«Welchen Wert hat eine Fliege für dich?»
Die Transformation des Töters in einen Retter begann vor rund zehn Jahren mit einer Erfindung. Hans-Dietrich Reckhaus, Chef eines Unternehmens, das Insektenvernichtungsmittel herstellt, hatte eine insektizidfreie Fliegenfalle entwickelt, die er patentieren liess: eine gelbe Klebefolie, am Fenster anzubringen, mit einem Sichtschutz versehen, der einem den Anblick verendender Fliegen erspart.
Reckhaus hielt die Idee für fortschrittlich und ökologisch, suchte deshalb nach Wegen, sie bekannt zu machen. Weil seine Firma mit 50 Angestellten in Bielefeld im deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen und zehn im ausserrhodischen Gais zu klein sei, um eine wirksame Werbekampagne zu finanzieren, kam er auf den Gedanken, sich an Künstler zu wenden. Frank und Patrik Riklin schienen ihm die richtigen zu sein. Sie hatten 2008 mit ihrem «Null Stern Hotel» ein weltweites Echo ausgelöst. Etwas Ähnliches stellte sich Reckhaus auch für seine Fliegenfalle vor. Er wusste, dass Künstler anders arbeiten als Werbeagenturen: «Sie haben die Freiheit, das zu präsentieren, was sie wollen. Das muss man als Auftraggeber ertragen.»
«Dein Produkt ist schlecht»
Frank und Patrik Riklin taten sich schwer, den Auftrag anzunehmen, sagten schliesslich aber doch zu. Zwei Monate später präsentierten sie ihre Idee: «Bereits als ich in ihr Atelier kam, spürte ich die schlechte Stimmung», erinnert sich Reckhaus: «Hans, wir haben über Dein Produkt nachgedacht. Es ist einfach nur schlecht. Es tötet Fliegen.» Die Frage, die sie ihm dann stellten, habe ihn erschüttert: «Welchen Wert hat eine Fliege für Dich als Insektentöter?»
Hans-Dietrich Reckhaus (Bild oben) leitet seit 1995 die Reckhaus GmbH, ein ursprünglich auf Schädlingsbekämpfung ausgerichtetes Unternehmen. Mit dem 2012 lancierten Gütezeichen «Insect Respect» strebt Reckhaus eine nachhaltige Transformation seiner Branche an. Auslöser dafür war das vom St.Galler Künstlerduo Frank und Patrik Riklin (Bild unten) initiierte Projekt «Fliegen retten».
Reckhaus publizierte das Buch Warum jede Fliege zählt (2016); im September erscheint sein neues Buch Fliegen lassen. Reckhaus ist Mitbegründer des Tags der Insekten. Er lebt in Gais.
Es prasselten weitere Sätze auf ihn ein: «Hans, du musst über dein Geschäftsmodell nachdenken! Du kannst doch nicht den ganzen Tag Tötungsprodukte herstellen. Du musst dich zu einem Insektenretter entwickeln! Und Hans, wir haben festgestellt, dass für Insekten in der Gesellschaft kein Bewusstsein besteht. Wir wollen den Dialog fördern über das zwiespältige Verhältnis zwischen Mensch und Insekt. Wir wollen mit dir die grösste Fliegenrettungsaktion der Welt machen. Wir suchen ein Dorf und werden dort versuchen, den Menschen den Wert einer Fliege nahezubringen. Wir werden Fliegen retten. Wir werden eine Fliege mit einem Flugzeug in die Wellnessferien schicken. Die Menschen werden sich fragen, warum wir das machen. ‹Die sind ja verrückt›, werden sie sagen. Genau das wollen wir. Sie sollen sich irgendwann aber ernsthaft fragen, welchen Wert eine Fliege hat.»
