Weil er so fickt, wie sie alle gerne ficken würden
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Das erste Mal begegnete ich G., als ich das erste Mal in den Ausgang ging. Es war an einer Party im Keller der damals wohl einzigen alternativen WG der Ostschweizer Provinzstadt, in der ich aufwuchs. G. stand auf einer winzigen Bühne in einem Betonkeller mit 50 Menschen drin, er kiffte und rappte von Drogendealern und Verfolgungsfahrten im Thurgau und von schlechtem Kokain in St. Gallen. Er war damals Ende 20, ich war 15 und gleichermassen eingeschüchtert und fasziniert von dem kleinkriminellen Untergrund, der sich da vor mir auftat. Fünf oder sechs Jahre später traf ich G. in einer WG in einem Städtchen am Bodensee. Er schrieb immer noch Songs über das Ostschweizer «low life», aber mittlerweile auch Reportagen, die Preise erhielten und als Bücher gedruckt wurden. In Zeitungen schrieb er über Hooligans oder über Politik, auf seinem Blog über Rap, Drogen oder über die Serie Californication. Als ich ihn an dem Abend traf, sprach er vor allem davon, wie geil er Drogen fand und wie gern er meine Freundin ficken würde.
Ich verstand mich zu dem Zeitpunkt noch als Mann, auch wenn ich das Mann-Sein nicht sonderlich gut konnte. Nachdem die Pubertät meinen Körper in ein Ding verwandelt hatte, das sich falsch und fremd anfühlte, wurde ich depressiv, hatte Angstzustände und flüchtete mich in Alkohol, Gras und Amphetamin. Trans Menschen gab es in der Schweizer Popkultur der 2000er keine und deshalb rang ich nach Ideen von Männlichkeit, die mir einen Weg aufzeigen konnten, das zu werden, was mir alle wieder und wieder sagten, dass ich es sei: ein Mann. Oder präziser, weil ich depressiv war und häufig über meine Emotionen sprach: ein Künstler.
Wir lieben die Abuser
Die 2000er und 2010er liebten neurodivergente Künstler. Sie liebten sie so sehr, dass sie ihnen alles verziehen, egal ob sie Drogen oder Frauen missbrauchten. Der von den Medien als softes Genie gezeichnete französische Sänger Bertrand Cantat (Noir Désir) tötete 2003 seine Freundin in einem Streit, und während er im Knast sass, erschien das letzte Live-Album, das er aufgenommen hatte, und sprang in der Schweiz, Italien, Frankreich und Belgien in die Top-Ten der Charts. Californication, eine Serie, die G. gern erwähnte, dreht sich um den Mittvierziger Star-Autor Hank Moody, dem die Filmadaption seines Romanes missfällt und der deswegen in der ersten Folge frustriert Sex mit der Frau des Regisseurs und einem 16-jährigen Fangirl hat. Dazwischen zieht er Drogen, hat noch mehr Sex und überschreitet wieder und wieder Grenzen, die seine Ex-Frau gesetzt hat. Am Ende der ersten Staffel kehrt die Ex-Frau dann zu ihm zurück, seine Muse, diejenige, die Moody eigentlich ficken wollte, wenn er all die anderen fickte. Und wir als Zuschauer:innen bekamen zu verstehen, dass sie ihn trotz der Eskapaden und Übergriffe liebt, vielleicht aber auch deswegen.
Hank Moody war damals das grösste moderne popkulturelle Narrativ, wie ein schreibender Mann zu sein hätte. Er fickte viel und liebte teure Autos, liebte aber auch Frauen. Er brauchte sie, zum Schreiben, zum Abreagieren. Millionen sahen Californication. Und wenn ich und viele aus meinem Umfeld danach G. sahen, ergab er Sinn: Ein schreibendes Genie, das sich manisch durch Clubs und Redaktionen der Schweiz fickt und mutmasslich traumatisierte Betroffene zurücklässt – dank den kulturellen Referenzen aus Fiktion und Realität war das nichts Erschütterndes, sondern ein «richtiger Mann». 2010 hätte G. den Vergleich zu Moody geliebt. Vielleicht liebt er ihn auch jetzt noch, er liest diesen Text bestimmt.
