, 19. Juni 2023
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«Wer die Welt beklagt, sollte sich an die Arbeit machen»

Am Freitag feierte «Der eingebildete Kranke» in Konstanz Premiere. Die Komödie lehrt uns: Jammern ist auch keine Lösung und bringt höchstens denjenigen etwas, die aus dem Leid anderer Gewinn schlagen. von Franziska Spanner

Maëlle Giovanetti als Toinette und Jasper Diedrichsen als Monsieur Argan. (Bilder: Ilja Mess, Theater Konstanz)

Eigentlich hat Monsieur Argan ein gutes Leben, möchte man meinen. Er ist wohlhabend, hat Frau und Tochter, eine Bedienstete und muss sich um nichts kümmern. Aber genau da liegt der Hund begraben. Argan ist zutiefst besorgt um sein gesundheitliches Wohlergehen. All die erdenklichen grossen und kleinen Krankheiten, an denen er zu leiden glaubt, bekämpft er mit allen – mit ALLEN – möglichen Mitteln.

Nun ist die Vorstellung, einem Hypochonder beim Jammern über Probleme in seinem Verdauungstrakt zuzuhören, nicht gerade eine schöne und dennoch ist Christina Rasts openair Inszenierung von Molières Der eingebildet Kranke auf dem Konstanzer Münsterplatz eine wahre Wonne!

Des einen Leid, des anderen Freud

Jaja, eigentlich geht das Sprichwort andersherum, aber in Argans Fall ist es wirklich so. Dem bleichgesichtigen Mann, hervorragend gelitten von Jasper Diedrichsen, stehen sprichwörtlich die Haare zu Berge. Klein und hilflos wirkt er in seinem überdimensionierten Bett aus gefühlt zwanzig Kissen und Decken und seinem riesigen lila Bademantel. Oh, und da grummelts schon wieder im Magen – oder ists im Darm?

Zum Glück hat er einen Arzt, der ihm alle Behandlungen angedeihen lässt, die er wünscht. Vielleicht auch noch ein paar mehr… Der Arzt Diafoirus ist ein Quacksalber wie er im Buche steht. Thomas Fritz Jung verleiht ihm mit dem selbstgefälligen Lachen und einem widerlich-genussvollen Schniefen, dem ein kräftiger Wisch mit der Hand unter der Nase folgt, einen Charme, der jedem halbwegs vernünftigen Menschen von einer Behandlung abraten würde. Doch sein selbstbewusstes Auftreten, seine Seniorität und eine Prise Experten-Latein ermöglichen es ihm, sich den wohlhabenden Patienten vollends zu unterwerfen. Gut für die Kasse des Arztes, schlecht für Argans (diagnostizierten) Gesundheitszustand.

Quacksalber Thomas Fritz Jung (links)

Christina Rast stellt Diafoirus mit dem Quacksalber-Chor noch eine kleines Ärzt:innen-Team zur Seite. Mit motivierten Beats und launigen Texten von Doris Happl und Patrik Zeller verbreitet sie «Angst! Vor den Pocken, Warzen, Herpes, Streptokokken», um sogleich das nötige «wahre Mittelchen», die «Pulver, Tropfen, Kügelchen» anzupreisen – dafür oder dagegen, suchen Sie es sich aus!

(Mit-)Leid

Während die übergrosse Mater Dolorosa auf der Bühne als Sinnbild des Schmerzes über allem thront, bildet Argans auf Stelzen stehende Bettstatt den Mittelpunkt seines Universums (Bühne: Franziska Rast), um den seine Familie, Ärzte und die Bedienstete Toinette kreisen. Argan braucht Aufmerksamkeit und die erzwingt er mit Wehklagen, Drama und Herzeleid.

Jasper Diedrichsen geht voll auf in seiner Rolle. Er verzieht das Gesicht, als hätte er in fünf Zitronen gleichzeitig gebissen, bei einer neuen Schockdiagnose stösst er spitze Schreie aus und wenn mal wieder keiner auf ihn hört, springt er herum wie Rumpelstilzchen. Dabei verkörpert er Argans Leid in einem Variantenreichtum, dass dem Publikum kein Zimperlein entgeht. Schwer vorstellbar, dass diese Attitüde nach stundenlangen Proben nicht auf die Stimmung des Darstellers drückt. Bleibt nur zu hoffen, dass ihn der tosende Schlussapplaus, den er sichtlich genoss, vor langfristigen Nebenwirkungen bewahrt.

Maëlle Giovanetti in Höchstform

Cléante (Miguel Jachmann), der Geliebte von Argans Tochter, weiss bereits wie er bei dem Hypochonder Eindruck schinden kann. «Mein Mitgefühl ist Ihnen sicher!», beteuert er. Toinette (Maëlle Giovanetti), das kettenrauchende Dienstmädchen, das kein Blatt vor den Mund nimmt, sieht das anders: «Er hat zu viel davon und sein Wohlstand bekommt ihm sehr schlecht.»

