Was sagt die «Kreativstadt»?

Zehn Kreative aus dem erweiterten Saiten-Dunstkreis haben wir gefragt: Was ist eigentlich diese ominöse Kreativszene? Gibt es einen «St.Galler Stil»? Wo liegt der Unterschied zwischen Kreativszene und Kreativwirtschaft? Und was braucht der «Kreativstandort» St.Gallen?  

Anita Zimmermann, Nadja Keusch, Fabian Rietmann, Jan Fischer und Kerstin Forster. (Illustration: Louis Vaucher) 

Krea­ti­vi­tät ist die Fä­hig­keit zu neu­en, schöp­fe­ri­schen Ideen und/oder Ta­ten. Da­für braucht es kei­nen Stand­ort. Ich er­in­ne­re mich, als vor 35 oder 40 Jah­ren auf bei­den Sei­ten beim Stadt­ein­gang (im La­chen­quar­tier und beim Ste­phans­horn) ei­ne gros­se Bla­che über der Stras­se hing: «St.Gal­len mit Pfiff». Doch kein Pfiff weit und breit.

Dass das GBS nicht krea­ti­ver ist, er­staunt mich nicht. Wir hät­ten ger­ne ei­ne Hoch­schu­le ge­habt hier. Aber ehr­lich ge­sagt, könn­te auch ei­ne Hoch­schu­le das nicht wett ma­chen. St.Gal­len ist sehr auf­ge­räumt. Das ist ein Kom­pli­ment. Aber wir wa­gen nichts und sind hier sehr ver­hal­ten. Al­les von aus­sen ist viel span­nen­der. Und trotz­dem ver­hin­dern wir uns stän­dig. 

Wir ha­ben tol­le Bands, die für sich ein Ven­til ge­fun­den ha­ben. Un­se­re Kul­tur­plät­ze sind zahl­reich und span­nend. Kul­tur ist wich­tig. Da­mit muss aber ei­ne Stadt nicht prah­len oder wer­ben. Eher schau­en, dass die­se Plät­ze gut fi­nan­ziert wer­den. Der «Krea­tiv­stand­ort» St.Gal­len braucht dar­um mehr Kul­tur­gel­der. 

Krea­ti­vi­tät ist oh­ne­hin ein blö­des Reiz­wort. Oder bes­ser: Nur ei­ne Hand­lung kann krea­tiv sein, nicht ei­ne Stadt – und si­cher nicht die Wirt­schaft. St.Gal­len ist we­der krea­tiv noch in­no­va­tiv und vor al­lem nicht vi­sio­när. Punkt. Die Ge­sell­schaft ist zur­zeit so ge­trie­ben von der Wirt­schaft, wel­che Krea­ti­vi­tät ver­hin­dert. Mich macht – we­gen dem al­lem – un­se­re Stadt sehr kämp­fe­risch, be­weg­lich und krea­tiv. Weil mir hier viel fehlt. Ich bin ei­ne Kunst­ak­ti­vis­tin. 

Ani­ta Zim­mer­mann ali­as Lei­la Bock ist Künst­le­rin mit ei­ner Vor­lie­be für Zwi­schen­nut­zungs­pro­jek­te.

 

Als Pro­jekt­lei­te­rin bin ich zwar in der Krea­tiv­bran­che tä­tig, aber selbst nicht krea­tiv. Wenn ich an die Krea­tiv­sze­ne den­ke, kom­men mir zum ei­nen die Kon­zept­künst­ler:in­nen und zum an­de­ren die bil­den­den oder vi­su­el­len Künst­ler: in­nen in den Sinn. Von aus­sen be­trach­tet sind das zwei ver­schie­de­ne Sze­nen, die sich aber an ver­schie­dens­ten An­läs­sen kreu­zen. Ein für mich klas­si­scher Ort für vi­su­el­le Künst­ler:in­nen ist die Ana­log Bar.