G. versteht sich als Gonzo-Journalist, er liess sich ein Gonzo-Tattoo auf den rechten Unterarm stechen und trug lange eine getönte Brille, die an Hunter S. Thompsonerinnert, den Begründer des Gonzo-Journalismus. Als G. in einer vielbeachteten SRF-Sendung auftrat, tat er das in einem Fear and Loathing in Las Vegas-Shirt unter einer weissen Anzugsjacke und erzählte, dass er gerne kokste und gerne soff. Sein Blog hiess, frei nach Thompson, «Nation of Swine». Hier las die Medienprominenz der Schweiz mit, wegen dem eloquenten Beef mit anderen Branchenlieblingen, wegen dem einen oder anderen Scoop, aber auch, weil die Boys der Medienszene die dreckigen Geschichten geil fanden. Als «Dr. Gonzo» erzählte G. von Weltklasse-Koks im Backstage des Zürcher Hallenstadions oder vom Abpacken von illegalem Viagra. Acht Jahre bevor die «Republik» G. anstellte und dabei von den Vorwürfen wegen sexueller Belästigung wusste, lasen die brancheninteressierten Journos der Schweiz auf «Nation of Swine», wie geil G. es fand, mit einer Corvette bei 298 km/h über die deutsche Autobahn zu rasen und dabei den Guns-N’-Roses-Song zu hören, zu dem er das erste Mal gefickt und sich kurz danach geprügelt hatte.
Wie sie alle gern ficken würden
Lange steckten mich die Menschen in die Ecke zu den Boys. Und weil ich schreiben wollte und es in diesem Land gefühlt niemanden gab, der besser schrieb, der näher dran war, nahm ich mir G. zum Vorbild. Es gab das eine oder andere mögliche Idol, aber ganz ehrlich: Die fickten weniger. Und darauf kommts an, das hatte ich in 20 Jahren Männlichkeit imitieren gelernt, das lehrten mich Gossip Girl, How I Met Your Mother und all die anderen Pop-Produkte der Zeit. Und also stand ich bald in der gleichen Ostschweizer Redaktion, in der auch G. gearbeitet hatte, flüsterte ehrfürchtig mit den Boys in einer Ecke, die vielleicht grad auch lieber Opium in Vang Vieng rauchen würden, so wie es G. in einer «Magazin»-Reportage tat, Corvette fahren würden, wie es G. in seinen Songs tat, so viel ficken würden, wie G. es angeblich tat. Die Boys drückten mir Meienberg in die Hand oder erzählten von Gonzo-Journalismus und wenn ich gut werden wollte, so wie G., dann müsse ich werden wie jene Männer. Heute stelle ich mir vor, dass die Frauen gleichzeitig am anderen Ende der Redaktion standen und sich Warnungen über G.s sexualisierte Gewalt zuflüsterten.
Die Namen, die jungen Journalist:innen als Referenzen vorgehalten werden, sind dieselben, in deren Tradition sich G. versteht. Er trägt die Namen und Zeichen von Männern wie Meienberg oder Thompson und wenn Journalismusgremien G. Preise verliehen, lobten sie seine Schritte in deren Fussstapfen. Meienberg, der acht Jahre lang eine Geliebte auf Telefonabruf hatte, sie vor allen versteckte und nur fürs Ficken, für ihr Essen und für ihren Trost vorbeikam, der Abhängigkeiten kreierte und demütigte. Thompson, der davon überzeugt war, dass jede Frau tief im Innern Vergewaltigung doch geil finden könnte. Beide, und ebenso William S. Burroughs (der seine Frau erschoss und dafür als Grund mal einen Wilhelm-Tell-Stunt, mal unvorsichtiges Vorführen seiner Pistole nannte) und beinahe die gesamte restliche Beat-Generation, die Frauen schlugen, Minderjährige sexualisierten oder vergewaltigten, gehören immer noch zu den Referenzen für junge, vor allem männliche Schreibende.
Als ich merkte, dass ich dem nicht entsprechen konnte, kein innerlich zerrissenes abusive Genie werden würde, gab ich den Journalismus auf, wechselte bald darauf in die Musik und erlebte dort das Gleiche. Andere Namen, aber die identischen Muster. Zu den Grossen oder den Coolen der Szene gab es hier Gerüchte von Übergriffen, dort von Grenzüberschreitungen. Die eine oder andere FINTA-Person hielt Distanz zum einen oder anderen Musiker und die Männer erzählten mir, dass jene FINTA-Person halt «ein wenig crazy sei» und schwankten zu den Erfolgsgeschichten der Abuser um.
