Wie ein Big Mac

Tüchel sind wie ein Big Mac: Einfache Zutaten, viel (Geschmacks-)Verstärker, und ganz egal, wo man ihn isst – man weiss, was man bekommt: schnörkellosen, fadengeraden, ehrlichen Punkrock. Und auch wenn dieser Big Mac nicht mehr ganz frisch ist, schmeckt er kein bisschen abgestanden.
Auf die Bühne stehen, abdrücken und eine gute Zeit haben: Das ist gewissermassen Erfolgsrezept von Tüchel. Zwischenzeitlich waren zwar alle drei Zutaten weg. Doch die St.Galler Ur-Punkrocker haben vielen Widrigkeiten getrotzt und sich nicht unterkriegen lassen. Da ist eine Band, die kompromisslos ihr Ding durchzieht, die nicht mit der Zeit geht, nicht mit der Zeit gehen muss, weil sie nach eigenen Regeln tickt und irgendwie zeitlos ist. Trotzdem feiern Tüchel nun ihr 30-Jahr-Jubiläum.
Als Coverband begonnen
Tüchel entstehen 1993 aus zwei anderen Bands der St.Galler Musikszene: Roy Fankhauser (Bass) und Sascha Vujcin (Schlagzeug), der inzwischen seit vielen Jahren im Grabenhalle-Büro arbeitet, spielen zusammen in der Band Smiling Faces, die sich später in Konradz umbenennt. Peter «Hüe» Huesmann und Martin «Smär» Eichenberger (beide Gitarre) sind bei X-cess, unter anderem mit einem gewissen Daniel «Midi» Mittag, den meisten besser bekannt als Jack Stoiker. An der Magnihalden 1, in Vujcins damaliger Wohnung, gründen sie mit Marcel Linder als Sänger Tüchel – als Coverband und «aus einer Bierlaune heraus», wie Hüe sagt.
Allzu ernst geht es auch in der Anfangszeit nicht zu und her: «Damals war es eigentlich egal, wer gerade dabei ist und wer welches Instrument spielt. Wir haben sie nach Lust und Laune getauscht. Das war der Qualität nicht unbedingt förderlich, aber lustig, zumindest für uns. Für das Publikum vermutlich weniger», erzählt Roy. Geprobt wird meistens erst nach dem Ausgang: Die Musiker treffen sich freitags im Alt St.Gallen und ziehen dann zu später Stunde mit Freund:innen im Schlepptau in den Bandraum an der Davidstrasse. «Die Proben waren eigentlich kleine Konzerte.»
Ein munteres Kommen und Gehen
Schon bald entstehen eigene Songs. 1994 erscheint das erste Tape Control Thy Tüchel, 1995 das zweite, Clean It Up. Die anderen Bands bestehen vorerst weiter, an einigen frühen Konzerten treten sogar alle drei nacheinander auf, nach und nach lösten sie sich aber auf. Smiling Faces verewigen sich 1994 noch mit dem Mitschnitt eines Konzerts in der Grabenhalle auf LP, benennen sich in Konradz um und veröffentlichen 1995 die Vinyl-Single Bis auf die Knochen. Danach fällt die Band auseinander, eine bereits aufgenommene Platte erblickt nie das Licht der Welt. Und X-cess spielen, nachdem Midi wegen des Studiums nach Fribourg gezogen ist, mit Hüe an Gesang und Gitarre noch einige Konzerte, segnen dann aber auch das Zeitliche. So nimmt Tüchel richtig Fahrt auf.
In den Anfangsjahren herrscht allerdings ein munteres Kommen und Gehen. Mit dem neuen Sänger Alex Huldi (heute Q-7 Three Times) und Gennaro «Aldo» Talamo, der Smär an der Gitarre abgelöst hat, nehmen Tüchel 1995 die Single Eat Shit auf. Ein Jahr später stösst der heutige Leadgitarrist Michael Wagner anstelle von Aldo zur Band, mit dem das Tape Kill The Clown veröffentlicht wird. 1998 erscheint das erste richtige Album, Rape Thy Nation. Die Band hat sich zu jenem Zeitpunkt über die lokale Szene hinaus einen Namen gemacht und absolviert auch eine erste Tournee durch Deutschland, Tschechien, Polen und das Baltikum. Auch nach dem Ende des Ostblocks gibt es schräge Szenen: Im lettischen Valmiera stehen während des Konzerts Soldaten mit Maschinenpistolen neben der Bühne.