Da die St.Gal­ler Gra­fik schon lan­ge be­kannt und wich­ti­ger Be­stand­teil der Schwei­zer Gra­fik-Tra­di­ti­on ist, ist für mich die mi­ni­ma­lis­ti­sche und funk­tio­na­le Ge­stal­tung Teil des «St.Gal­ler Stils».

Ich un­ter­schei­de stark zwi­schen Krea­tiv­sze­ne und Krea­tiv­wirt­schaft. In der Krea­tiv­wirt­schaft wird auf Wunsch von Kund:in­nen de­signt. Per­sön­li­che Sti­le flies­sen mit ein, vie­les ist aber vor­ge­ge­ben. Die Krea­ti­vi­tät ist zwar wei­ter­hin er­wünscht, je­doch in der Aus­füh­rung ein­ge­schränkt. Die Krea­tiv­sze­ne ist in mei­nen Au­gen nicht ein­ge­schränkt und de­signt Pro­jek­te in voll­stän­dig ei­ge­nem Stil und krea­ti­vem Den­ken.

Vom «Krea­tiv­stand­ort St.Gal­len» wün­sche ich mir mehr Raum für Krea­tiv­schaf­fen­de, we­ni­ger bü­ro­kra­ti­sche Hür­den bei Pro­jek­ten und mehr Mut für krea­ti­ve Ecken in St.Gal­len.

Nad­ja Keusch ist Pro­jekt­lei­te­rin in ei­ner Agen­tur für Neu­ro­bran­ding und Pack­a­ging De­sign.

 

Für mich setzt sich die Krea­tiv­sze­ne zu­sam­men aus den un­ter­schied­li­chen Krea­tiv­bran­chen so­wie den Leu­ten, die durch ih­re Krea­ti­vi­tät die Sze­ne be­le­ben. Da­zu be­nö­tigt es auch Räu­me, die von Krea­ti­ven ge­schaf­fen und be­spielt wer­den, wie zum Bei­spiel das Haus zur Amei­se. Die Krea­tiv­wirt­schaft ist für mich nur ein Teil aus der Krea­tiv­sze­ne, da nicht je­de Krea­ti­vi­tät wirt­schaft­lich ori­en­tiert ist.

Der «St.Gal­ler Stil» im De­sign­be­reich ist ras­ter­ba­siert. Hin­ter je­dem De­sign ver­birgt sich ein Ras­ter, bei dem je­des Ele­ment sei­nen be­stimm­ten und be­gründ­ba­ren Platz hat. Die meis­ten in St.Gal­len aus­ge­bil­de­ten Gra­fi­ker:in­nen sind von Jost Hoch­u­li ge­prägt, der für mich der Grün­der­va­ter des «St.Gal­ler Stils» ist. Vie­le ak­tu­el­le Ar­bei­ten im Raum St.Gal­len bau­en dar­auf auf und sind mit den heu­ti­gen Ein­flüs­sen er­wei­tert.

Für den «Krea­tiv­stand­ort St.Gal­len» wün­sche ich mir mehr Frei­hei­ten und Ak­zep­tanz ge­gen­über den Krea­ti­ven. Zu­dem wür­de mehr Viel­falt in den Pro­jekt­ver­ga­ben, was auch mehr öf­fent­li­che Aus­schrei­bun­gen be­inhal­tet, der Ent­wick­lung hel­fen.

Fa­bi­an Riet­mann ist In­ter­ac­tion De­si­gner und Mit­in­ha­ber von FF Gra­phics.

 

Bei der St.Gal­ler Krea­tiv­sze­ne den­ke ich an Kon­zer­te von Punk­rock bis Elek­tro, an die zu­ge­hö­ri­gen Pla­ka­te und über­haupt: Pla­kat­kunst und Ty­po­gra­fie. An die GBS und die Schu­le für Ge­stal­tung als ei­ne Keim­zel­le der Krea­tiv­wirt­schaft und -sze­ne. An wil­de, pu­re Kunst, das kleins­te Ski­ge­biet der Welt und ei­ne wun­der­ba­re Mu­se­ums­dich­te. Vom «Krea­tiv­stand­ort» St.Gal­len wün­sche ich mir viel Freu­de an Schön­heit al­ler Be­tei­lig­ten und für die Krea­ti­ven Un­der­ground-Kom­pliz:in­nen­schaft und äs­the­ti­sche und mo­ra­li­sche Am­bi­ti­on im Sin­ne Rut­ger Breg­mans.

