, 29. November 2017
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Was mit der Abwanderung verloren geht

Ist es das Studienangebot oder sind fehlende Arbeitsplätze schuld? Liegts am Image des Kantons oder gar am Charakter seiner Einwohner? Am Ende der Podiumsdiskussion zur Abwanderung junger Erwachsener aus dem Kanton blieben im Palace St.Gallen viele Fragen offen.

Etrit Hasler will nicht jammern. «Jammern ist doof», sagt der Stadt- und Kantonsparlamentarier der SP, «und schlimm ist die Abwanderung nicht. Trotzdem müssen wir uns fragen: Was geht verloren, was bleibt hier?» Und er gibt die Antwort gleich selber: «Uns gehen vor allem Geisteswissenschaftler verloren, und das spüren wir in der Politik und in der Kultur.»

Hasler war am Dienstagabend zusammen mit Brigitte Traber (Raumplanerin der Stadt St.Gallen) und Dani Fels (Stadtforscher und Dozent an der Fachhochschule St.Gallen) Gast am Podium der Erfreulichen Universität im Palace. Thema: Die zunehmende Abwanderung junger Erwachsener. Der Kanton St.Gallen hat vor wenigen Wochen Zahlen veröffentlicht, die zeigen, dass vor allem immer mehr 20- bis 29-Jährige ihren Heimatkanton verlassen. 2014 waren es noch 3902 Personen, zwei Jahre später bereits 4140. Gleichzeitig sind in diesem Zeitraum immer weniger Gleichaltrige zugezogen.

IT-Offensive: gut und recht, aber…

Die städtische Raumplanerin warnte davor, auf dieser «negativen Wanderungsbilanz herumzureiten». Bei den Zu- und Wegzügen habe es schon immer Schwankungen gegeben, sagte sie, auch massive. Trotzdem: Weshalb verlassen so viele junge Leute den Kanton und kommen nicht zurück, wollte Gesprächsleiterin und Saitenredaktorin Corinne Riedener wissen. Eine «grosse» Frage, sagte Dani Fels, die schwierig zu beantworten sei. Liegt es an der «extremen Verschlossenheit» der St.Gallerinnen und St.Galler, wie eine Frau aus dem Publikum feststellte? Oder an St.Gallens «Image einer langweiligen Stadt», wie eine andere vermutete?

Dani Fels jedenfalls zeigte Verständnis dafür, dass man aus dem Kanton abwandert: «Es wird ja an so vielem immer wieder geschraubt.» Einen wichtigen Grund sieht er in den eingeschränkten Studienmöglichkeiten: «Die Kunst fehlt.» Die IT-Offensive sei zwar gut und recht, und in ihren Bemühungen, Jugendliche zum richtigen Zeitpunkt abzuholen, wahrscheinlich einzigartig, aber eben nicht alles. Glücklicherweise sei das Architekturstudium wieder eingeführt worden, so Fels, ein «interessanter Bachelor mit Potenzial».

Die Stadt verliert, die Region gewinnt

Abwanderung findet aber nicht überall im Kanton im gleichen Masse statt. «Es gibt einen Unterschied zwischen Stadt und Region», sagte Brigitte Traber. Die Stadt verliert, die Region gewinnt. Woran liegt es? An fehlender Attraktivität? Am hohen Steuerfuss? «Wir haben relativ hohe Pro-Kopf-Ausgaben und sollten uns deshalb schon fragen, ob beispielsweise der Lastenausgleich noch korrekt ist», so die städtische Raumplanerin.

Für die Attraktivität einer Stadt sind ihrer Meinung nach die Qualität des öffentlichen Raumes wichtig sowie Arbeitsplätze mit guten Rahmenbedingungen und bezahlbarer Wohnraum. Hierfür sei in St.Gallen einiges getan worden, zum Beispiel die Neugestaltung des Bahnhofsplatzes, die Erhöhung der Anzahl subventionierter Krippenplätze oder das gute Angebot an Teilzeitarbeitsplätzen.

Weniger attraktiv hingegen ist das Lädelisterben in der Innenstadt. «Aber darauf wurde noch keine Antwort gefunden», kritisierte Hasler. Er wünscht sich eine «lebenswerte Stadt», damit die Menschen nicht nur für eine kurze Zeit hierherziehen. Und da sieht der Politiker auch die kulturellen Institutionen in der Pflicht. «Sie müssen sich mehr austauschen, besser vernetzen – auch mit der Stadt.»

Die abwesenden Abwesenden

Etwa 40 Personen waren an diesem Abend ins Palace gekommen. Das Thema interessiert, in ihm steckt Zündstoff. Doch die heissen, kontroversen Debatten blieben aus, zu ähnlich waren sich die drei Podiumsteilnehmer in ihren Positionen und Meinungen. So war dann auch die Frage aus dem Publikum in der anschliessenden Diskussionsrunde nicht ganz ungerechtfertigt: «Weshalb sitzt kein Vertreter der betroffenen Altersgruppe auf dem Podium?».

Dort sassen sie zwar nicht – Corinne Riedener zitierte aber ein paar Statements von jungen Abwanderern. Zum Beispiel dies:

«Abgehauen bin ich primär aufgrund des Studiums. HSG war keine Option für mich. Und ich hatte auch sehr Lust auf eine grössere Stadt und neue Bekanntschaften. Als ich nach meinem Auslandsemester in Berlin nach Zürich zurückgekommen bin, war mir noch klarer, dass ich in einer Stadt von einer bestimmten Grösse leben möchte. Ich verstehe mich aber auch in meinem Status als Wahlzürcherin durchaus immer noch als St.Gallerin; mitunter aufgrund des Dialektes, der immer mal wieder auffällt. Und es gibt etliche Lokale und Institutionen in St.gallen, die mir immer noch sehr gefallen. Ich würde, obwohl ich mittlerweile sehr zuhause bin in Zürich, nie ganz ausschliessen, wieder irgendwann in St.Gallen zu landen. Derzeit aber ganz sicher nicht.»

Und dies:

«Ich wollte schon länger mal weg, weil ich schon immer in St.Gallen gelebt habe. Ich wollte einfach mal ein anderes Umfeld kennenlernen, auch weil ich mit meinen Projekten und meiner Musik hier oft in einer Sackgasse gelandet bin: Das Publikum hat mir gefehlt, und alles immer für eine Handvoll Freunde zu machen, ist zwar ganz nett, bringt mich aber nicht weiter. Wie lange ich weg bleibe, weiss ich noch nicht, aber ich probiere, mir hier ein Netzwerk aufzubauen und an meinen Projekten weiter zu arbeiten.»

Oder dies:

«Ich plädiere für eine neue Hochschule, mehr Arbeitsplätze für Querköpfe und Kreativschaffende – IT ist nicht die Lösung.»

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