tei nach İmr­alı, um Öcalan zu tref­fen. An­schlies­send nahm die De­le­ga­ti­on im Na­men Öcal­ans Kon­tak­te zu ver­schie­de­nen po­li­ti­schen Par­tei­en in der Tür­kei auf. Auf Öcal­ans Wunsch hin reis­te sie schliess­lich in die Au­to­no­me Re­gi­on Kur­di­stan im Irak, um Ge­sprä­che mit Me­sut Bar­za­ni und an­de­ren kur­di­schen po­li­ti­schen Ver­tre­tern zu füh­ren.

Öcal­ans his­to­ri­scher Auf­ruf

Die kri­tischs­te Pha­se er­reich­te der Pro­zes­ses am 27. Fe­bru­ar 2025. Nach ei­nem vier­stün­di­gen Ge­spräch mit Öcalan kehr­te die De­le­ga­ti­on der DEM-Par­tei nach Is­tan­bul zu­rück und ver­öf­fent­lich­te sei­nen schrift­li­chen Auf­ruf zur Selbst­auf­lö­sung der PKK.

Das von Öcalan ver­fass­te Do­ku­ment mit dem Ti­tel «Auf­ruf zum Frie­den und ei­ner de­mo­kra­ti­schen Ge­sell­schaft» be­gann mit den fol­gen­den Wor­ten:

«Die PKK ent­stand im in­ten­si­ven Ge­walt­um­feld des 20. Jahr­hun­derts, ge­prägt von zwei Welt­krie­gen und dem Kal­ten Krieg, in ei­ner Zeit, in der die kur­di­sche Rea­li­tät ge­leug­net wur­de. Doch mit dem Zu­sam­men­bruch des re­al exis­tie­ren­den So­zia­lis­mus und dem En­de der Leug­nung eth­ni­scher Iden­ti­tä­ten im Land hat die Or­ga­ni­sa­ti­on ih­re Exis­tenz­grund­la­ge ver­lo­ren. Ih­re wei­te­re Exis­tenz ist nicht mehr not­wen­dig. Des­halb muss sich die PKK auf­lö­sen.»

Die Re­ak­tio­nen und die Ant­wort der PKK

Die­se his­to­ri­sche Ent­wick­lung lös­te in ver­schie­de­nen Tei­len der kur­di­schen Ge­sell­schaft un­ter­schied­li­che Re­ak­tio­nen aus. Wäh­rend ei­ni­ge dem Pro­zess mit Skep­sis be­geg­ne­ten, schöpf­ten an­de­re Hoff­nung auf ei­nen lang er­sehn­ten Frie­den. Auch wenn die end­gül­ti­gen Er­geb­nis­se des Pro­zes­ses noch un­ge­wiss blei­ben, wur­de die­ser Schritt als be­deu­ten­de In­itia­ti­ve zur Be­en­di­gung der Ge­walt und zur Er­öff­nung de­mo­kra­ti­scher Lö­sungs­we­ge be­trach­tet.

In den letz­ten Jah­ren hat die PKK mit ih­rer Rhe­to­rik ei­nes «De­mo­kra­ti­schen Re­pu­bli­ka­nis­mus» ver­schie­de­ne ge­sell­schaft­li­che The­men über den kur­di­schen Iden­ti­täts­kampf ge­stellt, was pa­ra­do­xer­wei­se ih­re ei­ge­ne Bin­dung an die kur­di­sche Iden­ti­tät ge­schwächt hat. Wäh­rend sie kur­di­sche po­li­ti­sche Ak­teur:in­nen scharf kri­ti­sier­te, zeig­te sie ge­gen­über re­gio­na­len Mäch­ten ei­ne mil­de­re Hal­tung – ein Fak­tor, der ih­re na­tio­na­le Le­gi­ti­mi­täts­ba­sis zu­neh­mend un­ter­grub. Be­son­ders seit 2016 wur­de so­wohl für die Kurd:in­nen als auch für den tür­ki­schen Staat im­mer un­kla­rer, was die PKK ei­gent­lich er­rei­chen woll­te.

