Wie ein Traum
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Wie schnell es manchmal gehen kann, wissen Velvet Two Stripes bestens. Etwas mehr als zehn Jahre ist es jetzt her, seit das St.Galler Frauentrio im Eiltempo die Schweizer Musikszene eroberte. Kaum hatten sie ihre ersten Konzerte gespielt, lag ihnen die Musikindustrie zu Füssen. Drei junge Frauen, die energiegeladenen, rohen Garage-Blues-Rock machten – das liess sich gut vermarkten.
Sie kamen bei einem angesehenen Indie-Label unter Vertrag, die Konzerte wurden immer mehr, erst in der Schweiz, dann im Ausland. Doch als 2014 endlich ihr Debüt VTS erschien, waren die Schwestern Sophie (Gesang/Gitarre) und Sara Diggelmann (Gitarre) sowie Franca Mock (Bass) den ganzen Anforderungen und Erwartungen des Business nicht ganz gewachsen – es war ein abruptes Erwachen. Sie legten eine Pause ein, zogen sich zurück, trennten sich von ihrer Plattenfirma und kümmerten sich fortan, bis auf das Booking, um alles selbst. Sie wollten das Tempo und die Route künftig selber bestimmen.
All das ist lange her. Die Krux mit dem Tempo, sie holte die Band aber wieder ein. Jetzt erscheint ihr neues Album No Spell For Moving Water. Und auch da ging es schnell – schneller, als den Velvets zu Beginn lieb war. Die Band hatte erst im Herbst 2021 ihren dritten Longplayer Sugar Honey Iced Tea veröffentlicht, als sie im Februar 2022 eine Anfrage des Produzenten Dominik Schmidt (Rola Music), der schon seit ein paar Jahren mit ihnen zusammenarbeiten wollte, erreichte. Er bot ihr an, im Spätsommer in seinem Studio in Portland eine Platte aufzunehmen.
«Wir dachten noch gar nicht über ein neues Album nach. Wir hatten eigentlich gerade erst angefangen, Sugar Honey Iced Tea zu bewerben, spielten fast jedes Wochenende Konzerte, kamen erstmals mit einer Platte in die Charts … kurzum: es lief super. Und dann hatten wir plötzlich diese Einladung auf dem Tisch», erzählt Sara Diggelmann. Die drei Musikerinnen mussten innert kürzester Zeit entscheiden, ob sie diese Chance, die vielleicht nicht so schnell wiederkommen würde, packen wollten oder nicht – und sagten zu.
Nur: Material für ein Album hatten Velvet Two Stripes nicht. Und keine Zeit, um neue Songs zu schreiben. Von zweien gab es erste Skizzen, aber nicht einmal Demos, die sie Schmidt vorgängig schicken konnten, bloss ein paar mit dem Handy aufgenommene Fragmente. «Durch die vielen Konzerte, die wir spielten, blieb kaum Zeit für anderes. Es ging so viel Energie dafür drauf, dass wir uns kaum darauf fokussieren konnten, an neuen Songs zu arbeiten», sagt Sara. Dazu kam der ganze Papierkram für die Einreise in die USA und die Bewilligungen.
«Erst als wir uns am Flughafen getroffen haben, kam die Freude hoch. Ab da konnten wir loslassen», sagt Franca. Und Velvet Two Stripes stiegen ohne konkretes Ziel ins Flugzeug: «Wir liessen völlig offen, was bei den Aufnahmesessions herauskommen würde – im schlimmsten Fall ein-zwei Songs, im besten Fall ein ganzes Album», sagt Sara.
Kaum angekommen, schon ausgeraubt
So freudvoll Velvet Two Stripes ins «Abenteuer Portland» starteten, so ärgerlich begann es. Als sie, nach ihrem einzigen day off, am zweiten Tag auf dem Weg ins Studio ihr Mietauto für wenige Minuten auf einem überwachten Parkplatz abstellten, um sich gleich um die Ecke in einem Laden mit dem Nötigsten für die nächsten Tage einzudecken, wurde es aufgebrochen – offenbar von Jugendlichen, die es für die «Kia-Challenge» auf TikTok, bei der man Autos der Marken Kia und Hyundai innert weniger Minuten kurzschliesst und sich bei waghalsigen Fahrten filmt, klauen wollten.
Das Auto war zwar noch da. Doch Pass, Handy, Laptop – bei jeder der drei Frauen war mindestens etwas davon weg, bei Franca auch die Bassideen für die neuen Songs, die sie auf dem Laptop hatte. Anstatt im Studio loslegen zu können, mussten sie erstmal ein Bürokratieberg überwinden. «Es war ein Riesenaufwand, ohne US-Adresse nur schon Notpässe und Prepaid-Karten für die Handys zu organisieren», sagt Franca. Das Erlebnis war für das Trio ein richtiger Downer. «Viele hätten in dieser Situation wohl alles hingeschmissen. Aber wir haben uns gegenseitig rausgezogen.»
