Was zur Hölle ist Darknet?
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Es war Ende der 90er-Jahre, als sie zum ersten Mal auftauchte: eine Gruppe von orange gekleideten jungen Männern. Sie hatten alle den Kopf kahlgeschoren und nannten sich Agenten. Ihre Gruppe sei kein Projekt, sondern eine Firma namens «etoy». Und wie es sich für eine Firma gehört, verkauften sie Aktien zu wechselnden Kursen. Ich sah sie zum ersten Mal an einer Internet-Tagung. Die Jungs behaupteten, sie seien daran, ins Internet auszuwandern, und beklagten sich darüber, dass sie niemand in der Schweiz unterstützen wolle. Denn mit dem Verkauf der Aktien klappte es trotz Dotcom-Boom noch nicht recht.
Dafür schafften sie es in die Samstagabendshow Benissimo: Überraschend und offenbar unangemeldet tauchten sie dort auf und fragten den Quizmaster Beni Thurnheer nach dem Weg ins Internet. Der Boulevard schäumte vor Wut über diesen Angriff auf das Allerheiligste der Unterhaltung. Dabei waren die etoy-Agenten damals eigentlich keine Unbekannten mehr: Schon 1996 hatte sie an der renommierten Ars Electronica in Linz eine Goldene Nica für ihre Aktion Digital Hijack erhalten: Mit einem Trick – in den Anfangszeiten des Internets war so etwas leicht machbar – war es ihnen damals gelungen, Suchanfragen auf ihre eigene Website zu leiten. Dort erklärten sie dann dem überraschten Benutzer, er sei soeben entführt worden.
Eine Installation von etoy war 1998 das erste Projekt, das wir beim Migros-Kulturprozent förderten. Wir waren damit die erste Schweizer Institution, die sich mit diesen merkwürdigen Künstlern, die keiner so recht einordnen konnte, beschäftigten. Ihre Installation etoy tank 10 zeigten wir im Park im Grünen in Rüschlikon. Der Tank war ein symbolischer Ausdruck für die Abwanderung ins Internet und ein hypothetischer Wohn- und Lebensraum der Zukunft. Den 25 Meter langen Container aus San Diego nach Rüschlikon zu bringen war ein kleines Kunststück, aber das ist eine andere Geschichte.
Hack
Die Künstlergruppe etoy nutzte in jenen Jahren die Methoden des Hacking und bewegte sich durchaus nur im Rahmen des Legalen. Ein Hack ist nämlich eigentlich nur eine gewitzte Lösung für ein Computerproblem. Der Begriff taucht bereits in den 50ern beim Modelleisenbahnclub am Massachusetts Institute of Technology (MIT) ein erstes Mal auf. In der Pionierzeit der Computergeschichte, also in den 60er- und 70er-Jahren wurde der Begriff aber auch für kleine nützliche Computerprogramme auf Grossrechensystemen benutzt, etwa zur Textverarbeitung und Tabellenkalkulation.
Mit der Zeit wurde aus dem Hacken eine eigene Praxis. Berühmt wurde in jener Zeit etwa John Draper. Ihm gelang es, mit einer kleinen Signalpfeife, die der Cornflakes-Packung namens «Cap’n Crunch» beilag, das Telefonsystem so zu manipulieren, dass er kostenlos Ferngespräche führen konnte. «Phreaking» nennt sich dieser Kunstgriff im Technikjargon. John T. Draper ging als «Cap’n Crunch» in die Hackergeschichte ein. Für seinen Lausbubenstreich wanderte er ins Gefängnis, wo er Programme für seine Freunde Bill Gates, Steve Jobs und Steve Wozniak schrieb.
Zurück zur Kunst: Hacken steht auch für das kreative Aufbrechen einer Technologie und den damit verbundenen Systemen. Ein Hacker will mehr als nur vorgegebene Regeln befolgen, er will die Systeme selbst verändern. Das macht die Figur des Hackers und seine Tätigkeit schillernd und mehrdeutig. Der Begriff des Hackens wurde schon früh auf verschiedene Gebiete übertragen. Es gibt zum Beispiel Aktivisten, die sich darauf spezialisiert haben, Möbel von Ikea anders zusammenzubauen. So wird etwa aus dem berühmten Lehnstuhl des schwedischen Möbelhauses ein Schlitten.