St.Gal­ler Ein­flüs­se gibt es in der Ty­po­gra­fie, Mo­de, im Tex­til­de­sign und na­tür­lich der Sti­cke­rei. Ei­ne «St.Gal­ler Schu­le» se­he ich am ehes­ten in der Schrift­ge­stal­tung um Jost Hoch­u­li, sei­nen Freund:in­nen und Schü­ler:in­nen. Die in­ter­es­san­te Fra­ge ist ja, was es braucht, dass sich ei­ne sol­che hier ent­wi­ckeln kann – egal in wel­cher Dis­zi­plin. Im Kern si­cher­lich ei­ne Grup­pe ent­schlos­se­ner Geis­ter, be­seelt und be­feu­ert von ge­mein­sa­men Über­zeu­gun­gen und ei­ner Idee, die den Zeit­geist trifft – oder ihn mit formt. Hilf­reich ist auch ei­ne star­ke In­sti­tu­ti­on, die Be­geg­nun­gen sol­cher Geis­ter wahr­schein­li­cher macht und in­ten­si­viert.

Ich be­haup­te, dass ei­ne De­sign­sze­ne, die neu und kraft­voll ist, fast im­mer er­folg­rei­ches Wirt­schaf­ten mit sich zieht. Um­ge­kehrt gilt das nicht. Zum Bei­spiel in der Bau­wirt­schaft: Wenn der Fo­kus dar­auf liegt, mit ei­nem «Ob­jekt» rasch viel Geld zu ma­chen, ge­lingt das hier­zu­lan­de heut­zu­ta­ge zwar meis­tens, aber es steckt oft we­nig ge­stal­te­ri­sche Qua­li­tät da­hin­ter. Die­se muss in der Um­set­zung nicht zwangs­läu­fig teu­er sein. Die ak­tu­el­le For­schung und Pu­bli­ka­ti­on 33,3%-Hal­tung von Ar­chi­tekt Jan De Vyl­der und sei­nem Team an der ETH treibt das auf die Spit­ze: ma­xi­mal spar­sam gu­te Ar­chi­tek­tur ge­stal­ten. Es ist span­nend, was sich ge­ra­de in der Ar­chi­tek­tur tut, ge­trie­ben von tech­no­lo­gi­schen Mög­lich­kei­ten, ge­sell­schaft­li­chen Ver­än­de­run­gen, neu­en Idea­len, Über­zeu­gun­gen und dem Pri­mat der Nach­hal­tig­keit. Stich­wor­te sind neue Wohn­ty­po­lo­gien, hy­bri­de Kon­struk­tio­nen, Trans­for­ma­ti­on und ra­di­ka­le Sym­bio­sen – reich­lich In­halt und Auf­bruchs­ma­te­ri­al für ei­ne star­ke Ar­chi­tek­tur­sze­ne.

Jan Fi­scher lei­te­te von 2018 bis 2024 den Be­reich Wei­ter­bil­dung und Brü­cken­an­ge­bo­te der GBS und stu­diert heu­te Ar­chi­tek­tur in der Ar­chi­tek­tur Werk­statt St.Gal­len. 