Nur keine Eintagsfliege
Reckhaus war sprachlos – und «völlig fertig». Der Boden sei ihm unter den Füssen weggezogen worden, sagt er heute. Er schlief zwei Nächte nicht, blieb zwei Tage dem Büro fern. Am Morgen des dritten Tages habe er Frank und Patrik Riklin angerufen: «Wir machen das. Wir retten Fliegen», sagte er. Über Monate hätten sie danach immer wieder zu dritt im Atelier der Künstler diskutiert, wie sich die Sache umsetzen lasse. Für die Riklins sei klar gewesen: «Wir machen nur mit, wenn du dein Geschäftsmodell änderst. Sonst ist es eine Eintagsfliege. Ein Marketing-Gag. Das interessiert uns nicht.»
An der Ausserrhoder Kulturlandsgemeinde im Mai 2019 kam es zu einer Begegnung zwischen dem Rehetobler Biologen Emanuel Hörler und Hans-Dietrich Reckhaus. Wie viele andere hatte Hörler zunächst den Verdacht, «Fliegen retten in Deppendorf» sei nur ein Gag gewesen, eine für den Alltag bedeutungslose Kunstaktion. Allerdings hörte er Reckhaus zu – und war beeindruckt. Reckhaus hatte sich in den letzten Jahren entomologisch (insektenkundlich) weitergebildet, ein erstes Buch geschrieben (Warum jede Fliege zählt – Wert und Bedrohung von Insekten) und mit einem zweiten Buch ein wissenschaftliches Modell zur Berechnung des Insektenverlusts durch Biozide für den Wohnbereich vorgestellt und dargelegt, wie dieser durch das Anlegen von insektenfreundlichen Lebensräumen im Aussenbereich ausgeglichen werden kann (insect-respect.org).
Und das war erst der Anfang: «Mit Insect Respect beginnt das Unternehmen seine Transformation vom Hersteller von Chemieprodukten zum Anbieter ökologischer Dienstleistungen», sagt Hans-Dietrich Reckhaus. Aber natürlich sei das vorerst ein Tropfen auf den heissen Stein. Dringend sei, dass die Landwirtschaft ihre Produktionsweise ökologisiere, was nur möglich sei, wenn der Handel seine Preispolitik ändere.
Insektensterben am Beispiel Rehetobel
Emanuel Hörler pflichtet bei und verweist auf die Verantwortung der ganzen Gesellschaft: «In der Schweiz entscheiden letztlich wir als Souverän über Gesetze und Verordnungen, die Raumplanung, die Siedlungs-, Landwirtschafts- und Waldwirtschaftspolitik – und wir als Bürgerinnen und Bürger über unseren Konsum. Wir müssen bereit sein, mehr für ökologisch produzierte Produkte zu bezahlen.»
Hörler beschäftigt sich seit langem mit dem Insektensterben, sieht in ihm eine noch grössere Gefahr als im Klimawandel. Er zitiert eine Studie, welche die Erkenntnisse aus 73 voneinander unabhängigen Forschungsarbeiten zusammenfasst. Die Schlussfolgerung sei eindeutig: «Wenn wir unsere Nahrungsmittelproduktion nicht ändern, werden unsere Insekten in einigen Dekaden ausgestorben sein. Weil sie seit 400 Millionen Jahren die Basis vieler Ökosysteme bilden, wären die Auswirkungen katastrophal.»
Emauel Hörler bearbeitet mit seiner Firma biophil für Mensch und Natur für Erstaufnahmen oder Erfolgskontrollen verschiedene Insektengruppen und Landmollusken (Schnecken) und kartiert im Rahmen der Ökoqualitätskontrollen von Bund und Kantonen Wiesen, Weiden und Hochstammobstgärten. Er ist Gründungsmitglied der Pro-Natura-Lokalgruppe und engagiert sich in seiner Wohngemeinde Rehetobel für Umweltprojekte wie den Wiederaufbau, die Erhaltung und Pflege von Hochstammobstgärten oder den Aufbau des «Erlebniswegs Honigbienen».
Hörler gehört ausserdem zum wissenschaftlichen Beirat der Organisation free the bees, die sich für eine nachhaltige, chemiefreie und nicht auf maximalen Ertrag ausgerichtete Imkerei einsetzt.
