«Who cares?!»
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Über der Gallusstadt liegt dichter Nebel an diesem ersten Mai, noch bleiben die Strassen trocken. Am Marktplatz scheint alles in gewohnten samstäglichen Bahnen zu verlaufen. Menschen wuseln von einem Geschäft zum nächsten, tragen kiloschwere Shoppingtaschen durch die Gassen, während in den Restaurants und Kleiderläden all jene lohnarbeiten, denen das Privileg verwehrt bleibt, am Tag der Arbeit die hässlichen herrschenden Verhältnisse dieser Welt zu kritisieren.
Laute Menschen und verängstigte Banken
Auf dem Parkplatz vor der Grabenhalle dann ein Bild wie aus präcoronalen Zeiten: Leute halten Fahnen in die Höhe, von weitem schon ertönt die Internationale aus mobilen Boxen, Menschen grüssen sich, es wird geraucht, geschwatzt, Flugblätter und Zeitungen werden verteilt, kleine Kinder verkaufen rote 1. Mai-Kleber – quasi das lebenslange Paninibilder-Pendant für linke Menschen.
Umrahmt wird das alles von orange leuchtenden Polizist:innen, die umhertingeln, als schienen sie eine gewissen Nervosität nicht verstecken zu können. 20 Minuten vor Demobeginn füllt sich der Parkplatz immer mehr, als die Menschenmenge sich in Bewegung setzt, sind es etwa 400. Darunter sehr viele Junge. Kaum geht es los, setzt Regen ein.
Die Menschenmenge zieht über den Blumenbergplatz zur Poststrasse Richtung Bahnhof. Auf den Restaurantterrassen an den Wegrändern wird gestarrt, als hätte noch nie jemand eine Demonstration gesehen. «Leute lasst das Glotzen sein, reiht euch in die Demo ein», rufen manche den Zuschauer:innen im Vorbeigehen zu. Bis dahin also alles beim Alten. Die Menschen rufen laute Parolen, es wird geklatscht und gejubelt.
Über den Bahnhof gehts rauf zum Bleicheli und dann durch die Shoppingmeile zum Bärenplatz. Die CreditSuisse beim Multertor ist kaum wiederzuerkennen, alle Fenster sind hinter meterhohen Metallplatten versteckt und gesichert.
Es grenzt an ein kleines Wunder, dass keine Demonstrant:innen in die Bank rennen und von innen mindestens vier Molotowcocktails, drei Pflastersteine und ein paar Farbspritzer Richtung Fenster schmeissen, nur um den in St.Gallen bekanntlich seit Jahrzehnten üblichen Exzessen am 1. Mai Jahr gerecht zu werden.
Martina, eine von Millionen Held:innen
Beim Bärenplatz stockt die Menschenmenge, der Block der Jungsozialist:innen bleibt stehen und skandiert lautstark: «Ufe mit de Frauelöhn, abe mit de Boni!» Die Marktgasse ist trotz des garstigen Wetters gut gefüllt.
Zum diesjährigen Motto «Zeit für die soziale Wende» spricht als erste Rednerin Mattea Meyer, Co-Präsidentin der SP Schweiz und Nationalrätin. «Seit einem Jahr treffe ich Menschen, die sich mit ihren Problemen in dieser Pandemie allein gelassen fühlen», ruft Meyer ins Mikrofon.
Sie erzählt die Geschichte von Martina, einer Pflegefachfrau, deren Arbeit im Spital schon vor der Krise kaum zu stemmen war. Corona habe dieses Problem noch massiv verschlimmert. «Martina ist eine dieser Heldinnen, eine von hunderttausenden, von Millionen Held:innen, die in Spitälern, Kitas, auf dem Bau, in den Schulen und im Verkauf arbeiten und dafür sorgen, dass wir diese Pandemie überstehen», sagt Meyer.
Als Dank dafür sähen sie weder Lohnerhöhung noch Anerkennung, sondern beispielsweise während der Pandemie eine Aufhebung der Gesundheitsschutzbestimmungen für das Spitalpersonal. Und da sei die global wachsende Ungleichheit: Während es in der reichen Schweiz Menschen gebe, die für ein paar Packungen Teigwaren anstehen müssten, sei das Vermögen der zehn reichsten Männer dieser Welt allein im letzten Pandemiejahr um weitere 500 Milliarden gewachsen. Lautstarker Applaus füllt die Marktgasse, als Meyer vom Podest tritt.
Die Schweiz, der Olymp
«Die Einbürgerung in der Schweiz ist vergleichbar mit dem Eintritt in den Olymp. Nur jene, die ihn sich leisten können, jene, die die «Götter» im Olymp überzeugen können und die genug Geduld und Ausdauer mitbringen, denen wird Eintritt und der ach so begehrte rote Pass gewährt», sagt Era Shemsedini, Vertreterin der SP Migrant*innen.
