Warmlesen vor dem Vorlesen
Das Literaturfestival Wortlaut vom 28. bis 31. März setzt auf Entdeckungen. Wer sind die noch wenig Bekannten, die nach St.Gallen kommen? Was haben sie zu erzählen? Ein Warmlesen durch erste Sätze.
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Er: Ich schtogle bim Usschtiige / flüüg i uf d Frässe / und lig den doh / ufem Latz / und de ganze Längi noh / ufem Perron.
So beginnt das Wortlaut-Festival: mit Mondscheiner von Andri Beyeler (Jahrgang 1976). Mundart in Ehren und gar nichts gegen Schaffhauser – aber muss Mundartliteratur immer gleich derb sein? Ist das Unflätige das Unverwechselbare von Schweizerdeutsch? Andererseits ist «schtogle» ein ganz feines Wort, das den kleinen Unmut in die Schranken weist. Und überhaupt verspricht dieser Satz eine Geschichte über ein Heimkommen, das von allem Anfang an kein geglücktes sein kann. Sogar der Zeilenfall ist ein Stolperer: Hier wird rhythmisiert, deklamiert, monologisiert wie im Theater. Tatsächlich war Mondscheiner zuerst ein Bühnenstück, 2009 in Basel uraufgeführt. Nun ist die Buchfassung in der Edition Spoken Skript unter der treffenden Genrebezeichnung «Ballade» erschienen. «Er», «der Andere» und «die Eine» stürchlen und troolen durch dieselbe Stadt, landen in derselben Beiz, luegen sich an und verpassen sich doch. Ihre Texte sind sinnigerweise links, mittig und rechts gesetzt, zu einem Dialog finden sie nicht. Mani Matter und Edward Hopper lassen grüssen.
Ich stamme aus einer alten und sehr reichen Berner Familie.
Einstieg in Der letzte meiner Art, das Romandebüt von Lukas Linder (geboren 1984 im Kanton Zürich). Das kann nicht sein Ernst sein, die Buddenbrooks sind seit über 100 Jahren tot! Die Ironie liegt allerdings weder im «alt» noch «sehr reich», denn das trifft zu: Der Urahn war ein Schlächter von Marignano, der Vater ist Wimpelfabrikant, die Mutter eine Frau von Welt mit tätowiertem Rücken. Der Unernst kündigt sich also mit dem Personal an. Die «enttäuschende Pointe» dieser Familiengeschichte ist das Ich, Alfred von Ärmel. Genauso trocken wie im ersten Satz erzählt er seine Kindheit und Jugend als Verlierer auf der ganzen Linie. Die einfachen Sätze entsprechen seinen einfachen Wünschen: Erfolg und Freunde, beides absolut unerreichbar. Dieser Alfred ist ein Simplicissimus, der in lauter komische Situationen hineingerät und doch nie an die Lächerlichkeit verraten wird. Und dies, obwohl Lukas Linder mit seinen vielen absurden Einfällen den Text durchaus auf Lacher angelegt hat.
Der Tag, an dem Paula feststellt, glücklich zu sein, ist ein Sonntag im März.
Mit diesem Satz könnte ein Feel-Good-Roman anfangen. Dafür ist er aber zu komplex, was vermuten lässt, dass der Glückszustand alles andere als selbstverständlich ist. Der Titel Die Liebe im Ernstfall setzt denn auch einen Kontrapunkt zum Unernst Linders. Es geht in diesem Roman um die Liebe, aber der Ernstfall meint das Leben, und das verteilt die Gefühle nun einmal nicht gerecht. Daniela Krien (Jahrgang 1975, lebt in Leipzig) erzählt in einem Schnitzler’schen «Reigen» aus den Perspektiven von Paula, Judith, Brida, Malika und Jorinde. Ihre Lebenswege laufen parallel und überkreuz, Männer werden weitergereicht. In so einer Anlage muss auf jede glückhafte Verbindung eine Trennung folgen – oder zumindest eine halbe. Denn Unentschiedenheit zwischen mehreren Beziehungen ist eine der möglichen Paar-Spielarten unserer Zeit. An diesem Zeitgeist ist Krien nah dran, und das macht ihre Geschichten glaubhaft, man liest flüssig vorwärts. Dass der Verlag eine Reflexion über die vielen Freiheiten nach dem Fall der Mauer ankündigt, bleibt jedoch hoch gegriffen.
Jeden Samstag wird die Gasse gekehrt.
Kopfsteinpflaster, Blumenrabatte und Gartentor, dazu zwei Töne Musik, alles in schwarz-weiss und pink koloriert. Das Bild gehört zum ersten Satz, denn es geht um die Graphic Novel Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein von Ulli Lust (geboren 1967 in Wien). Die geordneten Verhältnisse, in denen Saubermachen zu guter Laune führt, sind natürlich nur Folie. Bald bricht Ulli ins Bild ein. Der Name ist nicht zufällig, es handelt sich um den dritten Teil einer autobiografischen Arbeit. Mit Ulli kommen schnell auch Themen wie Rabenmütter und Künstlerprekariat, Scheinehen mit kurdischen Freiheitskämpfern oder der Umgang der Wiener mit ihren jüdischen Nachbarn aufs Tapet. Der Geschichte über den politisch korrekten Gutmenschen in einer unübersichtlichen Zeit fehlt es weder an Themen noch an Kontroverse, und die Bilder mit dem kräftigen Strich sind eine Augen-Lust.
Ich hatte Ja gesagt. Double-Oui und Ja gesagt. Ja.
Lyrik gibt es auch am diesjährigen Wortlaut. Monika Rinck (geboren 1969, lebt in Berlin) liest aus Alle Türen. Dass das erste Gedicht mit einem vollständigen Satz beginnt, stellt keine Ausnahme dar. Diese Lyrik macht für einmal viele Worte, dicht ist sie hingegen in der Folge von Bildern auf wenig Raum. Das wiederkehrende Motiv der Türe stiftet Rinck zu einer Fülle von Bezügen und Gedanken an. Das erste Gedicht führt zu Karl Kraus und den Doppeltüren der Operette, später geht es um die Türe als Übergang, einmal um die Herkunft des Worts «porte»… Eine geschlossene Tür bedeutet Sicherheit, eine geöffnete hingegen Durchzug und Frischluft. Mit diesem Buch verhält es sich ähnlich. Ja, öffnen. Und tief durchatmen.
«Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne», könnte man mit Hermann Hesse sagen und damit gleich noch auf die Lesung vom Sonntag verweisen. Silver Hesse, der Enkel des Dichters, liest im Würth-Haus Rorschach im Rahmen von Wortlaut und der dortigen Hesse-Ausstellung. Fortsetzungen zu den hier vorgestellten fünf aus 25 Anfängen gibt es am Festival – und natürlich auch in den Büchern.
Literaturfestival Wortlaut: 28. bis 31. März, diverse Orte in St.Gallen
wortlaut.ch
Dieser Beitrag erschien im Märzheft.