Wie ein Baum im Bergwald
In diesen Corona-Zeiten das geistig-seelische Immunsystem kräftigen? Für mich heisst das vor allem: eine Haltung einnehmen und immer wieder an ihr arbeiten, mit meinem Denken, Fühlen, Reden, Schreiben, mit meinem Tun im Alltag, in meinen Begegnungen und Beziehungen.
Es geht darum, einigermassen fest und gerade zu stehen, aber auch lebendig zu bleiben, im «Netz alles Lebendigen» – wie ein Baum im Bergwald. Die stoischen Philosophen der Antike redeten von «epimeleia» oder «askesis» (Übung, Training) und sahen in der lebenspraktischen Bewährung im Alltag den eigentlichen Beleg für ein philosophisches Leben.
Wie schaffe ich es einigermassen unbeschadet durch diese Monate der globalen Pandemie? Was sind meine Pflichten gegenüber meinem Umfeld und mir selber? Und woran soll ich mich halten bei der praktischen, sachlichen Einschätzung der ganzen Krise?
Nach vier Wochen Lockdown notierte ich mir, inspiriert von den «Delphischen Sprüchen», den berühmten Merksätzen aus dem antiken Heiligtum von Delphi, ein paar knappe Sätze: «Gib den Dingen Zeit… Überblicke Deine Spielräume… Gutes gibts immer… Du kannst nicht alles kontrollieren… Vertraue Deinem inneren Kompass… Sei dankbar… Lass Dich nicht verrückt machen… Setze einfach Tag an Tag… Was weisst Du schon…».
Solche Notizen helfen mir, einen Umgang mit diesem Jahrhundert-Ereignis zu finden, diesem gigantischen, monströsen «stillen Sturm», der jeden von uns in seinen eigenen Ausnahmezustand schickt. Als Historiker und Journalist notierte ich mir in den letzten Monaten natürlich noch Anderes: Erlebnisse, Beobachtungen und Geschichten, Reflexionen und Einsichten. Sie helfen mir zum Beispiel, die eigene Situation zu relativieren und in grössere Zusammenhänge einzuordnen, in globale etwa oder in medizingeschichtliche. Vieles davon – ich muss es zugeben – ist auch schlicht spannend, ja aufregend.
Corona zeigt, wie wir als Individuen, Gesellschaften und Staaten funktionieren, welche Stärken und Schwachstellen wir haben, welche Prioritäten wir setzen, welche ungelösten Fragen und Probleme wir mit uns herumschleppen. Ich bin mir sicher: Nicht wenige spätere Historikerinnen und Journalisten werden uns dafür beneiden, dass wir das alles live miterleben konnten.
Zu den möglichen Folgen der Pandemie hingegen möchte ich mich nicht äussern – das wäre reine Spekulation. Ein Punkt nur: Gegenüber dem Gedanken, dass Corona die Menschen zu einem Umdenken bewegen kann, bin ich skeptisch. Viele – so fürchte ich – werden nach dem Abklingen der Pandemie in die alten Muster zurückfallen: Hyperaktivismus, Konsum und Mobilität, Hektik und Lärm, Egoismus, Gier, Bequemlichkeit, Gedankenlosigkeit.
Die antiken Stoiker meinten, viele Menschen in guten, ja besten Verhältnissen führen in Wahrheit ein Sklavenleben. Sie sind Sklaven ihrer Begierden und Ängste, ihrer persönlichen Probleme, ihrer Sachzwänge. Auf das Abklingen der Corona-Pandemie bezogen heisst das: Wenn man genau hinhört, hört man dann vielerorts wieder die unsichtbaren Sklavenketten klirren.
Peter Müller, 1964, ist Historiker und Journalist in St.Gallen.
Saiten hat sich zum Jahresschluss ein Heft zur Immunstärkung vorgenommen. Wir wollten Anregungen und Überlegungen aller Art zur politischen, gesellschaftlichen und individuellen Kräftigung des Immunsystems sammeln.
Zusammengekommen sind 24 Beiträge aus allen möglichen Richtungen, ein Adventskalender der resistenten Art: Kurzgeschichten, Selbsterfahrungen, Appelle, Wutausbrüche, Tiefgang und Smalltalk, Rezepte und Rezeptverweigerungen. 24 Stimmen, 24 Seiten, eine geballte Dosis Immunium® Akut, garantiert mit Risiken und Nebenwirkungen.