Dazu trug auch die Arbeit im Studio bei. Drei Wochen lang gab es nichts anderes als die Musik. Die Tage waren lang und komplett durchgetaktet: Von halb neun Uhr morgens bis nach Mitternacht waren sie im Studio. Vormittags schrieben sie an neuen Songs und spielten die Entwürfe gleich ein, nachmittags arbeiteten sie an den Ideen des Vortags, nahmen Overdubs auf und finalisierten Track für Track. Dadurch übertrug sich auch die Energie von einem Song auf den nächsten. «Und durch die Zeitverschiebung waren wir noch mehr in einer Bubble als ohnehin schon, wenn wir im Studio sind», sagt Franca. «Es war wie ein Traum.»
Velvet Two Stripes – No Spell For Moving Water: auf Vinyl, CD sowie digital auf allen gängigen Plattformen
Live:
20. Oktober, Bogen F Zürich
28. Oktober, Grabenhalle St. Gallen
velvettwostripes.com
Auch ihre Arbeitsweise mussten Sara, Franca und Sophie ändern. Normalerweise nehmen sie sich Zeit, um an einzelnen Teilen der Songs zu arbeiten, ohne überhaupt zu wissen, ob das am Ende der Refrain oder die Strophe oder etwas anderes sein würde. Diesmal lag das nicht drin. Sie mussten spontan entscheiden, wie sie das jeweilige Stück aufbauen wollten. Dass es selbst dann, als die Zeit immer weniger wurde, niemals stressig wurde, war vor allem Schmidt zu verdanken. «Auch wenn eine von uns mal nicht weiterkam, ermunterte er uns, eine Idee einfach mal auszuprobieren und sie aufzunehmen. Er vermittelte uns das Gefühl, dass wir ewig Zeit hätten», erzählt Franca. Aber auch Schlagzeuger Joey Harmon, ein Musiker aus Portland, den sie vorher nicht kannten, trug mit seiner Art zum guten Gefühl bei.
In diesem Flow hatte auch Sophie keine Mühe damit, die Texte praktisch aus dem Stand heraus zu schreiben. «Mir fällt es mit jedem Album leichter, einfach drauflos zu schreiben. Als ich vor 15 Jahren damit angefangen hatte, war ich noch sehr verkopft und überlegte mir viel zu oft, was andere lässig finden könnten. Davon habe ich mich gelöst.»
Die drei Wochen verstrichen, Song um Song wurde fertig. «Wir haben bis zum letzten Moment daran gearbeitet. Die letzten Vocals habe ich am letzten Tag kurz vor Mitternacht eingesungen», erzählt die Sängerin. In der Nacht räumten sie das Studio auf und flogen am nächsten Morgen zurück in die Schweiz. Mit einem ganzen Album im Gepäck.
Wie aus einem Guss
Jede Velvet-Two-Stripes-Platte erzählt ihre eigene Geschichte. Es ist deshalb schwierig, sie miteinander zu vergleichen. Dennoch: No Spell For Moving Water ist vermutlich die beste, bestimmt aber die reifste Platte, die die Band bisher veröffentlicht hat. Es klingt so, wie es aufgenommen wurde: wie aus einem Guss, kompakt, in sich geschlossen. Und nebst der gewohnt rotzigen, direkten Attitüde hält es auch die eine oder andere Überraschung bereit, etwa den 80er-Einschlag beim Klang der Gitarren in Idaho und dem gleich folgenden Street Lights.
Der Opener Fuckboy, eine wütende Abrechnung nach einer toxischen Beziehung, kracht druckvoll aus den Boxen, ehe nach zwei Minuten plötzlich ein Break kommt, eine kurze Pause, ehe das Stück nochmal Fahrt aufnimmt. Und das Schlussstück Summer Of Love ist schlicht wunderbarer Pop, mit einer herzergreifenden Gitarrenfigur. In all diesen Momenten wird das Selbstverständnis dieser Band für die eigene Musik spürbar, ihre Souveränität hörbar.
Gemischt wurde die Platte vom renommierten Produzenten, Toningenieur und Mischer Vance Powell, der schon mit Grössen wie Jack White (und dessen Bands The White Stripes, The Raconteurs und The Dead Weather) oder Buddy Guy zusammengearbeitet und sechs Grammys gewonnen hat. Da die Band bereits zurück in der Schweiz war, bestand er darauf, beim Mischen über eine App live mit den Musikerinnen an den Songs zu arbeiten. «Es war für uns alles andere als selbstverständlich, dass sich jemand wie er so viel Mühe gibt für eine Band wie uns», sagt Franca. Man kann das durchaus als Anerkennung für die Musik interpretieren.
Velvet Two Stripes gehen unbeirrt ihren Weg. Und vor allem: Sie verbiegen sich nicht. Man hört No Spell For Moving Water an, dass hier eine Band am Werk ist, die sich nach inzwischen 15 Jahren blind versteht. Wie eingespielt sie sind, merkt man auch im Gespräch: Franca Mock, Sophie und Sara Diggelmann haben nicht nur eine gemeinsame musikalische Sprache, sondern beenden oft auch gegenseitig die Sätze.