Das Einbürgerungsverfahren sei komplett veraltet und jetzt sei die Zeit, das zu verändern. Wofür denn dieser rote Pass überhaupt stehe, fragt Shemsedini ins Publikum. «Bin ich nur Teil dieses Landes, wenn ich ein rotes Büchlein in meiner Schreibtischschublade liegen habe? Wir inländischen Ausländer:innen gehören genauso zu diesem Land wie alle anderen. Wir arbeiten hier, wir leben hier, wir gestalten dieses Land, aber politisch wird dieser Tatsache noch immer null Rechnung getragen.»
Die Menschenmenge applaudiert lange. «Ich bin nicht alleine», sagt Shemsedini. Eineinhalb Millionen Menschen in der Schweiz haben kein Stimmrecht, fast ein Viertel der gesamten Bevölkerung, deshalb «ist es ist höchste Zeit für das Stimmrecht für alle!»
Der Kapitalismus, das mörderische System
Auch Anna Miotto, Präsidentin der JUSO Kanton St.Gallen, findet deutliche Worte zur heutigen Zeit: «Solange wir im Kapitalismus leben, wird Profit immer mehr wert sein als Menschenleben! Zeit für die soziale Wende heisst darum auch Zeit für den Umsturz eines mörderischen Systems», sagt sie.
Die Pandemie sei nicht die einzige Krise, es brenne an allen Ecken und Enden. Einerseits schütte das Schweizer Parlament der Fluggesellschaft Swiss zwei Milliarden hinterher, gleichzeitig sei es nicht fähig, ein Gesetz auszuarbeiten, das der Ernsthaftigkeit der Klimakrise gerecht wird.
Miotto erwähnt den Tod von Menschen auf der Flucht vor der Festung Europa und spricht über das Pflegepersonal, welches statt angemessener Bezahlung nur Applaus erhält. Die Liste liesse sich lange fortführen. Nach Miottos Rede hallen «Anticapitalista»-Rufe durch die Gasse.
Der Frauen*streik, auch 2021 stabil
«Müend Sie scho wieder go?, fragt mich der Patient, als ich an diesem hektischen Nachmittag kurz in seinem Zimmer nach dem Rechten schaue. Ez bisch doch erst gad cho, sagt meine Omi, wenn ich mich nach einem Besuch bei ihr auf den Heimweg machen will. Mami, wieso hesch du nie Ziit?, eine Frage, die wohl jede Mutter schon einmal gehört hat.»
Das seien alles Sätze, welche Frauen, die Sorgearbeit leisteten, gut kennen würden, sagt Ronja Stahl, Vertreterin des Frauen*streiks St.Gallen, «denn die Zeit, um uns mit der nötigen Sorgfalt und Geduld um andere zu kümmern, die fehlt.»
So forderte der feministische Frauen*streik schon vor zwei Jahren laut und kämpferisch Lohn, Zeit und Respekt. «Geblieben sind Enttäuschung und Wut», sagt Stahl, «denn noch immer scheint es diese Dinge für Frauen einfach nicht zu geben.» Das habe sich auch wieder in der Pandemie offenbart, oftmals seien es die Frauen gewesen, welche die zusätzlichen Belastungen abfedern mussten, sei es durch erhöhte Kinderbetreuung und in der Pflege, in den Spitälern und in den Altersheimen.
«Wieder einmal haben Patriarchat und Kapitalismus gezeigt, wie beschissen und widerstandsfähig sie sind», ruft Stahl in die Menschenmenge, «und deshalb bleibt uns nur ein Mittel und das ist der Kampf. Der feministische Streik St.Gallen ruft alle Menschen auch dieses Jahr auf: Heraus zum Frauenstreik. Wir sehen uns auf der Strasse!»
Hinaus auf die Strassen
21. Mai: Strike for Future, St.Gallen
12. und 13. Juni: Feministische Aktionstage, St.Gallen
14. Juni, 18 Uhr Sternenmarsch
19 Uhr Kundgebung in der Marktgasse St.Gallen
Nationalrätin Barbara Gsyi, die die Reden moderiert, wird zum Schluss ganz konkret, denn die kommenden Abstimmungen stellen gerade im Kanton St.Gallen gesundheitspolitische Weichen, die die Gesundheitsversorgung massiv zu verschlechtern drohen. «Bitte stimmt alle gegen den Nachtrag über die Erneuerung und Erweiterung des Spitals Wattwil, welcher zur Schliessung dieses Spitals führen würde», sagt Gysi.
Der Regen in der Marktgasse hat die Demonstrant:innen mittlerweile völlig durchnässt, die meisten bleiben trotzdem und hören dem wohl ersten Konzert dieses Jahres zu: Der Liedermacher Simon Hotz singt für das Publikum zum Abschluss des Tags der Arbeit inspirierende Lieder.