Vor der Zerreissprobe
Das folgende Jahrzehnt stellt Tüchel mehrmals vor die Zerreissprobe. Im Frühling 2001, kurz nachdem das nächste Album Drive eingespielt ist, gibt es den ersten richtigen Nackenschlag: Huldi verlässt die Gruppe – und nimmt ihr wörtlich den Drive. Vorübergehend hilft Patrick Weber aus, der schon Sänger von Smiling Faces bzw. Konradz war, und ermöglicht Tüchel so immerhin, Konzerte zu spielen. Als die Platte ein Jahr später endlich erscheint, steht die Gruppe jedoch immer noch (beziehungsweise wieder) ohne richtigen Sänger da. 2003 stösst schliesslich Matthias «Doppelmeter» Howald, der der Band seit einem Antifa-Konzert 1995 im Waaghaus freundschaftlich verbunden und bei ihren Auftritten regelmässig vor der Bühne anzutreffen ist, als neuer Sänger hinzu.
Vorübergehend den Stecker gezogen
Kaum haben sich Tüchel vom ersten Nackenschlag erholt, folgt der nächste, der ihnen diesmal – zumindest nach aussen hin – beinahe das Genick bricht: 2005 steigt Sascha Vujcin nach zwölf Jahren aus. Danach wird es still um Tüchel. Bis auf ein Konzert 2006, an dem Hüe am Schlagzeug sitzt, verschwinden sie über Jahre von der Bildfläche. Dabei sind Tüchel bis heute eine Band, die davon lebt, live zu spielen, deren Treibstoff seit jeher der Schweiss des Publikums ist.
Die verbliebenen Mitglieder treffen sich während all dieser Zeit weiterhin ein- bis zweimal pro Woche im Proberaum, um gemeinsam zu spielen oder einfach eine gute Zeit zu haben. Sie probieren auch ein gutes Dutzend Schlagzeuger aus. «Allein diese Castings mit dem Vorspielen im Bandraum oder den ‹Bewerbungsgesprächen› im Schwarzen Engel hätten eine Dokumentation gegeben, die sich gewaschen hätte», sagt Roy mit einem Lachen.
Die meisten hätten gnadenlos unterschätzt, was es bedeute, bei Tüchel zu spielen, ergänzt Hüe. «Sie dachten, in einer Punkband zu trommeln, sei kein Problem. Aber wenn man uns kennt und hört, weiss man, dass man doch ein gewisses Niveau haben muss.» Es seien aber auch «Jazzer und Super-Profis» aufgetaucht «und ein paar ganz schräge Vögel» – keiner passt, weder musikalisch noch menschlich.
Eine Schicksalsgemeinschaft
Erst 2008 finden Tüchel in Sonal Schönfeld einen neuen Drummer. Doch kaum haben sie mit ihm die EP Mala Vida eingespielt, kehrt er der Gruppe Ende 2010 den Rücken. Diesmal dauert die Vakanz nicht so lange: Mit Marin Dora, der damals mit 20 Jahren gerade mal halb so alt ist wie der Rest der Band, finden Tüchel zu der Besetzung, in der sie auch heute, zwölf Jahre später, noch aktiv sind.
Trotz des Frusts gerade während der drummerlosen Zeit sei eine Bandauflösung nie zur Diskussion gestanden, ja nicht einmal angesprochen worden, sagt Hüe. «Es ging immer weiter, weil es sonst fertig gewesen wäre. Nicht nur mit Tüchel, sondern für jeden von uns vielleicht ganz mit dem Musikmachen. Wir waren die einzigen in unserem Alter, die aktiv in einer Band und diese Art von Musik spielten. Im Raum St.Gallen gab es praktisch keine anderen Bands, denen wir uns hätten anschliessen können.»
