Eigentlich hätte man den Weg der Vielfalt gern mit 90 Einträgen begonnen – passend zur Postleitzahl von St.Gallen. Jetzt ist die Website mit 86 Einträgen online gegangen. Das macht aber nichts: Die vier fehlenden Einträge wird es mit Sicherheit bald geben, und weitere werden folgen.
Der «Weg der Vielfalt» bietet Zugänge zu Themen der St.Galler Stadtgeschichte, die wichtig und gegenwartsrelevant sind, aber zu wenig präsent. Im Kern steht die gesellschaftliche Vielfalt in der Stadt St.Gallen. Wie ging die Mehrheitsgesellschaft mit ihren Minderheiten um, die es zu allen Zeiten gab? Welche Spuren existieren dazu noch? Welche Geschichten sollten weitererzählt werden?
Der «Weg der Vielfalt» macht ganz verschiedene Orte öffentlich sichtbar. Sie erzählen von Gerechtigkeit, Engagement und Menschenrechten, aber auch von Rassismus, Ausgrenzung und Kolonialismus, schreibt die Stadt St.Gallen. «Manche dieser Orte stehen für mutiges Eintreten für Mitmenschen, stehen für Widerstand, Solidarität und Gemeinsinn – andere erinnern an dunkle Kapitel der Stadtgeschichte.»
Projekt kommt zur rechten Zeit
Den Anfang macht die Ermordung etlicher Juden und Jüdinnen 1349 während der grossen Pest, das jüngste Ereignis ist der Tod zweier tamilischer Buben aus St.Gallen 1987. Eine interaktive Karte macht all diese Orte zugänglich. Dazu kommen jeweils ein prägnanter, gut lesbarer Text sowie zusätzliche Informationen, Fotos etwa, Dokumente oder Links.
Stadtpräsidentin Maria Pappa freute sich an der gestrigen Medienorientierung über diese Ausweitung des Blicks auf die St.Galler Geschichte und erwähnte, dass bereits verschiedene andere Städte mehr über diesen «Weg der Vielfalt» hätten wissen wollen. Wichtig sei auch die Vielfalt der Menschen, die an der Ausarbeitung dieses Projekts beteiligt war: eine siebenköpfige Fachgruppe aus verschiedenen Fachbereichen, dazu die interessierte Bevölkerung.
SP-Stadtparlamentarier Gallus Hufenus lobte, dass sich St.Gallen mit dem «Weg der Vielfalt» vor dem Unrecht in der eigenen Geschichte nicht verstecke: «Wir wollen lernen und weiterkommen, Weichen für die Zukunft stellen.» Für die eigene Geschichte sei man nicht verantwortlich, für die eigene Gegenwart hingegen schon. Und GLP-Stadtparlamentarier Philipp Schönbächler meinte, dass St.Gallen mit diesem «Weg der Vielfalt» gerade jetzt ein wichtiges Zeichen setze, wo Minderheiten durch den rechtskonservativen, autoritären Zeitgeist unter Druck gerieten – rund um den Globus. Stichwort «Trump», Stichwort «Milei».
Jetzt braucht es Vermittlungsarbeit
Zurzeit gliedern sich die Einträge in acht Themen: Frauen/Sexismus, Queer/Homophobie, Kolonialismus/Rassismus, Jüdisch/Antisemitismus, Arbeit/Soziales/Armut, Migration/Asyl/Flucht, Nazis/Fronten, Behinderung. Sie bieten eine Fülle von Geschichten und Biografien, viele könnte man sich auch als Roman- oder Filmstoff denken. Historisch sind die Themen unterschiedlich aufgearbeitet. Zur Frauengeschichte und zum jüdischen St.Gallen etwa gibt es viel Literatur, entsprechend reich sind die Einträge. Das Umgekehrte gilt insbesondere für die Themen «Queer» und «Behinderung».
Ein wichtiger Pluspunkt des Projekts ist seine digitale Form. Wer Fragen oder Anregungen hat, kann sie leicht übermitteln, und weitere Einträge und Materialien lassen sich leicht in den «Weg der Vielfalt» einbauen. Wichtig ist aber auch, dass diese interaktive Karte den Weg in eine möglichst breite Öffentlichkeit findet – von Schulen in und ausserhalb St.Gallens bis zu Tourist:innen, von der Politik bis zu den Medien. Erst dann macht das Projekt wirklich Sinn.
Zu diesem Zweck muss es nun über verschiedenste Kanäle kommuniziert werden. Dazu kommt der Einbezug von Fachleuten, insbesondere Historiker:innen. Man muss versuchen, sie ins Boot zu holen: Alle Themen bieten Ansatzpunkte für weitere, vertiefte Forschungen, deren Resultate dann wieder in den «Weg der Vielfalt» einfliessen können.
Seit 2020 ein Thema
Ein Zufallsprodukt ist dieses Projekt nicht. Die Thematik liegt schon lange in der Luft. Der konkrete Anstoss dazu kam 2020, im Sommer von «Black Lives Matter», mit einem entsprechenden Postulat im St.Galler Stadtparlament, eingereicht von Gallus Hufenus und Doris Königer (SP), Nadine Niederhauser und Philipp Schönbächler (GLP), Jeyakumar Thurairajah und Clemens Müller (Grüne). 2022 folgte die Interpellation «Umgang mit der kolonialen Vergangenheit der Stadt St.Gallen», eingereicht von Alexandra Akeret (SP), Jeyakumar Thurairajah (Grüne), Miriam Rizvi (Juso) und Christian Huber (Grüne). Dazu kam Peter Olibet (SP) mit der Interpellation «Mumie Schepenese in der Stiftsbibliothek St. Gallen», ebenfalls 2022.
In der siebenköpfigen Fachgruppe «Weg der Vielfalt» sitzen: Katharina Morawek, Inklusions- und Diversitätsberaterin beim Institut neue Schweiz (INES); Rita Kesselring, HSG-Professorin für Urban Studies; Judith Grosse, Leiterin des Archivs für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte; Nicole Stadelmann, Co-Leiterin des Archivs der Ortsbürgergemeinde; Hans Fässler, Historiker und Stadtführer; Matthias Fischer, Leiter der städtischen Denkmalpflege, und Peter Tobler, städtische Dienststelle für Gesellschaftsfragen. Samuel Zuberbühler, Leiter der städtischen Standortförderung, koordiniert das Projekt.