 

Pri­vat den­ke ich bei der Krea­tiv­sze­ne an In­itia­ti­ven wie im Mo­ment der «Graue Him­mel» und die Vor­gän­ge­re­vents (Gei­ler Block, Him­mel Hel­ve­tia etc.) so­wie an die Li­te­ra­tur- und Thea­ter­sze­ne, die im­mer wie­der mit ih­rer For­de­rung nach ei­nem of­fe­nen Kul­tur­haus auf sich auf­merk­sam macht. Be­ruf­lich bin ich in die Gra­fik- und Ar­chi­tek­tur­sze­ne in­vol­viert, mei­ne Ver­lags­kol­le­gin An­drea Wie­gel­mann ist im Vor­stand vom Ar­chi­tek­tur Fo­rum Ost­schweiz und ich ha­be vie­le Jah­re bei der Tÿ­po St.Gal­len mit­ge­wirkt. Als Ver­lag sind uns na­tür­lich die an­de­ren Ver­la­ge (zum Bei­spiel VGS, Jungle Books oder Ve­xer) ein An­lie­gen, aber auch ge­ne­rell die Buch­ge­stal­ter:in­nen, Buch­hand­lun­gen, Li­te­ra­tur­ver­an­stal­tun­gen und -or­te.

Ob es ei­nen «St.Gal­ler Stil» gibt? Schwer zu sa­gen. Es gibt ihn eher «nicht mehr», denn wie in vie­len Be­rei­chen wer­den die Sti­le im­mer in­ter­na­tio­na­ler, auch gleich­för­mi­ger. Im Be­reich Gra­fik hat bei­spiels­wei­se Jost Hoch­u­li si­cher ei­nen St.Gal­ler Stil und auch ei­ne ent­spre­chen­de Hal­tung un­ter­rich­tet. Bis heu­te ist sei­ne Ar­beit als Buch­ge­stal­ter in­ter­na­tio­nal hoch­ge­schätzt, was Aus­stel­lun­gen welt­weit be­wei­sen. In der Schweiz wird ihm kaum mehr Be­ach­tung ge­schenkt, lei­der.

Der Un­ter­schied zwi­schen Krea­tiv­sze­ne und Krea­tiv­wirt­schaft: Ein­fach er­klärt, ist die Krea­tiv­wirt­schaft die Sum­me al­ler Sze­nen, ver­gleich­bar mit dem Tou­ris­mus, der sich auch aus ver­schie­de­nen Be­triebs­zwei­gen (Ho­tel, Gas­tro, Sport usw.) zu­sam­men­setzt. Die Krea­tiv­wirt­schaft als sol­ches, auch als Be­griff, ist in St.Gal­len we­nig eta­bliert – ob­wohl sie wirt­schaft­lich mäch­tig ist. Al­ler­dings ist sie noch zu we­nig ver­netzt. Punk­tu­ell schon, aber es gibt kein eta­blier­tes De­sign­fo­rum oder -mu­se­um, wie­der­keh­ren­de Ver­an­stal­tun­gen, wo die Bran­che re­gel­mäs­sig auch nach aus­sen sicht­bar zu­sam­men­fin­det und sich prä­sen­tiert.

Die De­sign Week ist ei­ne gu­te Sa­che für den «Krea­tiv­stand­ort» St.Gal­len. Sie macht end­lich sicht­bar, wie vie­le Agen­tu­ren, In­sti­tu­tio­nen und Be­trie­be hier tä­tig sind, und auch, wel­che wirt­schaft­li­che Be­deu­tung die Krea­tiv­wirt­schaft in der Stadt und der Re­gi­on hat. Ich hof­fe, dass vie­le bei der De­sign Night mit­ma­chen und ih­re Tü­ren öff­nen. So kann sich das Pu­bli­kum ein Bild ma­chen, was in den Ate­liers pas­siert. Der Tri­est Ver­lag macht je­den­falls mit.

Kers­tin Fors­ter ist Ver­le­ge­rin des Tri­est Ver­lags, den sie 2015 mit An­drea Wie­gel­mann ge­grün­det hat, Ge­schäfts­lei­te­rin der VGS Ver­lags­ge­nos­sen­schaft St.Gal­len und Lek­to­rin.