Bei ihr laufen die Fäden zusammen. Aufgrund ihres niedrigen Status von allen unterschätzt, geniert sich niemand, ihr sein wahres Gesicht zu zeigen, und so entgeht der resoluten Dame nichts. Maëlle Giovanetti stapft dabei trotzig, um keine provokante Bemerkung verlegen – «Laufen Sie schnell, sonst laufen Sie aus!» – in ihren fliederfarbenen Plateauschuhen staubwedelnd durch die Gegend.

In der zweiten Hälfte des Stücks läuft sie zur Hochform auf. Toinette schmiedet eine List, um Argans Tochter Angélique (Lea Reihl) doch noch zu ihrem Glück zu verhelfen und vor einer Ehe mit dem Sohn des Arztes zu bewahren. Die Lacher im Publikum sind Giovanetti mit ihrer hinreissend albernen Art sicher. Gekonnt setzt sie immer nochmal einen drauf!

Lea Reihl als Angélique und Miguel Jachmann als Cléante

Auch wenn das Stück deutlich zwischen grösseren und kleineren Rollen unterscheidet, sei ausdrücklich betont, dass das gesamte Ensemble eine tolle Leistung abgeliefert hat. Bemerkenswert ist etwa Ioachim-Willhelm Zarculeas Auftritt als Sohn des Arztes, der sich doch glatt bei den Proben eine Verletzung am Fuss zugezogen hat. Kurzerhand wurde die Rolle aufgeteilt: Zarculea übernimmt die Sprechrolle vom elektrischen Rollstuhl aus, während eine Schauspielkollegin die Aktionen der Figur ausführt. Ein gelungener Kniff, der den einfältigen, Vater-hörigen Arztsohn noch etwas unbeholfener erscheinen lässt.

Eine Hommage an Frankreich, alte Zeiten und Neues

Ein weiteres Highlight sind die Kostüme von Sarah Borchardt, die als Hommage an Frankreich alte Zeiten und Neues verschmelzen. Als hätte Argans Zustand auf sie abgefärbt, tragen die Figuren zerzauste Rokoko-Frisuren. Auf weisse Gesichter werden schrille Farben um die Augen aufgetragen – einzig Argan bleibt kränklich blasslila.

Der eingebildete Kranke: bis 22. Juli, Münsterplatz Konstanz

theaterkonstanz.de

Die raffinierten Schnitte der Kostüme versprühen Retro-Charme und stehen für eine inzwischen überholte Welt, an die sich Argan verzweifelt zu klammern versucht. Kontrastiert wird die alte Eleganz mit hervorstechenden Accessoires wie grün-glitzernden Cowboy-Stiefeln oder einem übergrossen Dienstmädchen-Haarreif. Cléantes Shorts-Einteiler mit grosser blauer Blüte am Hals und einer seitlich an die Haare gesteckten Baskenmütze spielt mit französischen Klischees. Miguel Jachmann wirkt regelrecht jungenhaft in dem Kostüm und die romantisch weinrote Farbe unterstreicht seinen verspielt verliebten Auftritt. Zusammen mit Lea Reihl als Angélique performt er ein Liebesduett im Deutsch-Pop-Stil und rührt damit nicht nur Argan und die Herren Diafoirus.

Weltschmerz und Lebensfreude

Auch wenn an der Premiere am Freitag viel über ihn gelacht wird, so ist Christina Rasts Argan im Grunde eine traurige Figur. Die täglichen Nachrichten schlagen ihm auf den Magen («Man kann überhaupt nicht ausreichend Sicherheiten haben in Zeiten wie diesen»). Nach einer weltweiten Gesundheitskrise und in Zeiten des Kriegs in Europa sowie einer immer präsenteren Klimakatastrophe ist uns dieses Gefühl nicht ganz unbekannt.

Ebenso ist Argan empfänglich für das Phänomen, das neuerdings unter dem Begriff «Selbstoptimierung» subsumiert wird. Wenn Sie etwa ein Shampoo kaufen möchten, verrät Ihnen die Produktpalette, dass Sie entweder «brüchiges Haar», «fettendes Haar» oder «sprödes Haar» oder alles zusammen haben. Da ist es manchmal schon nicht ganz einfach, sich nicht von vermeintlichen Defiziten runterziehen zu lassen.

Doch Der eingebildet Kranke zeigt uns: Jammern ist auch keine Lösung und bringt höchstens denjenigen etwas, die aus dem Leid anderer Gewinn schlagen. Daher halten wir es am besten mit Toinette («Wer die Welt beklagt, sollte sich an die Arbeit machen») und machen gleich heute noch jemandem ein Kompliment für schönes Haar. By the way: Wo ist eigentlich mein Mann, wenn man ihn braucht?

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