Hörler hat sich intensiv mit dem Lebenswerk des Rehetobler Malermeisters und Entomologen Paul Bodenmann (1879-1949) beschäftigt und zu ihm einen Beitrag in den «Berichten der St.Gallischen Naturwissenschaftlichen Gesellschaft» (89. Band, 2000) veröffentlicht. Bodenmanns Schmetterlingssammlung, 32 Kästen umfassend, lagert dank einer Schenkung heute im Naturmuseum St.Gallen. Bodenmann sammelte zwischen 1906 und 1936 in Rehetobel und Umgebung 1332 Schmetterlinge und konnte 469 Arten nachweisen. Zwischen 1993 und 1996 wiesen Forscher unter der Leitung von Walther Keller noch 360 Arten nach. Von den ehedem 70 Tagfalter-Arten fanden sich nur noch 45.
Den markanten Rückgang der Artenvielfalt, der sich inzwischen beschleunigt habe, führt Hörler auf den Lebensraumverlust zurück. Dieser werde einerseits durch die Ausweitung des Siedlungsraums verursacht, durch die Zersiedelung, die Zunahme der sterilen, robotergemähten Rasenflächen und lebensfeindlichen Steingärten, anderseits durch die Mechanisierung der Landwirtschaft, den erhöhten Dünger- und Pestizideinsatz. Man konnte es im Appenzellerland eben wieder beobachten: Dank schönem Frühsommerwetter waren die Wiesen innerhalb weniger Tage gemäht. Nur auf den wenigen Öko-Ausgleichsflächen blühen weiterhin wichtige Nahrungspflanzen für teilweise spezialisierte Insekten.
«Ermöglicht hat dies das Erdöl», sagt Hörler: «Die Energie im Überfluss in Form von mechanischer Kraft und Dünger.» Er wolle aber nicht die Bauern kritisieren: «Sie stehen unter enormem Druck, sollten einerseits ‹naturnah›, anderseits möglichst uniform, zu jeder Jahreszeit erhältlich und billig produzieren. Für dieses Dilemma sind nicht die Bauern verantwortlich, sondern wir als Gesellschaft.»
Hörler nennt drei Gründe, weshalb das Verschwinden der Insekten für die Menschheit eine Bedrohung sei: Bienen und andere Fluginsekten erbringen eine Dienstleistung als spezialisierte Bestäuber von wichtigen Nahrungspflanzen. Sie sind im Naturgefüge unersetzbar als abbauende Organismen und als Teil der Nahrungskette.
«Wir müssen als Gesellschaft reagieren»
Wenn man mit Emanuel Hörler und Hans-Dietrich Reckhaus spricht, spürt man so etwas wie eine poetische Kraft, fühlt sich an den französischen Insektenforscher Jean Henri Fabre (1823-1915) erinnert, an den geduldigen Beobachter, der Insekten auf andere Weise als die meisten Wissenschaftler erforschte: «Ihr zerstückelt das Tier, aber ich studiere es lebend, ihr macht aus ihm einen Gegenstand des Schreckens (…), ich mache, dass man es liebgewinnt» (Zitiert nach Kurt Guggenheim: Sandkorn für Sandkorn).
Hans-Dietrich Reckhaus legt den Produkten seiner Eigenmarke «Dr. Reckhaus» seit 2015 ein Büchlein bei mit Tipps zur Vorbeugung gegen Insektenschäden ohne Gift und mit Hinweisen auf die Nützlichkeit selbst lästigster Insekten. Als Hobby-Entomologe sei er kein Spezialist. Seine Kraft liege in der Vernetzung der spezialisierten Entomologen mit Leuten aus Umweltverbänden, aus der Politik, der Zivilgesellschaft. Zu diesem Zweck organisiert er Veranstaltungen, unter anderem den «Tag der Insekten».