Luisa Zürcher, Larissa Kasper, Juri Roemmel, Ladina Bischof und Johannes Stieger. (Illustration: Louis Vaucher)

Bei der St.Gal­ler Krea­tiv­sze­ne den­ke ich an die Film­sze­ne (vor al­lem an jun­ge Fin­ta-Per­so­nen in mei­nem Um­feld, die ge­ra­de ver­su­chen, sich mehr zu ver­net­zen, und an das 2023 ins Le­ben ge­ru­fe­ne sex­po­si­ti­ve Fes­ti­val Glitch), an die Kunst­bubble, wo mir vor al­lem das AU­TO, das Kunst­mu­se­um und die Kunst­hal­le ein­fal­len, die haupt­säch­lich Bil­den­de Kunst ma­chen, aber auch Ein­zel­per­so­nen wie Ju­lia Ku­bik und Ma­nu­el Stahl­ber­ger, die über­all ein biss­chen zu Hau­se sind und auch auf der Büh­ne ste­hen. Auch die Mu­sik­sze­ne ist für mich sehr prä­sent, wo über Mu­sik­vi­de­os oft der Aus­tausch und die Über­schnei­dung zu den Kunst­is ent­steht. 

Den gröss­ten Un­ter­schied zwi­schen Krea­tiv­sze­ne und Krea­tiv­wirt­schaft se­he ich im An­trieb: Film­stu­di­os, De­si­gner oder Gra­fi­ker:in­nen ar­bei­ten eher auf Auf­trag, wäh­rend selbst­stän­di­ge Künst­ler: in­nen öf­ters ei­ge­ne Pro­jek­te um­set­zen und et­was frei­er un­ter­wegs sein dür­fen, aber da­für auch mehr auf Kul­tur­för­de­rung oder Ne­ben­jobs an­ge­wie­sen sind.

Von ei­nem Krea­tiv­stand­ort wün­sche ich mir Aus­tausch zwi­schen Men­schen aus ver­schie­de­nen Spar­ten, wo ein ge­wis­ser Zu­sam­men­halt ent­ste­hen könn­te, und Raum, aus dem sich ge­mein­sa­me Pro­jek­te ent­wi­ckeln könn­ten. Ich den­ke da­bei auch so­fort an ei­ne feh­len­de Kunst­hoch­schu­le, bei der ge­nau die­se Din­ge von al­lei­ne pas­sie­ren; an ge­mein­sa­me Ate­lier­räu­me, die ein­fach feh­len in St.Gal­len.

Lui­sa Zür­cher ist selb­stän­di­ge Fil­me­ma­che­rin und Il­lus­tra­to­rin.

 

Als Krea­tiv­sze­ne ver­ste­he ich in ers­ter Li­nie all die Kol­lek­ti­ve und Ate­liers hier in St.Gal­len. Men­schen, die sich zu­sam­men­schlies­sen, um sich krea­tiv aus­zu­tau­schen oder ge­mein­sam an Pro­jek­ten zu ar­bei­ten. Räum­lich­kei­ten, die die­sen Dia­log er­mög­li­chen. 

Als wir 2024 mit un­se­rem Ver­lag Jungle Books den Jan-Tschichold-Preis er­hiel­ten, sprach das Bun­des­amt für Kul­tur von ei­ner «St.Gal­ler Sze­ne, die man ge­ra­de­zu als St.Gal­ler Schu­le be­zeich­nen möch­te». Ich den­ke, dass die­ser «Stil» we­ni­ger ei­ne ein­heit­li­che ge­stal­te­ri­sche Hand­schrift be­schreibt, son­dern viel­mehr ei­ne be­merk­ba­re Prä­senz in­ner­halb der von den gros­sen Schwei­zer Städ­ten ge­präg­ten De­sign­land­schaft. Dies hängt nicht zu­letzt da­mit zu­sam­men, dass jun­ge Ge­stal­ter:in­nen ver­mehrt nach St.Gal­len zu­rück­keh­ren und hier ihr Ba­sis­la­ger auf­schla­gen.

