«Weil ihr unsere Kräfte raubt»

Am Samstag zum Fasnachtsauftakt machten für einmal nicht in erster Linie die Guggen Lärm, sondern das St.Galler Spitalpersonal. Es ging auf die Strasse, um gegen den Abbau von 440 Stellen in Zeiten des Pflegenotstands und nach Jahren der Misswirtschaft seitens Spitalführung – und ja, auch der Politik – zu protestieren.
Der Spitalverwaltungsrat hatte die Sparmassnahme aufgrund der «dramatischen finanziellen» Lage, in der sich der St.Galler Spitalverbund befindet, Ende September angekündigt. Von ersten Entlassungen, teils von Menschen kurz vor der Pensionierung, die ihr gesamtes Berufsleben im Spital gearbeitet haben, war in den vergangenen Wochen und Tagen zu hören und zu lesen.
Die Wut und die Verunsicherung ist verständlicherweise gross in der Spitalbelegschaft. Wen trifft es als nächstes? Auch ein Gefühl der Machtlosigkeit macht sich breit. Warum soll das Spitalpersonal, das während der Coronajahre so hart arbeitete und schon seit Jahren am Belastungslimit läuft, die Verantwortung für eine missratene Gesundheitspolitik und Misswirtschaft übernehmen? Auch in der Bevölkerung wächst das Unverständnis: Steigende Krankenkassenprämien bei abnehmender Qualität in der Gesundheitsversorgung – warum soll man so eine Politik noch weitertragen?
Kaum jemand glaubt Spitalverwaltungspräsident Stefan Kuhn, dass die Qualität nicht abnehmen werde, wenn das Spitalpersonal nach dem personellen Aderlass nur «intelligenter» arbeite. Die Aussage, die Kuhn vor einigen Wochen im «Tagblatt»-Interview machte, nahm man dem Investment- und Verpackungsunternehmer und HSG-Unirat, der sich sonst lieber mit Beteiligungen an Prestigeprojekten wie Cargo sous terrain schmückt («Gotthard des 21. Jahrhunderts»), übel.
An der Demo ging das Urteil an den Absender zurück: Das Spitalpersonal dürfe erwarten, dass «intelligenter gemanagt» werde, war mehrfach zu hören. Kuhns Erkenntnis, dass «wir eine gewisse Ineffizienz im System» haben, konnte man wohl vorbehaltlos unterschreiben.
3000 Menschen aus dem ganzen Bodenseeraum
Kurz vor Demobeginn um 13 Uhr hatten sich erst einige 100 Personen auf dem Kornhausplatz am St.Galler Bahnhof eingefunden. Da und dort wurde bereits etwas Unmut laut über die mangelhafte Mobilisierung für diese so wichtige Kundgebung. Und in den hinteren Reihen beklagte man sich zu recht, dass man aufgrund der schlecht positionierten Soundanlage nicht hören konnte, was Severin Baerlocher, Sektionspräsident des Ärzt:innenverbandes (VSAO) und Oberarzt in Wil, und Wolfgang Rehm, Gruppenleiter auf der chirurgischen Intensivstation am Kantonsspital St.Gallen, zu sagen hatten.
Baerlocher wies auf die demografischen Veränderung und die Überalterung der Gesellschaft hin, die das Gesundheitspersonal schon heute enorm beschäftige. Für das «Ergebnisverbesserungsprogramm» der Spitalverwaltung zeigte er wenig Verständnis. Das Spital mit seiner hochspezialisierten Medizin, den Notfall- und Intensivstationen, die rund um die Uhr geöffnet seien, sei auch schon mit der Feuerwehr verglichen worden, nur dass ihm keine Feuerwehr bekannt sei, die Gewinn erwirtschaften müsse. Die Spitäler seien auch Ausbildungsbetriebe, die Personal für den öffentlichen Dienst ausbilden, aber er kenne auch keine vergleichbare Schule, die Gewinn erwirtschaften müsse. Zum Schluss appellierte er auch an die Bevölkerung, im Frühling dann jene Kantonalpolitiker:innen zu wählen, von denen sie sicher wissen, dass sie sich für die Spitäler und das Gesundheitswesen einsetzen.
