, 12. Juni 2013
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Vor Ort im Gezi-Park

Sechs Tage hautnah beim gesellschaftlichen Kräftemessen im Zentrum Istanbuls dabei: Die Auseinandersetzungen in der Türkei betreffen alle Menschen mit einem beseelten Demokratieverständnis, sagt Can Isik. Hier sein Bericht.

Mit dem Messer an der Kehle zanke ich nur mit Serkan über politische Themen. Meisterlich stellt er seine Klingenfertigkeit und seinen Scharfsinn zur Schau. Dann windet er sich wieder durch schludrige Rechtfertigungen, Argumente und Anklagen. Eigentlich tue ich dasselbe. Im Fegefeuer seiner Zerrissenheit spiegelt sich mein eigener Unfriede. Wir sind beide keine Staatsmänner. Er schäumt mich ein zweites Mal ein und schäumt selbst vor Inbrunst. Sein Arsenal an heissblütigen Gesten bringt mich oft zum Lachen. In solchen Momenten scheint er aus seinem Übereifer zu erwachen, setzt die Rasierklinge ab und grinst mich über den Rundspiegel versöhnlich an. Er ist Moslem, AKP-Wähler und ein herzhaft geistreicher Kauz. Ich mag ihn sehr.

saiten_berber

Seit fünf Jahren barbiert mich Serkan, der «Kuaför», in seiner Barbierbaracke in Kadiköy. Auf der asiatischen Seite Istanbuls lässt es sich authentischer leben. Hier fühle ich mich türkischer, urbaner, mehr daheim. Kadiköy ist das Brooklyn des Molochs am Bosporus. Hierhin verirren sich nur vereinzelt Touristen – eher sind es Individualreisende oder Kosmopoliten. Heute ist schon der sechste Tag der landesweiten Empörung. Draussen zieht lauthals eine Protestschar vorbei. Anwohner feuern die Demonstranten an. Sie klatschen, pfeifen, rufen, hämmern auf Geschirr. Serkan poliert meine Glatze. Ich zahle. Zum Abschied küssen wir uns brüderlich auf die Wangen. Er schenkt mir eine Flasche Kölnisch Wasser. Sein Gewissen schenkt mit. Er verurteilt das gewaltsame Vorgehen der Regierung gegen die Menschen rund um den Gezi-Park. Eine spürbare Anspannung hat die Stadt erfasst.

In wenigen Stunden geht mein Flug zurück in die Schweiz. Frisch geschoren schlenze ich ein letztes Mal die Uferpromenade entlang. Auf der anderen Seite der Meerenge zeichnet sich die Silhouette der Moscheen, Minarette und Paläste scharf gegen den fahlen Mittagshimmel ab. Hinter der Skyline fluten Urlauberströme die Strassen. In den letzten Jahren hat sich der Stadtteil Sultan Ahmet zum Touristenghetto entwickelt. Händler und Unternehmer leben dort weitgehend abgeschottet in Symbiose mit den Feriengästen. Morgenländischer Kitsch «made in China» liegt wie ein Schleier über dem historischen Viertel. Viele Pauschalreisende erliegen dem exotischen Deko Istanbuls. Hinter den Kulissen liefern sich die leutseligen Verkäufer jedoch erbitterte Überlebenskämpfe. 31 Millionen Touristen spülen jährlich 23 Milliarden Dollar ins Land. In dieser Devisenschwemme wollen sich viele baden – vor allem der Staat. Die Grenze zwischen aufrichtiger Gastfreundschaft und galanter Ausbeutung verschwimmt.

Marketing mit 1001 Nacht

Geschickt hat der konservative Regierungsapparat rund um Tayyip Erdogan die Renaissance der osmanischen Kultur instrumentalisiert, um den ideologischen Wegweiser für die Gesellschaftsgestaltung der Türkei neu auszurichten. Für viele Parteianhänger wirkt der Neo-Orientalismus des Regimes identitätsstiftend. Der Kunstgriff funktioniert. Ähnlich einem Ursprungsmythos bietet die Berufung auf das ehemalige Sultanat ein breit gefächertes Aktionsfeld für pro-parteiliche und entsprechend pro-islamische Propagandamassnahmen in der Öffentlichkeit. Im Auftrag des «Sultans» inszenieren Medienschaffende die Pracht des Osmanischen Reiches als opulent verklärte Volkskunst für Kino, TV, Ausstellungen und Publikationen. Mit makellosen 1001-Nacht-Imagefilmen lockt die Reisebranche den europäischen Boomtourismus an. Doch mittlerweile gehören Besucher aus arabischen Ländern zu den einträglichsten Gästen. Wo das Paris des Westens die Burka verbietet, empfängt das Paris des Ostens die Verhüllten mit offenen Armen und sinnverwandter Gefälligkeit.

Egal, wo man sich in der Metropole bewegt, die Kommerzialisierung hat die meisten Distrikte bereits erfasst. Preise wuchern. Mieten steigen. Nie war die Grossstadt zwischen den Kontinenten hipper und teurer. Hartnäckig presst der «islamische Kapitalismus» Geld in die Aufblähung des Molochs. Anatolische Unternehmer, Aristokraten und Profiteure des Systems buhlen um internationale Investoren. Ganze Bezirke müssen den gigantischen bis grössenwahnsinnigen Bauprojekten weichen. Der neue Finanzadel zockt gierig am Immobilienmarkt. Maschinen walzen die Grünflächen platt. Parkanlagen, Öffentliche Räume und Identitätspunkte der Einwohner verschwinden. Istanbul pulsiert im Taktschlag des penetranten Baulärms.

