Wie lange haben wir Zeit?
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Sie sei fasziniert vom Kontrast zwischen Kontrolle und Verlust, sagt Bigna (Valentina di Pace) einmal. Dieser Satz trifft auf mehreren Ebenen auf die Hauptfigur in Jan Gassmans neuem Film 99 Moons zu. Bigna ist Forscherin in Zürich. Sie will ein Frühwarnsystem für Tsunamis entwickeln, indem sie das hochsensible Verhalten von Ziegen trackt. Es ist der Versuch, die Naturkatastrophe, die unweigerlich eintreten wird, wenigstens ein bisschen zu kontrollieren.
Die Kontrolle hat Bigna auch in ihrem Sexleben, ihr Kink sind anonyme Rollenspiele. Die Nacht verbringt sie lieber im Büro unter ihren Servern pennend als im Bett eines Liebhabers. Stets hält sie sich an die Regel: einmal und nie wieder. Bis sie Frank (Dominik Fellmann) trifft. «Frankie» ist anders als Bigna, lässt sich in seiner urbanen Hipsterbubble treiben, auch wenn er manchmal «genug hat von den Leuten» und verliert gar nicht ungern die Kontrolle, was schon nach den ersten paar Szenen im Film klar wird.
Es dauert nicht lang und schon sind die beiden ineinander verhakt. Die Affäre wird immer hitziger, doch Bigna steht kurz davor, eine neue Stelle in Chile anzutreten. Vor ihrem Abflug gestehen sich die beiden schliesslich ihre Liebe und Bigna bleibt. «Warum eigentlich? Für dich oder für mich?», will Frank einmal wissen, als sie im Wald eine Hütte besuchen. «Für uns beide. Damit wir Zeit haben», antwortet sie. «Und wie lange?» – «Für immer.»
Diese Katastrophe lässt sich nicht kontrollieren
Plötzlich ist der Päärchengroove real, aber auch die Angst davor, konventionell zu enden, mit Haus und Hund. Bigna und Frank verbringen ekstatische Nächte im Club und in der Badewanne, bemerken die Risse in ihrem Kitt aber erst, als es zu spät ist, als sie sich schon längst gegenseitig verletzt haben. Eines Morgens reicht es Bigna und sie reist überstürzt doch noch nach Chile. Als sie 16 «Moons» später wieder zurückkommt, hat sie ihren Kollegen Georg (Danny Exnar) geheiratet.
Damit hat die «Amour Fou» zwischen ihr und Frank aber noch lange kein Ende. Diese Katastrophe kann Bigna nicht kontrollieren. Wie prophetisch ihr «Für immer» damals im Wald war und wie schmerzlich dieses «Für immer» für beide noch enden wird, erzählt Regisseur Gassmann in den folgenden Kapiteln. Beide versuchen immer wieder neu anzufangen, aber sie kommen nicht voneinander los, nicht von der Körperlichkeit und der Geilheit, aber auch nicht von der Vorstellung, was sie zusammen sein könnten.
99 Moons, Premiere in Anwesenheit des Regisseurs:
11. Januar, 20 Uhr, Kinok St.Gallen
In manchen Momenten ist das ein regelrechtes Horrorszenario. Man weiss, dass Bigna und Frank nicht durch diese Tür gehen sollten, doch sie tun es trotzdem. Ein paar «Moons» später dominieren wieder die Glücksmomente. Es sind beneidenswert intime und intensive Szenen. Und dann gibt es solche, in denen man die beiden einfach nur bedauert. Was wäre, wenn das Timing anders gewesen wäre? Wenn die Lebensentwürfe besser harmoniert hätten? Wenn der Drang nach Kontrolle und die Angst vor dem Verlust ausgeglichener gewesen wären? Wenn sie etwas mehr Zeit gehabt hätten?
Die ganze Gefühlswucht in ein Gesicht gegossen
Ein solcher Film funktioniert nur über die Besetzung, und ohne die famose Chemie zwischen Valentina di Pace und Dominik Fellmann wäre 99 Moons nicht viel mehr als die etwas versexte Geschichte einer unglücklichen Liebe mit catchy Soundtrack (Musik: Michelle Gurevich) geworden. Eine grosse Leistung, wenn man bedenkt, dass die zwei Hauptprotagonist:innen bisher keinerlei Schauspielerfahrung hatten.
Di Pace und Fellmann tragen den Film. Ihre Inszenierung lebt von den versteckten Gesten, den stürmischen Blicken, den stillen Momenten, etwa jenem, als Bigna am Flughafen die Entscheidung trifft, nicht nach Chile zu fliegen: die ganze Gefühlswucht in ein Gesicht gegossen.
Gassmann stellt viele Beziehungsfragen. Auch nach Machtbeziehungen. Denn 99 Moons ist auch die Geschichte einer Frau, die sich nimmt, was sie braucht, nicht nur beim Sex. Er hingegen, bisher kuschlig in seiner Männerrolle, entdeckt erst durch sie seine Lust daran, dominiert zu werden. Und lernt, dass Sex mehr als nur Penetration ist. Gassmann sagt, er wolle auch Sehgewohnheiten durchbrechen. Das ist ihm geglückt. Zumindest, was jene des durchschnittlichen Filmpublikums anbelangt.