Wolfgang Rehm verlas danach einen Brief eines leitenden Anästhesisten, der nach 22 Dienstjahren völlig unerwartet seine Stelle verloren hat. Besonders verletzt habe ihn die sofortige Suspendierung von seiner ärztlichen Tätigkeit. Er brenne für seinen Beruf, die Teamarbeit und wolle diese Leidenschaft den jungen Generationen weitergeben. Und die Entlassung sei nun der Dank für die zahllosen Nacht- und Wochenenddienste? «Wie soll denn in Zukunft noch eine angemessene Qualität gesichert werden, wenn das Personal schon heute psychisch und physisch überlastet sei? Hat eine hochbezahlte, schlaue Beratungsfirma keine besseren Ideen, als einfach den Personalschlüssel ohne Kenntnis der Arbeit und angesichts einer alternden Bevölkerung zurückzuschrauben? Kann man Sparmassnahmen aus der Wirtschaft einfach auf das Gesundheitswesen übertragen und Patient:innen als Industrieprodukte einkalkulieren? Sind es die Mitarbeitenden, die die finanzielle Schieflage verursacht haben?» Die Ad-hoc-Massnahme der Massenentlassung sei kurzfristig und dumm, so das Fazit des Entlassenen, den Rehm zitierte.
Nach jedem zweiten Satz lärmte die Menge. Rasseln, Pfeiffen, zustimmende Ausrufe. Nach den ersten beiden Reden setzte sich die Menschentraube, die mittlerweile doch auf eine unüberblickbare Zahl angewachsen war, in Bewegung Richtung Multer- und Marktgasse. Am Rande zogen die Gewerkschaften mit Megafonen mit und gaben die Parolen durch: «Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr unsere Kräfte raubt» oder «Es braucht uns alle».
Auch etliche Politiker:innen aus dem linken Spektrum beteiligten sich am Umzug. Da waren etwa Stadtpräsidentin Maria Pappa, alt SP-Kantonalpräsident Max Lemmenmeier, Präsident der Grünen Stadt St.Gallen Christian Huber oder SP-Regierungsratskandidatin Bettina Surber, die auch in ihrer Funktion als Verbandsjuristin und Geschäftsleiterin der VSAO-Sektion St.Gallen/Appenzell an der Demonstration teilnahm. Exponent:innen der bürgerlichen Seite waren keine zu sehen, aber bei den 3000 Teilnehmenden, die später vor dem Vadiandenkmal verkündet wurden, verliert man natürlich leicht den Überblick …

Die Einpeitscher:innen der Gewerkschaften skandierten die Parolen, auf die man sich zuvor geeinigt hatte.
3000 Personen aus der Schweiz und sogar zwei Delegationen aus Österreich und Deutschland sind an diesem Samstag nach St.Gallen gepilgert. So gross waren die Kundgebungen in St.Gallen zuletzt 2012, als sogar die Polizei mit den anderen Kantonsangestellten für bessere Arbeitsbedingungen demonstrierte, 2013, als die katholische Basis auf dem Klosterplatz gegen die rückwärtsgewandte Kirchenpolitik des Churer Bischofs protestierte, 2019 am Frauenstreik oder an der ersten St.Galler Pride diesen August.
Melanie Helfenberger, Wochenbett-Stationsleiterin am KSSG, die die Demonstration mitorganisiert hat und jeweils die Redner:innen ankündigte, zeigte sich überwältigt ob des Andrangs und der grossen Solidarität, die zu spüren war. Die Menge unterbrach jeden zweiten Satz der Redner:innen mit lautem Beifall und auch mal Buh-Rufen, wenn die Verantwortlichen benannt wurden.