Nötig sei eine grosse Bewegung, denn von sich aus zeige die Wirtschaft kein Interesse an Veränderungen, Politiker hätten meist wenig Ahnung, sagt er. Es reiche nicht, dass die Entomologen aufstünden, NGOs gegen Umweltzerstörung protestierten. Seine grosse Passion sei es, das gesellschaftliche Bewusstsein für Insekten aufzubauen. «Nach allem, was ich jetzt weiss, müssen wir als Gesellschaft reagieren – stark und viel schneller als in der Vergangenheit. Und da versuche ich, mit aller Kraft, die ich habe, an allen Stellen, die ich erreichen kann, zu rütteln.» Das erfülle ihn viel mehr als der Verkauf seiner Produkte.
Die Transformation des Unternehmens
Die Firma will er aber nicht verkaufen. «Das wäre ein Weglaufen.» Er will mit ihr zeigen, dass eine Transformation der Wirtschaftsweise möglich ist. Sie soll sich vom Industrieunternehmen zu einem nachhaltigen Dienstleister entwickeln. Geld verdienen soll sie mit der Insektenrettung – dem Gütesiegel «Insect Respect», das auch seinen Konkurrenten offenstehe – und immer weniger mit der Insektenbekämpfung. Am Ende möchte er gar keine Insektenvernichtungsmittel mehr produzieren, sondern nur noch insektenfreundliche Lebensräume anlegen und mit dem Gütesiegel Lizenzeinnahmen generieren.
Im Mai startete die Organisation Insect Respect eine Webinar-Reihe zur Insektenförderung. An sieben Terminen finden Live-Streams statt. Das Ziel ist, eine «Lobby für Insekten» aufzubauen. Als Gesprächspartner dabei sind unter anderem der Soziologe Harald Welzer, die Moderatorin Nina Ruge und der Gartenbau-Experte Helge Jung. «Die Stunde der Insekten schlägt jetzt», sagt Initiant Hans-Dietrich Reckhaus.
In den letzten Jahren hätten sich bei ihm zudem Firmen ausserhalb der Insektenbekämpfungs-Branche gemeldet, die ihn beauftragt hätten, die öde Rasenfläche vor ihren Gebäuden durch insektenfreundliche Lebensräume zu ersetzen. Er ist dabei, ein Franchise-System für Landschaftsgärtner und eine Insect-Respect-Akademie aufzubauen, will seine Mitarbeitenden möglichst zu Landschaftsgärtnern umschulen – «eine grosse Herausforderung».
Statt Vernichtungsmittel – «ökologischen Unsinn» – möchte er künftig «zukunftsträchtigen Sinn» produzieren, und er will sich künftig daran messen lassen, ob er es schafft, einen Beitrag zum ökologischen Umbau der Wirtschaft zu leisten, ohne Arbeitsplätze zu streichen und Mitarbeiter zu verlieren.
Seit dem 7. Juli gibt es nur noch Rettungsprodukte
Am Ende des Gesprächs stellt Reckhaus ein neues Produkt auf den Tisch: eine Fruchtfliegen-Rettungsfalle. Die Tiere werden vom Apfelessig angezogen, geraten in die Falle, kommen aber darin nicht um und können vom Menschen zum Fenster hinaus in die Freiheit entlassen werden.
Das Insektenrettungsprodukt geht auf eine Idee von Frank und Patrik Riklin zurück, die sie Hans-Dietrich Reckhaus gleich beim ersten Termin vorgestellt hatten. Er habe sie damals nicht weiterverfolgt, weil er sich nicht habe vorstellen können, dass es Menschen gebe, die Fliegen retten wollten. Vermutlich sei das auch heute noch nur eine Minderheit. «Aber ich habe nun entschieden, ab Juli unter der Marke ‹Dr. Reckhaus› nur noch Rettungs-, keine Tötungsprodukte mehr zu verkaufen. Das betrifft zwar nur einen Teil des Unternehmens, aber für mich persönlich gilt: Ich stehe nur noch für Rettung».
Was wäre aus ihm geworden, wenn er Frank und Patrik Riklin nicht begegnet wäre? «Dann wäre ich vermutlich einfach ein Unternehmer geblieben, der Insektenvernichtungsmittel produziert und sich für Kunst interessiert.»