Wer die Macht hat, hat das Netz
Die Thurgauer Regierungspräsidentin Cornelia Komposch kommt bei ihrem Einführungsreferat dem Thema noch am nächsten. Sie spricht über die fast schon unheimliche Vielzahl von Akteuren im World Wide Web und ihre divergierenden Interessen, die sich teilweise auch gegen die User des Netzes richteten. Demokratische Regierungen agierten dabei teilweise ähnlich wie autoritäre Regimes. Auch die Schweiz sei willens, Netzsperren zu verhängen – beispielsweise gegen ausländische Glücksspielanbieter beim neuen Spielbankengesetz.
Die totale Netz-Kontrolle gibt es nicht
Expertin Nummer eins beim Anlass, den der Kanton Thurgau zusammen mit der Uni Konstanz als Kooperationsveranstaltung in der Kantonsschule veranstaltete, ist Politologin Tina Freyburg, Professorin an der Uni St. Gallen. Sie spricht über ihre Forschungsarbeit, die sich mit der Demokratisierung in Zeiten zunehmender Vernetzung befasst. In diesem Zusammenhang beobachtete sie zwischen 2014 und 2016 nationale Wahlen in Afrika, in demokratischen und in autoritären Staaten.
Autoritäre Regimes manipulierten die Wahlen und versuchten zu diesem Zweck auch das Internet unter ihre Kontrolle zu bringen, sagt Freyburg. Direkten Zugang zum Netz hätten die Herrschenden aber meistens nicht, auch seien sie ausserstande, die sozialen Medien wirkungsvoll einzuschränken. Mehrheitlich habe bei den Wahlen in den untersuchten afrikanischen Staaten das Internet funktioniert. Die besten Kontroll- und Manipulationsmöglichkeiten böten sich dem Staat, wenn er selber als Internetanbieter auftrete.
Laut Freyburg funktioniert das Internet auf den vier Ebenen: Inhalte, Anwendung, Logik und Infrastruktur. Für die Manipulation gebe es zwei Möglichkeiten: die Sperrung der IP-Adresse und die Sperrung bestimmter Webseiten. 2016 seien bei den untersuchten Staaten in Afrika die Mehrheit der Regierungen selber Internetanbieter oder an solchen Unternehmen beteiligt gewesen. Daneben gebe es aber auch private Anbieter aus dem Ausland, die den staatlichen Anweisungen willig Folge leisteten.
Internet: eine Strasse mit leeren Häusern
Danach spricht der Politologe Nils Weidmann, Professor an der Uni Konstanz, über die politischen Interessen, die mit dem zunehmenden Ausbau des Internets verbunden sind. Vor allem Wirtschaft und politische Opposition konzentrierten sich stark aufs Internet. Aber auch gewisse ethnische Gruppen hätten grosses Interesse. Andere wiederum hätten keinen oder nur wenig Zugang. Signifikant sei, dass ethnische Gruppen mit politischer Macht die weitaus grösste Anbindung ans Internet aufweisen würden.
Seine Forschung habe aber auch gezeigt, dass hinter sehr vielen Web-Adressen gar niemand steht. Das Internet sei daher mit einer Strasse zu vergleichen, an der die Hälfte der Häuser leer stehe.
In repressiven Staaten sei die Internetdichte deutlich geringer als in demokratischen, ebenso in armen Ländern im Vergleich zu den reichen. Der Ausbau des Internets werde durch politische Faktoren und nicht durch gesellschaftliche bestimmt. Weidmanns Fazit: Den besten Zugang zum Netz hätten die politischen Eliten – und nicht jene Bevölkerungsgruppen, die die Vernetzung am ehesten bräuchten.
Kein Interesse für die Gefahren der Netz-Hydra
Im Anschluss an die Referate versucht der Chefredaktor der Thurgauer Zeitung, David Angst, den journalistischen Aspekt des Themas in den Blickpunkt zu rücken. Er fragt nach der Zukunft des Journalismus in Zeiten des allumspannenden Netzes und danach, was bei den amerikanischen Präsidentenwahlen medial abgelaufen sei. Eine Diskussion kommt aber trotz seinen Bemühungen nicht zustande.
Mit keinem Wort wird beispielsweise Julian Assange von WikiLeaks oder der Whistleblower Edward Snowden erwähnt. Sie leisteten Pionierarbeit für das Internet als Befreiungs-Medium und müssen nun schwer dafür büssen. Ebenso unterbleibt die Diskussion über die Rolle der USA, die nach wie vor die weltweite Informationsgesellschaft kontrollieren wollen, indem sie die Verwaltung der Internetadressen nicht an die UNO oder ein anderes internationales Gremium abgeben, wie das immer mehr Staaten fordern.
Ebenfalls unerwähnt bleibt der wohl übelste Internet-User, US-Präsident Donald Trump. Mit seinen irren und gefährlichen Tweets kleistert er praktisch täglich die Welt zu. Die Gelüste afrikanischer Diktatoren auf das Internet sind im Vergleich dazu Peanuts in der Cyberwelt. Die Fragen, die heute das Internet aufwirft, drehen sich um die zunehmende Macht von Google, Facebook, um Medienkonzerne und ihre Onlineportale und um die vielen anderen Netz-Akteure mit Machtansprüchen, aber auch um Fake News, Shitstorms, Hate Speechs, Hashtags, politische Lobbyisten und Geheimdienste.
Welche Zukunft die pluralistische Gesellschaft angesichts dieser Netz-Hydra hat – darüber hätte man gern mehr erfahren.