Doch diese trauten sich nicht her. Sie hätten dann zum Beispiel von Franziska Bähler vom Verband der Operationstechniker:innen (SBV TOA) persönlich entgegennehmen können, was sie von den strategischen Entscheiden der letzten Jahre hält: Der Spitalneubau in Wattwil, der nicht einen Tag für die St.Galler Bevölkerung geöffnet gewesen sei, sei ein Fehlentscheid gewesen. Ebenso die Neubauten des Campus am Kantonsspital St.Gallen. «Wir brauchen nicht die allerneuesten Geräte, OP-Säle und technischen Highlights, wir sind diesbezüglich schon längst auf einem der höchsten Standards der Welt. Wir brauchen vor allem Zeit für die Patientinnen und Patientinnen. Und dafür braucht es Personal», sagte Bähler. Die Spitäler inklusive ihre Immobilien gehörten zurück in die Verantwortung des Kantons, das Spitalverwaltung und -geschäftsleitung die Probleme offensichtlich nicht im Griff hätten. Aber wo bleibt der Regierungsrat?
Nationalrätin nimmt Kanton in die Pflicht
Eigentlich wollte man an der Demo keine Parolen, die sich gegen Einzelpersonen richten. Doch konnte die Organisation nicht verhindern, dass da und dort skandiert wurde: «Totes Krankenhaus, Bruno Damann raus!»
Viel Applaus gab es für Nationalrätin Barbara Gysi. Sie bezeichnete die Stellenstreichungen als absurd, wurden doch eben noch Defizite eingefahren, weil es an Personal mangelte und Betten deshalb nicht belegt werden konnten. Falsch sei auch der angekündigte Ausbau der Herzchirurgie. Gar inakzeptabel sei aber angesichts der Massenentlassung, dass die Gespräche mit den Sozialpartner:innen verweigert würden. Man dürfe nicht auf den Dezember vertrösten und gleichzeitig schon Kündigungen aussprechen.
Eindringlich wandte sich die Nationalrätin an die Kantonalpolitik, die mit wenigen Ausnahmen abseits stehe und sich nicht zuständig fühle. «Wie kann sich der Regierungsrat für nicht zuständig erklären, wenn unsere öffentliche Spitalversorgung gefährdet wird?», fragte Gysi. Die Bevölkerung stehe klar hinter ihren Spitälern und habe die Millionensanierung genehmigt, aber sicher nicht in der Haltung, dass mit der Übergabe der Liegenschaften den Spitälern dann die Luft abgedreht würden. Die Spitalimmobilien müssten dem Kanton zurücküberschrieben werden und der Kantonsrat müsse – am besten schon an der kommenden Budgetdebatte Ende November – weiteres Geld in die Hand nehmen, um die Spitalfinanzierung zu sichern. Die Patient:innen hätten Anspruch auf eine hochstehende und garantierte Versorgung, und zwar vor allem in öffentlichen Spitälern und nicht in Privatkliniken ohne Aufnahmepflicht.
Zum Schluss der Spitaldemo ergriff Cornelia Hartmann vom Berufsverband der Pflegerfachkräfte (SBK) das Wort. Der Fachkräftemangel bestehe in der Pflege nicht erst seit Corona, Stellen zu streichen sei also paradox. Bund und Kantone sprechen derzeit Millionen, um im Zuge der Pflegeinitiative mehr Personal auszubilden, und gleichzeitig würden Stellen gestrichen. Das Defizit haben nicht die Angestellten verursacht. Sie rief schliesslich die fünf Forderungen der Demonstrierenden an Politik und Spitalführung aus:
- Die Pflege muss stärker im Verwaltungsrat und in der Geschäftsleitung vertreten sein.
- Die Anliegen der Basis müssen in Entscheidungsprozesse miteinbezogen werden.
- Die Entlassungen müssen gestoppt werden.
- Die St.Galler Politik muss das finanzielle Defizit ausgleichen, denn die Gesundheitsversorgung ist gefährdet.
- Die nationale Politik muss sich für gerechte Tarife der Spitäler einsetzen.
Mittlerweile zog ein eisiger Wind durch die Altstadt und es setzte leichter Regen ein. So hat sich die Menschenmenge am Samstagnachmittag nach engagiertem politischem Engagement rasch wieder in alle Richtungen zerstreut. Der Frust des Spitalpersonals und die Fragen der Bevölkerung werden sich wohl nicht so rasch verziehen.