Es gibt durch­aus Schnitt­stel­len zwi­schen Krea­tiv­sze­ne und Krea­tiv­wirt­schaft, aber die Krea­tiv­sze­ne ist für mich ein Netz­werk, das durch Aus­tausch, In­spi­ra­ti­on und ge­gen­sei­ti­ge För­de­rung ent­steht – mit dem Ziel, sich ge­mein­sam wei­ter­zu­ent­wi­ckeln. In der Krea­tiv­wirt­schaft spü­re ich we­ni­ger Aus­tausch, da­für mehr Wett­be­werb – und das Ziel, sich schnel­ler und er­folg­rei­cher als die Kon­kur­renz wei­ter­zu­ent­wi­ckeln.

Wenn ich mir vom «Krea­tiv­stand­ort» St.Gal­len et­was wün­schen könn­te, wä­ren es mehr sub­ven­tio­nier­te Ate­lier­räu­me. 

La­ris­sa Kas­per ist Gra­fik­de­si­gne­rin, Ver­le­ge­rin und Mit­in­ha­be­rin von Kas­per-Flo­rio und Jungle Books.

 

Aus mei­ner Per­spek­ti­ve, die stark von De­sign und Gra­fik ge­prägt ist, den­ke ich bei der Krea­tiv­sze­ne eher an ei­ne Ni­sche, die mehr­heit­lich un­ter dem Ra­dar agiert – zu­min­dest in St.Gal­len. Auf­fäl­lig oft sind es klei­ne­re Stu­di­os, die über die Gren­zen von St.Gal­len und der Schweiz hin­aus wahr­ge­nom­men wer­den, wäh­rend grös­se­re Agen­tu­ren eher lo­kal oder na­tio­nal tä­tig sind. 

Da ich in der West­schweiz stu­diert ha­be und auch mit vie­len Ge­stal­ter:in­nen aus an­de­ren Tei­len der Welt zu­sam­men­ar­bei­ten konn­te, ha­be ich mehr­fach fest­ge­stellt, dass mei­ne Kol­leg:in­nen ein be­stimm­tes Bild von der Ge­stal­tung in der Schweiz und spe­zi­ell der Ost­schweiz ha­ben. Der oder die ste­reo­ty­pi­sche Schwei­zer:in exis­tiert schein­bar auch in der Ge­stal­tung und zeich­net sich un­ter an­de­rem durch Prä­zi­si­on und Nüch­tern­heit aus. Die­se Ei­gen­schaf­ten wer­den von aus­sen, so­fern sie gut ge­macht sind, oft als po­si­tiv wahr­ge­nom­men, be­son­ders in Be­rei­chen wie De­sign, Ty­po­gra­fie oder Gra­fik, da sie ei­ne kla­re und struk­tu­rier­te Kom­mu­ni­ka­ti­on för­dern. Be­son­ders auf­ge­fal­len ist mir, dass in der Deutsch­schweiz, ins­be­son­de­re auch in der Ost­schweiz, we­ni­ger far­ben­froh und ex­pe­ri­men­tell ge­stal­tet wird. Die Ge­stal­tung ist sub­ti­ler und zu­rück­hal­ten­der, aber gleich­zei­tig über­zeugt sie durch ih­re Prä­zi­si­on und durch­dach­te Kon­zep­ti­on.

Ich ma­che de­fi­ni­tiv ei­nen Un­ter­schied zwi­schen Krea­tiv­sze­ne und Krea­tiv­wirt­schaft. Ers­te­re ist eher kul­tu­rell und so­zi­al ge­prägt – ei­ne Sub­kul­tur, die un­ab­hän­gig von wirt­schaft­li­chen Fak­to­ren agiert. Die Krea­tiv­wirt­schaft hin­ge­gen misst ih­ren Er­folg klar am öko­no­mi­schen Mehr­wert und dar­an, wie krea­ti­ve Dienst­leis­tun­gen kom­mer­zi­ell ver­kauft wer­den kön­nen – was oft da­zu führt, dass die Er­geb­nis­se et­was we­ni­ger ge­wagt sind. Ich fin­de es wich­tig, dass ei­ne krea­ti­ve Sze­ne au­to­nom und los­ge­löst von wirt­schaft­li­chen Fak­to­ren be­stehen und agie­ren kann, da sich dar­aus Mög­lich­kei­ten er­schlies­sen, die un­ab­hän­gig von Pro­fit- und Ma­xi­mie­rungs­ge­dan­ken sind. Da­durch kön­nen Ideen und Vi­sio­nen frei­er ge­stal­tet wer­den. Ein Aus­tausch zwi­schen «Sze­ne» und «Wirt­schaft» könn­te aber bei­den Sei­ten neue Per­spek­ti­ven und Chan­cen er­öff­nen.