Überall Gas

Wieder im lauschigen St.Gallen schlafe ich schlechter. Die Ruhe lässt viel Raum für Gedanken. Fieberhaft verfolge ich die Nachrichten. Die internationale Presse deckt Beweg- und Hintergründe der Konfrontationen in Istanbul umfassend ab. Ja, es geht um die Beschneidung demokratischer Grundrechte, um Meinungsfreiheit und die scheinbar unüberwindbare Kluft zwischen den Fraktionen. Auch die schleichende Islamisierung und die kulturelle Integration von Minderheiten spielen wichtige Rollen in diesem Politdrama. Mir geht viel durch den Kopf. Vor allem Rückblenden.

hund

Präsent bleibt die beklemmende Wirkung von Pfeffergas. Tränengas ist erträglicher. Die OC-Reizstoffe haben Bilder auf meine Netzhaut geätzt und mir Momente panischer Atemnot beschert. Ich sehe diesen mächtigen Strassenköter, einen Kangal, wie er zusammenbricht. Demonstranten schleppen ihn aus der Gefahrenzone. Abseits des Tumults spülen sie dem Hund das Gift aus den verklebten Augen und der Schnauze. In einer weiteren Szene beobachte ich, wie Polizisten Passanten hinter der Front in Schutz bringen. Da wedelt ein Mann im Rollstuhl inmitten der Gaswolke energisch mit der Nationalfahne. Vereinzelte Uniformierte laufen von der Masse gefeiert zu den Aufständischen über. Auch wenn es Ausnahmen sind, bleiben diese Erinnerungen im Vordergrund.

An die Gewalt gewöhne ich mich schnell. Sie beherrscht die Schauplätze. Einsatzkräfte preschen bewaffnet mit Gasbomben, Gummigeschossen, Knüppeln und Wasserwerfern in die vorwiegend friedliche Menge. Dabei stürmen sie rücksichtlos vor. In den meisten Fällen reduziert sich der Widerstand der Protestierenden auf Selbstschutz. Immer wieder beobachte ich Demonstranten, die Chaoten in den eigenen Reihen daran hindern zu randalieren oder Steine zu werfen. Gegenwehr und Verwüstung lässt sich jedoch nicht vermeiden. Zu heftig ist die Ohnmacht und Wut der Betroffenen. Überall Gas – eine apokalyptische Atmosphäre – und immer wieder Sequenzen von Masken; Baumasken, Tuchmasken, Guy-Fawkes-Masken, Gasmasken. In Superzeitlupe passieren diese kuriosen Portraits die innere Diaschau. Stopp. Seit Beginn der Unruhen haben sechs Polizisten Selbstmord begangen. Gerade haben Einsatzkräfte Dutzende Anwälte festgenommen. Mit jedem Tag der Gewalt steigt der Druck auf beiden Seiten.

Hoffnung bei den Jungen

Und trotzdem – in seiner dichtesten Masse beinhaltet dieser Konflikt ein Potenzial. Türken, Kurden, Griechen, Armenier, Lasen, Muslime, Aleviten, Christen, Juden, Agnostiker und Atheisten – in ihrem Anspruch auf persönliche Freiheit stemmen sich Anhänger dieser Gruppen vereint gegen die autokratische Obrigkeit. Mit 28 Jahren Durchschnittsalter ist die Türkei hungrig nach Leben und Frieden. Speziell die Generation zwischen 18 und 35 ist trotz Zensur geprägt von der globalisierten Medienlandschaft. Sie ist intensiv vernetzt und kulturpolitisch aktiv. Genau diese Menschen sind es müde zu lobbyieren und wollen unabhängig von der eigenen Haltung an ihrer individuellen Leistungskraft gemessen werden. Niemand will ernsthaft Religion vom öffentlichen Leben ausschliessen. Aus interkultureller Sicht bereichert sie Aspekte der Gemeinschaft in einem Vielvölkerstaat wie der Türkei. Doch als moralische Instanz in der Politik hat sie heute in einer heterogenen Gesellschaft keine Berechtigung mehr. Virtuell sind die Grenzen schon lange gesprengt. Es fehlt die Entsprechung in der Realität.

saiten_bild_©_nazim_serhat

«Darfs heute türkisch sein?» fragt ein Blogbeitrag in diesem Forum. Ja, es darf «türkisch» sein, aber nicht zynisch als Sinnbild für Korruption und Autokratie, sondern als Metapher für den Mut der Menschen, die sich für ihre persönliche Souveränität einsetzen. Lange galt das türkische System verbunden mit seinem wirtschaftlichen Aufschwung als Vorbild für demokratische Bestrebungen in moslemischen Ländern. Dort setzen unterdrückte Menschen ihre Hoffnung in die erfolgreiche Durchsetzung der Protestforderungen. Vorsicht: Die Türkei ist das letzte säkulare Bollwerk im krisengeplagten Mittleren Osten. Es wäre ignorant, die aktuellen Ereignisse zu unterschätzen. Im Zusammenhang mit Fragen zur steigenden Islamisierung in Europa betreffen sie auch die Schweiz. Die gesellschaftliche Selbstbestimmung der Menschen in der Türkei steht auf Messers Schneide. Sie brauchen die Unterstützung der Weltöffentlichkeit für die Positionierung ihrer Anliegen.

Die Hinwendung zu noch liberaleren Konzepten kann dazu führen, dass die Türkei ein Rollenmodell für die Koexistenz von Islam und Demokratie unter realpolitischen Verhältnissen darstellt. Zugegeben eine idealistische Vorstellung, aber dieser Paradigmenwechsel ist greifbar nah – und doch so fern.

Bilder: Nazim Serhat

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