Vielleicht liegt hier der Kern dieser Band: Tüchel sind gewissermassen eine Schicksalsgemeinschaft. Und wer dabei sein will, muss sich zur Gruppe bekennen. Das heisst: Die wöchentliche Bandprobe – aufgrund von Arbeit, Familie etc. ist es mittlerweile «nur» noch eine – ist eigentlich Pflicht. «Wenn jedes Mal einer fehlen würde, würde es auseinanderbrechen», sagt Doppelmeter. Jeder habe auch mal etwas Besseres zu tun, «und manchmal hat man wirklich keine Lust, sich ‹mit dene nüntige Sieche› in den feuchten Proberaum zu verziehen, wenn man grad irgendwo mit Freunden am Grillieren ist. Nur um Songs zu proben, die wir eigentlich schon können. Aber das ist eben trotzdem wichtig.»
«Man sagte uns, wir hätten Eier, die Regenbogenfahne hochzuhalten»
Weil es bei Tüchel um mehr als nur um Musik geht. Es geht um Zusammenhalt. Und es geht um Botschaften, sei es in den oft sozialkritischen oder aus dem Leben gegriffenen Texten oder allein durch das Hochhalten einer Regenbogenfahne an Konzerten.
Gerade kürzlich absolvierten sie eine Mini-Tour durch Deutschland und Polen. Während sich in Rochlitz in Sachsen die Veranstalter:innen für die Regenbogenfahne-Geste bedankten, weil sie ihnen Kraft gebe für ihren täglichen Kampf gegen Faschismus und Diskriminierung, kam sie in Polen nicht nur gut an. «Nach dem Konzert sagte man uns, wir hätten Eier, das zu tun. Einige meinten sogar, wir sollen das doch lassen», erzählt Doppelmeter.
Wie in früheren Jahren an Konzerten in der Schweiz, als Punkkonzerte nicht vorwiegend von der linken Szene besucht waren, sondern regelmässig auch Neonazis anzogen. Was für Tüchel mehr als einmal bedeutete: Nach dem Konzert zusammenpacken und abhauen, bevor es ernst wird.
Grosses Jubiläumskonzert am Kulturfestival St.Gallen
Zum grossen Jubiläumskonzert am Kulturfestival richten Tüchel mit der grossen Kelle an. Allzu viel wollen sie noch nicht verraten. Es soll aber Songs zu hören geben, die fast so alt sind wie die Band selbst und die sie seit über 20 Jahren nicht mehr vor Publikum gespielt haben. «Manche habe ich noch nie live gesungen», sagt Doppelmeter.
Und irgendwann soll es auch wieder neue Musik geben. Die letzte Platte More And More – nach der EP Mala Vida (2012) und der Vinyl-Single Better Day (2014) die erste seit Drive – ist inzwischen auch schon fünf Jahre alt. Ein paar neue Songs seien mehr oder weniger fertig, sagt Hüe. «Wir mussten uns entscheiden: Entweder wir machen ein geiles Live-Jubiläumsjahr und spielen so viele Konzerte wie möglich – das tun wir ohnehin am liebsten. Oder wir nehmen ein neues Album auf. Ob dieses im Jubiläumsjahr erscheint oder nicht, ist für uns aber zweitrangig.»
Das Wichtigste ist ohnehin, dass das Feuer auch nach 30 Jahren noch nicht erloschen ist. 30 Jahre, in denen die Band keinen Franken mit ihrer Musik verdient hat, in denen sie oft nur für Bier und Benzin aufgetreten ist. Doch wie sagt es Hüe: «Nach 30 Jahren immer noch da zu sein und vor allem Spass daran zu haben, ist eigentlich der grösste Erfolg.»
«Cheers To 30 Years» – das Jubiläumskonzert:
8. Juli, 20 Uhr, Kulturfestival St.Gallen
Support: Cello Inferno