Damit sind wir bei den sogenannten Hardware-Hacks gelandet. Daran sind auch die Musiker interessiert, die mit Klängen experimentieren. Die Technik wird hier teilweise auch Circuit-Bending genannt. Die Künstlerin Iris Rennert arbeitet mit dieser Methode: Sie öffnet das Gehäuse eines Spielzeugmusikinstruments, erzeugt experimentell Kurzschlüsse und hört sich fasziniert die neuen Töne an. Klar, das geht nur mit batteriebetriebenen Geräten. Hat sie einmal einen interessanten Klang gefunden, versucht sie ihn mit einem zusätzlichen Schalter zu fixieren. Ein derart verändertes Gerät kann am Schluss recht abenteuerlich aussehen. Und eigentlich macht sie nichts anderes als das, was der amerikanische Musiker und Künstler John Cage um 1940 mit seinem präparierten Klavier gemacht hat: Cage hat einfach Gegenstände ins Klavier gesteckt und geschaut, wie sich der Klang dabei verändert.
DIY
Manchmal produzieren Künstlerinnen und Künstler ihre Instrumente auch gleich selber. Dann sind wir im Bereich des Do-it-yourself, abgekürzt DIY, gelandet – eine Methode, die eng mit dem Hacking verwandt ist. DIY-Künstler suchen das Unvollkommene, Fehlerhafte. Dazu gehören Klänge, die sich mit selber gebastelten Tongeneratoren erzeugen lassen. Der Solothurner Künstler Flo Kaufmann etwa experimentiert seit Jahren mit solchen Geräten, die Schweizerische Gesellschaft für mechatronische Kunst (SGMK) hat sich sogar ganz diesen Praktiken verschrieben und organisiert unter anderem auch Workshops dazu.
Seit einigen Jahren wagen sich die Hacker auch ins Gebiet der Biologie. Da kriegt dann mancher Beobachter ein mulmiges Gefühl, und man sieht schon Frankensteins Monster oder Gentech-Chimären aus den Künstlerateliers entweichen. So wild ist es nicht: Die Leute von «Hackteria» um den Schaffhauser Marc Dusseiller etwa wollen mit einfachen Methoden die Welt der Biologie für die Kunst nutzbar machen. Dafür haben sie mit einem kleinen Trick, eben einem Hack, eine billige Webcam in ein richtiges Mikroskop verwandelt.
!Bitnik
Zu den interessantesten Begegnungen im Feld von Hacking und Kunst gehört für mich die Mediengruppe Bitnik, die sich eigentlich «!Mediengruppe Bitnik» schreibt und damit zeigt, dass man auch auf der Ebene der Sprache Hacks machen kann. In ihrem Projekt Opera Calling haben sie Mobiltelefone zu Wanzen umfunktioniert und diese im Zürcher Opernhaus versteckt. Ihr System konnte damit ganze Opern mithören und an zufällig ausgewählte Telefonabonnenten in der Stadt Zürich übertragen.
Opernhausdirektor Pereira war zunächst perplex und drohte mit rechtlichen Schritten, später merkte allerdings auch er, dass die jungen Künstler niemandem schaden wollten. Ursprünglich gibt es nämlich in der Hackerbewegung auch eine Hacker-Ethik, der auch die Mediengruppe Bitnik verpflichtet ist. Keinen Schaden zu stiften ist einer der Grundsätze, der Einsatz für freien Zugang zum Netz und zum Weltwissen ein anderer, ebenso wie der Grundgedanke des Teilens.
Darknet
Diese Regeln stammen aus den Frühzeiten von Computer und Internet. Daran halten sich heute weder die National Security Agency (NSA) noch Computerkriminelle aus Russland und anderswo, und immer mehr Staaten bemächtigen sich der Hackermethoden, um ihre Bürger auszuspionieren. Diese Entwicklung zeigt nichts anderes als das Janusgesicht der Technologie. Und damit sind wir nun endlich beim Darknet: Es gibt in den Tiefen des Cyberspace Bereiche, die nicht mit den herkömmlichen Werkzeugen wie etwa einem Internetbrowser oder einem Mailprotokoll zugänglich sind. Und hier findet sich Illegales und Legales zuhauf. Die Grenzen werden schnell unklar und verwischen. Genau deshalb interessiert sich auch die Kunst dafür. Und genau deshalb freue ich mich auch auf die Ausstellung in der Kunsthalle St.Gallen.
Dominik Landwehr, 1958, ist Kultur- und Medienwissenschaftler. Er leitet die Abteilung Pop & Neue Medien in der Direktion Kultur und Soziales des Migros-Genossenschafts-Bundes und ist Herausgeber der Reihe «Edition Digital Culture».
An der Vernissage der Ausstellung «The Darknet – From Memes to Onionland. An Exploration» in der Kunsthalle St.Gallen am 17. Oktober wird Band 2 präsentiert, der sich mit dem Thema Hacking befasst.
Bild: Bruno Aeberli