 Vom «Krea­tiv­stand­ort St.Gal­len» wür­de ich mir wün­schen, dass di­ver­se lo­ka­le In­sti­tu­tio­nen mehr Mut zei­gen und ver­mehrt mit klei­ne­ren Stu­di­os oder Künst­ler:in­nen zu­sam­men­ar­bei­ten. In St.Gal­len steckt ein enor­mes Po­ten­zi­al in nicht rein krea­tiv­wirt­schaft­li­chen Per­sön­lich­kei­ten. Das wird aus mei­ner Sicht bis­lang noch zu we­nig ge­nutzt. Für die Viel­falt der Stadt ist ei­ne star­ke und au­to­no­me Krea­tiv­sze­ne wich­tig. Es wür­de sich loh­nen, mit die­ser auch bei kom­mer­zi­el­le­ren Pro­jek­ten zu­sam­men­zu­ar­bei­ten und sie ak­tiv zu un­ter­stüt­zen.

Ju­ri Roem­mel hat zu­erst ei­ne Gra­fik­leh­re ge­macht und da­nach In­dus­tri­al De­sign stu­diert. 2022 hat er sich mit dem Stu­dio Tec­ta selb­stän­dig ge­macht.

 

Un­ter der «St.Gal­ler Krea­tiv­sze­ne» ver­ste­he ich Per­so­nen im Raum St.Gal­len, die sich auf un­ter­schied­lichs­te Wei­se dem Schöp­fe­ri­schen wid­men – sei es als Hob­by oder Be­ruf, hand­werk­lich oder geis­tig, im Auf­trag oder frei. Ich ver­or­te sie auf­grund des Be­griffs «Sze­ne» eher im Re­gio­na­len, wäh­rend die Krea­tiv­wirt­schaft für mich orts­un­ab­hän­gig wirkt.

In ei­ner Krea­tiv­sze­ne ist das Er­schaf­fen von et­was Krea­ti­vem ten­den­zi­ell frei­er und selbst­be­stimm­ter, in der Krea­tiv­wirt­schaft hin­ge­gen ge­schieht das Er­schaf­fen im­mer im Auf­trag und das Fi­nan­zi­el­le und die Ef­fi­zi­enz ste­hen mehr im Fo­kus. Den Be­griff «krea­tiv» fin­de ich in die­sem Zu­sam­men­hang aber et­was va­ge. Auch die Un­ter­schei­dung in «Sze­ne» und «Wirt­schaft scheint mir frag­lich, da in vie­len Be­rufs­fel­dern wirt­schaft­li­che und künst­le­ri­sche Ab- und Un­ab­hän­gig­keit oh­ne­hin eng bei­ein­an­der­lie­gen und oft nicht klar von­ein­an­der zu tren­nen sind. 

Vom «Krea­tiv­stand­ort» St.Gal­len wün­sche ich mir mehr freie Räu­me für die Aus­übung und Prä­sen­ta­ti­on.

La­di­na Bi­schof ist selb­stän­di­ge Fo­to­gra­fin.

 

Ist es nicht selt­sam, al­le zu clus­tern, die ei­nen so­ge­nannt krea­ti­ven Be­ruf aus­üben? Egal ob Ar­chi­tek­tin ei­ner Sied­lung, Ge­stal­ter ei­ner Gar­de­ro­be, De­si­gne­rin ei­nes Pro­spek­tes oder Zeich­ner ei­ner Gra­phic No­vel – und die Kul­tur­ver­mitt­ler:in­nen ge­hö­ren grad auch noch da­zu? Es wird ja auch nicht von ei­ner Dienst­leis­tungs- oder Hand­werks­sze­ne ge­spro­chen. 