Bei ei­ner Ge­samt­be­trach­tung des Do­ku­ments wird deut­lich, dass Öcalan die PKK be­din­gungs­los auf­lö­sen will. Ei­ne Or­ga­ni­sa­ti­on, die re­gio­na­le und glo­ba­le Ent­wick­lun­gen nicht rich­tig zu ana­ly­sie­ren ver­mag, durch Mehr­köp­fig­keit wi­der­sprüch­li­che Er­klä­run­gen ab­gibt und sich nicht an ver­än­der­te Be­din­gun­gen an­pas­sen kann, hat es oh­ne­hin schwer, ih­re Exis­tenz auf­recht­zu­er­hal­ten. In die­sem Sin­ne kam Öcal­ans Auf­ruf für vie­le kur­di­sche Krei­se nicht über­ra­schend. Un­mit­tel­bar nach der öf­fent­li­chen Be­kannt­ga­be von Öcal­ans Er­klä­rung er­folg­te von den PKK-Füh­rungs­kräf­ten die Mit­tei­lung: «Wir wer­den Öcal­ans Auf­ruf fol­gen.»

Re­gio­na­le Dy­na­mi­ken und die Stra­te­gie des Staa­tes

Es gibt zahl­rei­che Kom­men­ta­re und Ana­ly­sen dar­über, war­um die tür­ki­sche Re­gie­rung ge­ra­de jetzt die­sen Schritt un­ter­nom­men hat. Ei­ni­ge be­trach­ten die­sen Pro­zess als stra­te­gi­schen Schach­zug der Er­doğan-Re­gie­rung, um die Amts­zeit über 2028 hin­aus zu ver­län­gern. Da­für braucht es ei­ne Ver­fas­sungs­än­de­rung. Es wird be­haup­tet, dass ei­ne sol­che die Un­ter­stüt­zung der Kurd:in­nen be­nö­tigt und dass Er­doğan und Bah­çe­li des­halb die In­itia­ti­ve er­grif­fen ha­ben, um die Un­ter­stüt­zung der DEM-Par­tei zu ge­win­nen.

Die grössten kurdischen Gebiete in den vier Ländern Türkei, Syrien, Irak und Iran.

Wenn man das Ti­ming des «Frie­dens­pro­zes­ses» von 2013 und die da­ma­li­gen re­gio­na­len Be­din­gun­gen be­trach­tet, wird ver­ständ­li­cher, war­um der neue Pro­zess ge­ra­de jetzt be­gon­nen wur­de. Der An­griff der Ha­mas auf Is­ra­el am 7. Ok­to­ber, Ne­tan­ja­hus Er­klä­rung «Die Gren­zen wer­den sich än­dern», die po­si­ti­ven Si­gna­le Is­ra­els an die Kurd:in­nen und die Ent­wick­lun­gen in Sy­ri­en zei­gen, dass die Re­gi­on in ei­ne kri­ti­sche Pha­se ein­ge­tre­ten ist.

Da­her ent­springt die­ser neue Pro­zess, den der tür­ki­sche Staat mit Öcalan be­gon­nen hat, und nicht et­wa ei­ner neu ent­deck­ten Nä­he zu den Kurd:in­nen. Es ist viel­mehr die Be­sorg­nis über ei­ne mög­li­che kur­di­sche Staats­bil­dung. 

Fa­zit: Ei­ne neue Ge­schich­te, ge­schrie­ben mit Ver­nunft

Wird die Tür­kei mit die­sem Schritt ei­ne sol­che Ent­wick­lung ver­hin­dern kön­nen? Die Zeit und die zu­künf­ti­ge Per­spek­ti­ve der Kurd:in­nen wer­den es zei­gen. Die wich­ti­ge­re Fra­ge ist je­doch, was das end­gül­ti­ge Ziel der Kurd:in­nen ist – ein un­ab­hän­gi­ges Kur­di­stan oder gleich­be­rech­tig­te Staats­bür­ger­schaft in den Län­dern, de­nen sie an­ge­hö­ren?

Im Zen­trum die­ses Pro­zes­ses steht für bei­de Sei­ten das au­to­no­me Pro­jekt Ro­ja­va: Für die Tür­kei muss es zer­stört wer­den, für die Kurd:in­nen hin­ge­gen muss es be­wahrt blei­ben. Er­folg oder Miss­erfolg des neu an­ge­stos­se­nen Pro­zes­ses wird von der Hal­tung und Po­si­ti­on der Kurd:in­nen in Ro­ja­va ab­hän­gen.

In je­dem Fall steht dem kur­di­schen Volk ei­ne schwie­ri­ge und un­ge­wis­se Zeit be­vor. Doch die­ses Mal muss die Ge­schich­te nicht mit Blut, son­dern mit Ver­stand ge­schrie­ben wer­den.

Ronî Ri­ha, 1982, ist kur­di­scher Jour­na­list und schreibt vor al­lem über die kur­di­sche Fra­ge. Er lebt seit 2016 in der Schweiz. 2014 war er in Ro­ja­va und er­leb­te den An­griff des IS auf Ko­banê.