Wenn jetzt alle Frauen anfangen, zu sprechen
Heute sind die Männer, die in Musik und Medien in Machtpositionen sitzen, erschüttert. Die «Republik» ist erschüttert und als ich G.s Label im März über seine Übergriffe informierte, waren die ebenfalls erschüttert – und sie sind es immer noch. Dass männlich geprägte Organisationen in einem System, das jungen Männern Abuser als Vorbilder auftischt, erschüttert sind, wenn Männer zu Tätern werden, ist heuchlerischer Bullshit zum reinen Selbstschutz.
Die angebliche Erschütterung ist Angst oder Wut und bezieht sich auf das, was Aline Graf bereits 1998 formulierte, nachdem sie Meienbergs verachtenden Umgang ihr gegenüber publik machte (und danach von den teilweise gleichen Akteuren aus dem Land gehämt wurde, die zehn Jahre später G. grossmachen würden): «Mein Buch hat doch Ängste geweckt. In einer Fernsehsendung hat es ja ein Mann selber formuliert: Hilfe, wenn jetzt alle Frauen anfangen, heimlich solche Tagebücher über uns zu schreiben», sagte sie zur «Sonntagszeitung». «Es ist den Männern verdammt lästig, dass eine Frau das Schweigen gebrochen und dann gleich einen der Grössten von ihnen entzaubert hat. Das hat auch Aggressionen ausgelöst.» «Der Bund» schrieb damals: «Graf enthüllt nur, was wir, die wir ihn persönlich kannten oder von ihm hörten, grundsätzlich bereits wussten», dass Meienberg ein gefährlicher Macho war, der Menschen ausbeutete und manipulierte. Und wer heute, 20 Jahre später, wiederholt G. begegnete oder mit ihm eine Redaktion teilte, könnte das Gleiche über ihn sagen. Beinahe alle Wegbegleiter von G. sagen jedoch nichts.
Nachdem ich 15 Jahre lang Wege gesucht habe, Männlichkeit zu performen, und beinahe ausschliesslich Täter als Vorbilder vorgehalten bekam, merkte ich, dass ich scheiterte, weil ich schlicht kein Mann bin. Und deshalb keinen Platz auf dem goldenen Treppchen von Gonzo-Abusern erhalten kann, keine Boys ehrfürchtig darüber flüstern werden, wie viel ich ficke. Und solange Journalismus und Musik Täter als Referenzen auftischen, weiss ich nicht, ob ich überhaupt je einen Platz in diesen beiden Branchen finden kann. Aber, und das ist das einzige Privileg, das ich für mich als trans Frau bisher entdeckt habe: G. wird diesen Text lesen, andere Abuser werden den Text auch lesen – und wütend sein. Aber da diese Männer neben einem abusive Mindset von der Popkultur auch gelernt haben, dass trans Frauen widerlich und unfickbar sind, bin ich immerhin vermutlich vor sexualisierter Gewalt geschützt und fühle mich – trotz Drohungen von psychischer oder physischer Gewalt – sicher genug, diesen Text hier zu schreiben.
Mia Nägeli, 1991, arbeitet nach einer Journalismusausbildung und ein paar Jahren bei CH Media und der TX Group heute in der Musikbranche in der Kommunikation, als Tontechnikerin und als Musikerin.
Dieser Beitrag wurde leicht angepasst. In der ersten Fassung war im Lead von der sexualisierten Gewalt «des Täters» die Rede. Es gilt die Unschuldsvermutung, daher lautet die korrekte Formulierung: des «mutmasslichen Täters».
Der Satz «sich manisch durch Clubs und Redaktionen der Schweiz fickt und traumatisierte Opfer zurücklässt» zeichnet ein zu generelles Bild. Die Formulierung «mutmasslich traumatisierte Betroffene zurücklässt» ist präziser.
Der Satz «Acht Jahre bevor die «Republik» G. anstellte und dabei von den Vorwürfen von sexuellem Missbrauch wusste» ist eine Falschaussage. Belegt ist lediglich, dass die «Republik» zu diesem Zeitpunkt «von Vorwürfen wegen sexueller Belästigung» wusste. Die damalige Redaktionsleitung habe diese Vorwürfe zur Kenntnis genommen, Gespräche geführt – und sei zum Schluss gekommen, dass die Vorwürfe nicht belegt seien und einer Anstellung nichts im Wege stehe.