 Es gibt in St.Gal­len Leu­te, die in ver­schie­de­nen ge­stal­te­ri­schen Spar­ten auf ho­hem Ni­veau und mit ei­ner Un­be­stech­lich­keit ihr Ding in ei­nem kul­tu­rel­len Um­feld durch­zie­hen, al­so gröss­ten­teils un­kom­mer­zi­ell ar­bei­ten. Die ei­nen mit in­ter­na­tio­na­lem Ho­ri­zont und preis­be­la­den, die an­de­ren lei­ser und ver­schro­be­ner. Sie al­le eint der An­spruch, In­halt und Form in Ein­klang zu brin­gen und bei den ei­ge­nen Wert­vor­stel­lun­gen des Gel­des we­gen nicht all­zu vie­le Kom­pro­mis­se ein­zu­ge­hen. Die­se Men­schen sind teils mit­ein­an­der be­freun­det, teils lo­se ver­knüpft und trin­ken den Es­pres­so dort, wo sie ihn am bes­ten fin­den, ar­bei­ten ab und zu mit- oder für­ein­an­der oder schät­zen sich we­nigs­tens. Die­ser Kreis könn­te als De­sign­sze­ne be­zeich­net wer­den. Ei­ne gros­se Zahl ge­stal­te­ri­scher oder auch künst­le­ri­scher Out­puts, die «st.gal­le­risch» ge­nannt wer­den könn­ten, ist recht la­ko­nisch. Und mir ge­fällt das ge­konn­te Zu­sam­men­brin­gen von Här­te, Kon­se­quenz und ei­ner gut ge­setz­ten Schlud­rig­keit oder kon­zep­tio­nel­len Un­schär­fe.

 Ob ich ei­nen Un­ter­schied zwi­schen Krea­tiv­sze­ne und Krea­tiv­wirt­schaft ma­che? Sa­gen wir es mal so: Das Stand­ort­mar­ke­ting in­ter­es­siert sich für die Krea­tiv­in­dus­trie und die Krea­tiv­sze­ne in­ter­es­siert sich nicht wahn­sin­nig stark für Mar­ke­ting. Und dann gibt es noch die De­sign­sze­ne, die ist ir­gend­wo da­zwi­schen an­zu­sie­deln.

 Vom «Krea­tiv­stand­ort» St.Gal­len wün­sche ich mir be­zahl­ba­re, schö­ne Bü­ro­räu­me, ei­nen wen­di­gen Aus­stel­lungs­raum für ge­sell­schaft­li­che, po­li­ti­sche und pop­kul­tu­rel­le The­men, ei­nen Sup­pen­la­den, zwei, drei be­setz­te Häu­ser oder we­nigs­tens ei­nen Ar­chi­tek­tur­wett­be­werb mit lo­ka­ler Be­tei­li­gung für zu­kunfts­träch­ti­ge Wohn­for­men, statt ei­nem lu­kra­ti­ven Ei­gen­tums­woh­nungs­turm von Her­zog & de Meu­ron. Und zu­dem wä­ren ein, zwei fei­ne De­sign­lehr­gän­ge auf Fach­hoch­schul-Ni­veau fein, denn ge­ra­de be­züg­lich De­sign­kri­tik und -theo­rie ist es in die­ser Stadt fast be­ängs­ti­gend ru­hig.

Jo­han­nes Stie­ger ist Prä­si­dent der As­so­cia­ti­on Pa­lace St.Gal­len, Aus­stel­lungs­ge­stal­ter und Mit­in­ha­ber des Stu­dio DAS für De­sign und Szen­o­gra­fie. Er war an der Kon­zep­ti­on des In­dus­tri­al-De­sign-Stu­di­en­gangs an der GBS be­tei­ligt, wo er auch un­ter­rich­te­te und der­zeit Di­plo­me ju­riert.